Rezension zu Traum(a) Migration

Curare. Zeitschrift für Medizinethnologie 36(2013)4

Rezension von Assia Maria Harwazinski

Robert E. Feldmann Jr. & Günter H. Seidler: (Hg) 2013. Traum(a) Migration. Aktuelle Konzepte zur Therapie traumatisierter Flüchtlinge und Folteropfer

Zwei Mediziner mit psychiatrischer bzw. psychologischer und neurologischer Fachausbildung haben einen interdisziplinären Aufsatzband zu einem bisher wenig behandelten Thema mit 15 Beiträgen von Medizinern, Psychologen, Sozial- und Kulturwissenschaftlern, Pädagogen, Philosophen, Ethnologen herausgegeben, die alle auf dem Gebiet der Migration bzw. der Behandlung von Flüchtlingen, Zu- und Auswanderern praktisch spezialisiert sind. Ausgangssituation ist die Tatsache, dass diese meist unfreiwillig Zugewanderten und deren Kinder von verschiedenen migrationsbedingten Problemen betroffen werden wie der Anpassung an ein neues System, neue Lebensumstände, Verlassenheitsgefühlen, Wahrnehmung gesellschaftlicher Ausgeschlossenheit und Chancenungleichheit und dadurch für seelische Erkrankungen deutlich anfälliger sind. Die Unterschiede in Sprache, Kultur, Religion oder ethnischer Identität bilden als sekundäre Belastungen eine zusätzliche Gefahrenquelle, die generationenübergreifend bestehen bleiben kann. Die daraus folgende Notwendigkeit der Weiterentwicklung und Auswertung kulturübergreifender Konzepte für die Versorgung traumatisierter Flüchtlinge und Folteropfer erfordert, dass kulturelle Besonderheiten in medizinischer, psychiatrischer und psychologischer Diagnostik und Therapie berücksichtigt werden und darüber hinaus auch eine angemessene Betreuung durch Sozialarbeiter im Alltag gewährleistet wird. Die Studie will auf die bestehenden Versorgungslücken hinzuweisen und das Problembewusstsein dafür anhand von Fallbeispielen zu fördern. Einige seien hier beschrieben.

Im ersten Teil »Traumabewältigung in der Fremde« (4 Beiträge) beschreibt die Bremer Kulturwissenschaftlerin und Soziologin Antje Krueger in »Feuerspuren. Dimensionen eines Selbstverbrennungsversuchs im Asylkontext« den Fall eines russischen Flüchtlings, der eigener Aussagen nach vom KGB verfolgt, inhaftiert und gefoltert wurde. Seine Erinnerungen waren bruchstückhaft. Er wurde in Asylsammelunterkünften und zuletzt in einer eilstationären Wohnunterbringung für psychisch belastete Asylsuchende untergebracht, wo er wegen seiner mehrfach suizidalen Handlungen auffiel, die ihren tragischen Höhepunkt in einem öffentlichen Selbstverbrennungsversuch fanden, den er überlebte. Aus seiner Biografie geht mehrfacher Namenswechsel hervor, was die geschilderten Verfolgungsängste durch den KGB als einzige Konstante in seinen Schilderungen unterstreicht. Es ist das beklemmende Porträt eines Menschen, der durch den Selbstverbrennungsversuch paradoxerweise erst (s)eine »Brandopferidentität« gewinnt, indem er zwar sein Leben, aber nicht »seine Haut« retten konnte, da er bis heute aufgrund seiner schweren Brandverletzungen in umfassender Behandlung ist (1). Der Sozialarbeiter Dimitrios Kalaitzidis beschreibt in »Migration, Sprache und Gewalt. Ein Erfahrungsbericht über strukturelle Gewalt im schulischen Kontext« anonymisiert den Fall eines autistischen pubertierenden Jungen, der zunächst Einzelfallhilfe in einer Sprachheilschule bekam. Aufgrund eines Wohnungs- und dadurch bedingten Schulwechsels fiel dies weg, worauf der Junge aufgrund seines Verhaltens (Selbstisolation) immer mehr auffiel und schließlich der Schule verwiesen wurde; er wurde »entschult« und reagierte mit epileptischen Anfällen. Die Familie hat sich Rechtsbeistand geholt und setzte die Wiederbeschulung des Jungen durch. Im Beitrag »Zur teilstationären Behandlung von Folter- und Bürgerkriegsüberlebenden aus anderen Kulturkreisen« schildert Ferdinand Haenel, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie und Leiter der Tagesklinik des Berliner Behandlungszentrums für Folteropfer (BZFO), Geschichte und Konzept dieses bekannten Zentrums, das 1992 gegründet wurde.

