Rezension zu »Ich schrieb mich selbst auf Schindlers Liste«
Soester Anzeiger am 5. Februar 2014
Rezension von Ingrid Schmallenberg
Ein Puzzle aus Briefen, Fotos, Tonbändern und Interviews
Warsteiner Dr. Reinhard Hesse schrieb ein Buch über verfolgte
Geschwister Berger
Von Ingrid Schmallenberg
WARSTEIN • »Ich schrieb mich selbst auf Schindlers Liste.« Dr.
Reinhard Hesse weiß nicht mehr, wann er diesen Satz zum ersten Mal
gehört hat. Ganz genau erinnern kann sich der In Warstein geborene
und aufgewachsene Philosophieprofessor aus Konstanz an den
nachhaltigen Eindruck, den dieses Geständnis seiner Freundin Hilde
Berger vor vielen Jahren auf ihn gemacht hat. Die Idee, ihre
unfassbare Geschichte für die Nachwelt zu erhalten, ließ ihn nicht
mehr los. Nun, kurz nach ihrem Tod – Hilde Berger starb 91-jährig
im November 2011–, Ist ihr Vermächtnis in Buchform erschienen.
Reinhard Hesse steht nicht nur als Herausgeber auf dem Cover, er
hat die Geschichte, die auch das Leben von Rose Berget der
Schwester Hilde Bergers beinhaltet, mit Hilfe vieler Puzzleteilchen
(Briefe, Tonbandaufzeichnungen, lnterviewtexte, und Familienfotos)
zusammengesetzt.
Die Geschwister Berger hatte Hesse kurz nach dem Krieg Im Haus
seiner Tante Leni Schmitt in der Rangesiedlung kennen gelernt. Die
Kriegsflüchtlinge waren in New York gestrandet und besuchten die
alten Freunde in Warstein gern und oft. Nach und nach, durch viele
Gespräche im Familienkreis, erschlossen sich dem Studenten und
späteren Hochschullehrer die Zusammenhänge von Mord und
Misshandlung, Deportation, Flucht, Vertreibung und dem Neuanfang
auf der anderen Seite des Ozeans.
»Hilde und Rose Berger wurden in der Zeit des Ersten Weltkriegs als
Kinder eingewanderter jüdischer Eltern in Berlin geboren. Beide
entwickelten schon früh politisches Bewusstsein und engagierten
sich in jüdischen Jugendgruppen, später in der kommunistischen und
schließlich in der trotzkistischen Bewegung. Kurz vor Ausbruch des
zweiten Weltkrieges musste die Familie Deutschland verlassen.
Wahrend Rose nach Frankreich fliehen konnte, gehörte Hilde zu den
Juden, die im ukrainischen Boryslaw unter dem Schutz von Berthold
Beitz standen. Nach dessen Einzug in den Kriegsdienst wurde Hilde
in das Konzentrationslager Plaszow deportiert. Dort hatte sie als
Schreibkraft die Aufgabe, Oskar Schindlers später berühmt gewordene
Liste zu tippen – ein Zufall, der ihr das Leben rettete.«
Die Kurzfassung der Überlebensgeschichte auf dem Klappentext des
223 Seiten umfassenden Buches erläutert Hesse in seinen
einführenden Worten. Zwei Berlinerinnen, die keine Deutschen waren,
jedenfalls keine deutschen Staatsbürgerinnen, hatten dennoch ein
Leben geführt, das auf dramatische, existentielle Weise durch Ihren
Kampf für ein besseres Deutschland geprägt gewesen sei. »Sie haben
ihre Lage und die drohenden Gefahren nüchtern bewertet, sie haben
sich bietende Chancen beherzt wahrgenommen und immer wieder auch
einfach nur Glück gehabt und nicht zuletzt: Ihnen haben andere
Menschen geholfen.«
Zu diesen Helfern zählte auch Berthold Beitz. Der deutsche
Industrielle und spätere Generalbevollmächtigte der Firma Krupp
rettete während des zweiten Weltkrieges im von Deutschen besetzten
Galizien mehreren hundert jüdischen Zwangsarbeitern das Leben,
indem er sie als »unentbehrlich« für die Erdölindustrie einstufte
und in den von ihm verwalteten Fabriken beschäftigte. Als Jüdin,
die für den »mächtigen Direktor der Karpaten-Ölgesellschaft« in
Boryslaw arbeitete, durfte Hilde sich ein gelbes »R« dir Rüstung
auf ihre Armbinde nähen. »Dieser Buchstabe sollte uns bei
zukünftigen Säuberungsaktionen vor Willkürakten der Gestapo
schützen.« Doch im Frühjahr 1944 wurde Beitz zur Wehrmacht
eingezogen. »Bevor er wegging sagte er mir, er sei sicher, dass er
durch einen seiner deutschen Mitarbeiter denunziert worden sei,
well er Juden geholfen habe.« Hilde wurde mit etwa 20.000 Juden und
5.000 Polen Im KZ Plaszow interniert. Wieder erkannte man ihre
Fähigkeit. Deutsch zu tippen und zu stenographieren. Sie wurde
Schreibkraft des Hauptscharführers, der für die Verteilung der
Arbeitseinsätze zuständig war. Als solche hatte sie Zugriff auf
»Schindlers Liste«. Hilde Berger: »Im Büro von Hauptscharführer
Müller sah ich zufällig eine Bewilligung aus Oranienburg, in der
stand, dass das gesamte Schindler-Lager mit allen Maschinen und
1.000 jüdischen Gefangenen nach Brünnlitz in die Tschechoslowakei
gebracht werden sollte.«
Sie trug sich und einige enge Freunde ein und überlebte. Am 9. Mai
1945, nach der deutschen Kapitulation, rief Schindler uns alle in
der Fabrik zusammen und hielt eine offizielle Ansprache, in der er
sagte, dass wir nun frei seien. Fünf Monate später saß sie im
Flugzeug nach Stockholm wo eine nach Schweden geflohene Freundin
auf sie wartete. »Ich kam mir vor wie in einem Märchen.« Das
Geleitwort zur Dokumentation »Ich schrieb mich selbst auf
Schindlers Liste« stammt aus der Feder von Berthold Beitz und endet
mit den Worten: »Es freut mich, dass dieses Buch die Erinnerung an
ihr Leben und an unser Zusammentreffen in schwerer Zelt für den
Nachwuchs erhält.«