Der zweite Teil – »Therapeutische Konzepte und Besonderheiten im transkulturellen Behandlungskontext mit traumatisierten Flüchtlingen und Folteropfern« – umfasst zehn Aufsätze. Die Fachärztin für Psychiatrie, Psychotherapie, Neurologie und Sozialmedizin Meryam Schouler-Ocak, Charité Berlin, unterstreicht in ihrem Beitrag über »Interkulturelle trauma-zentrierte Psychotherapie unter Anwendung der EMDR-Methode« die Bedeutung, Notwendigkeit und Schwierigkeit einer interkulturellen Psychotherapie, die durch den Mangel an kompetenten Sprach- und Kulturvermittlern häufig erschwert wird – wenn nicht gar scheitert – und unterstreicht ebenso die Bedeutung von Supervision, Psychohygiene und gut funktionierenden Stabilisierungsmaßnahmen für dieses Arbeitspersonal. Der iranische Psycho- und Traumatherapeut sowie Gerichtsgutachter Jan Ilhan Kizilhan, der Rehabilitationspsychologe Jürgen Bengel und die Psychologin Kristina Sara Utz unterstreichen in ihrem Beitrag über »Transkulturelle Aspekte bei der Behandlung der Posttraumatischen Belastungsstörung« unter Anderem die guten Erfahrungen mit der Anwendung der »kultursensitiven narrativen Traumatherapie« nach Kizilhan (2009), einem neuen Behandlungsansatz, über dessen Effektivität bisher nur wenige Studien vorliegen. Dieser Behandlungsansatz wird ebenfalls im Beitrag »Flucht & Trauma. Ein multiprofessionelles Behandlungsangebot für psychisch erkrankte Flüchtlinge« unterstrichen (Astrid Pabst, Udo Gerigk, Sukran Erdag, sowie Gunnar Paulsen). Die psychologische Psychotherapeutin Eva van Keuk, der Internist und Psychotherapeut Hans-Wolfgang Gierlichs und die Fachärztin für Psychosomatik und Psychotherapie liljana Joksimovic weisen in ihrem Beitrag »Psychotische Störungen im transkulturellen Behandlungskontext. Klinische Fallstricke und mögliche Auswege« unter Anderem auf den Fall einer zur Abschiebung bestimmten iranischen Patientin hin, welche Folgen eine unzutreffende Diagnose auf das aufenthaltsrechtliche Verfahren haben kann: Die Gutachterin beschrieb eine paranoid-halluzinatorische Psychose, schloss eine Traumastörung aus, verordnete eine medikamentöse Behandlung mit Antipsychotika und folgerte, dass der Tatsache, dass sie sich nach ihrem Sitten- und Ehrenkodex in der alten Heimat in Todesgefahr befände, kein eigentlicher Krankheitswert beizumessen sei; daher könne sie in den Iran zurückkehren. Solche Fälle machen deutlich, dass strukturell bedingte kulturelle Gewalt nicht psychotherapeutisch behandelbar ist, allerdings eine andere juristische und politische Entscheidungs- und Vorgehensweise erfordern, falls die Anwendung der säkularen Menschenrechte gewahrt werden soll.

Der dritte Teil – »Update der von der Deutschen Ärztekammer übernommenen Empfehlungen zur Begutachtung psychischer Traumafolgestörungen bei Flüchtlingen« wird mit einem einzigen Beitrag dreier Autoren – Mechthild Wenk-Ansohn, Gisela Scheef-Maier und Hans-Wolfgang Gierlichs – bestritten. Im Zentrum steht die Forderung nach qualifizierten fachlichen Gutachtern von traumareaktiven und anderen psychischen Erkrankungen bei Flüchtlingen, die wegen sprachlicher, kulturbedingter und krankheitstypischer Hemmnisse oft nicht ausreichend über das von ihnen Erlebte berichten können; symptomspezifische Vermeidungssymptomatik, Konzentrations- und Gedächtnisstörungen, Dissoziationen usw. sowie Schamgefühle erschweren ihnen die lückenlose, zeitlich und logisch geordnete und genaue Berichterstattung bei der Anhörung von Asylanträgen. Die Diagnose von psychischen Störungen als Traumafolge ist die Voraussetzung für die Feststellung politischer Verfolgung und der daraus folgenden Anerkennung der Notwendigkeit eines Asylschutzes. Gerade hier zeigt sich einmal mehr die Erfordernis umfassender interkultureller medizinischer Bildung in den Heilberufen, die traditionell häufig fachlich überfordert und verunsichert sind. Dies dürfte jedoch ebenso für andere Länder und Kulturen gelten, da die einzigen fachlich und interkulturell ausgebildeten, erfahrenen und versierten Heilberufler sich vorwiegend in internationalen Organisationen finden, eine entsprechende Zusatzausbildung und/oder Auslandsarbeitserfahrung hinter sich haben.

Die Fallstudien belegen die Bedeutung der individuellen Biographie-Arbeit (biographische Anamnesen) und werden eindrücklich durch einzelne Erlebnisschilderungen »bebildert«. Die Krankheitsbilder aus anderen Kulturkreisen mögen dieselben sein, aber sie werden in anderer Bildsprache geschildert, die das Verständnis gleichermaßen fördert und erschwert – weil uns die Bilder nicht vertraut sind, wir sie anschaulich finden, aber nicht gleich deuten können. Sehr wichtig wird die Verflechtung und Zusammenarbeit mit den Behörden dargestellt, die manchmal die medizinisch-therapeutische Behandlungsarbeit erschweren, wenn nicht gar blockieren. Die Schwerfälligkeit und Normativität bürokratischer Apparate erscheint damit teilweise als ein Hindernis, das sich der Gesundung von Patienten entgegenstellt (was sich nicht auf die Behandlung traumatisierter Flüchtlinge beschränkt) und die Inanspruchnahme spezialisierter Juristen erfordert. Allerdings wird deutlich, dass politische Systeme wohl kaum von Psychotherapeuten »behandelt« werden können – was die Frage aufwirft, unter welchen politischen Bedingungen bestimmte medizinische Verfahren und Behandlungsweisen erst möglich werden und zum Einsatz kommen können. Die Konkretheit der Behandlungsansätze und -arbeit in den Beiträgen macht diese Studie auch für Menschen aus anderen Disziplinen gut lesbar und verhilft zu stärkerem Verständnis von Problematik und Behandlungsmöglichkeiten. Deutlich wird, dass die bisherige Arbeit von guten, aber überwiegend konventionellen Methoden und Ansätzen beherrscht wird und Ansätze aus der Tanz- und Theaterpädagogik zur Behandlung psychischer Erkrankungen im medizinisch-therapeutischen Bereich nicht zum Tragen kommen. Allerdings wird die konventionelle Behandlung durch interkulturelle Arbeitsaspekte von Spezialisten deutlich erweitert und sollte es noch mehr, was vorrangig an finanziellen und bürokratischen Hürden zu scheitern scheint. Die Aufsatzsammlung verdeutlicht auch, was in der BRD und in der DDR nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs für die Einheimischen selbst komplett gefehlt und mindestens zwei Generationen geprägt hat, auch wenn Arbeiten aus dieser Zeit wie die von Margarete und Alexander Mitscherlich dies schon aufgezeigt haben.

Assia Maria Harwazinski, Tübingen

1) Redaktionelle Anmerkung: Diese Kasuistik wurde auf der 25. Fachkonferenz Ethnomedizin, Heidelberg 8.–10.6.2012, von A. Krueger vorgetragen.

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