Rezension zu Migration und Trauma (PDF-E-Book)

Beiträge zur Lehrerbildung 3/2013

Rezension von Jürg Frick

Zimmermann, D. (2012). Migration und Trauma. Pädagogisches Verstehen und Handeln in der Arbeit mit jungen Flüchtlingen

Der Autor, Sonderpädagoge und in der Unterstützung von Menschen mit Behinderungen sowie in der Beratung junger Flüchtlinge erfahren, zeigt uns in seinem Buch, wie das Leben zwangsemigrierter Jugendlicher durch extreme Belastungen gekennzeichnet ist und trotzdem gefördert werden kann. In seiner Untersuchung verbindet er bisher voneinander separierte Forschungsbereiche der Psychotraumatologie, der Migrationsforschung sowie der Pädagogik. Er versteht die vorliegende Untersuchung als Teil von kasuistisch orientierter psychoanalytisch-pädagogischer Forschung. Auswirkungen von Kriegserfahrungen und gestörte familiäre Interaktionen im Exil untersucht der Autor nach einem theoretischen Teil ausführlicher anhand von sechs konkreten, anonymisierten Fallbeispielen in seiner Analyse.

Im theoretischen Teil führt er das Konzept der sequenziellen Traumatisierung (Keilson 1979, erweitert von Becker 2006) ein und beleuchtet, was das für die Migrierten – hier besonders die Kinder und Jugendlichen – bedeutet. Vielfältige belastende prä-, peri- und postmigratorische belastende Erfahrungen binden massiv Energie der Migrantenkinder und -jugendlichen. Dies wird im dritten Teil konsequent näher beleuchtet: etwa die Trennung von primären Bezugspersonen, Interaktions- wie transgenerationale Aspekte, aber auch die schulische Situation mit – meistens – ungünstigen rechtlichen Rahmenbedingungen (ungesicherter Aufenthaltsstatus) und häufig entsprechend problematischen Folgen für die MigrantInnen. Als ein Beispiel sei hier der Fall einer 17-jährigen Schülerin erwähnt, die mit ihrer Familie seit 17 Jahren (!) als Asylsuchende bzw. als sogenannt geduldete Flüchtlinge in Deutschland lebt. Weitere Themen werden aus unterschiedlichen Perspektiven ausgeleuchtet wie etwa die Zwangsemigration als traumatischer Prozess, freiwillige und erzwungene Emigration oder unsichere Gegenwarts- und Zukunftsperspektiven als Bedingungsfeld für die Chronifizierung traumatischen Erlebens, die Entwertung bzw. Idealisierung der kulturellen Bezugssysteme (Herkunftsland oder Aufenthaltsland) jugendlicher MigrantInnen, institutionelle Diskriminierung durch die Schule, häufig überfordernde ›Aufträge‹ der Eltern an ihre Kinder (Stichwort: akademische Ausbildung), die wiederkehrende Verschiebung von Trauer (z.B. über Verluste) zu Hass (z.B. auf das Aufnahmeland), Mühe, sich in der Peergruppe heimisch zu fühlen, das Fehlen von Zukunftsperspektiven (nicht nur berufliche).

In einer eigenen qualitativen Untersuchung (Forschungsdesign: tiefenhermeneutisch-qualitativer Zugang) beeindrucken die kommentierten sechs Einzelfalldarstellungen. Dass er auch eigene Grenzen und Probleme, wahrgenommen in der Gegenübertragung während der Interviews, nicht verschweigt, sondern als wichtiges Instrument nützt, ist wichtig und hilft auch LeserInnen, sich nicht mit zu hohen Ansprüchen zu überfordern.

Für die Schule wäre es besonders wichtig, die lebensgeschichtlichen Erfahrungen dieser jungen Menschen ernst zu nehmen und zumindest temporär in das Zentrum pädagogischer Tätigkeit zu stellen: da ist besonders feinfühlige Beziehungsarbeit in übersichtlichen Gruppen zu erwähnen – Beziehung steht einmal mehr an erster Stelle. Hier könnte die Schule als wichtiger, sicherer Ort im günstigen Fall eine quasi therapeutische Wirkung erzielen. Zimmermann bezeichnet dies treffend als haltenden Rahmen in einer brüchigen Lebenswelt, wo häufig durch das Fehlen eines Elternteils oder durch stark belastete Elternteile ein Mangel an Containment zu verzeichnen ist. Erwachsene Bezugspersonen hätten in der Schule in dreifacher Hinsicht eine grosse Bedeutung für die Jugendlichen: Erstens eine Ausgestaltung der Prozesse von Nähe und Distanz, zweitens im Containment die Unterstützung bei der Verarbeitung der Erlebnisse und drittens bei der Bewältigung der neuen Herausforderungen im aufnehmenden Land. Vielen Migrantenkindern fehlen geeignete Rollenvorbilder und angemessen grenzsetzende, haltgebende Instanzen, da sie die – wenn überhaupt vorhandenen – Eltern(teile) meistens als schwach und hilflos erleben. Die Schule sollte ihnen u.a. eine Kombination aus einem notwendigen Moratorium (z.B. in Form von Vorbereitungsklassen) und gleichzeitiger Beziehungsaufnahme zu einheimischen SchülerInnen anbieten. Sie kann ihnen so einen neuen Erfahrungs- und Schutzraum bieten, der neue positive Beziehungen ermöglicht und dem Tagesablauf eine sinnvolle Ordnung gibt. Auf der schulorganisatorischen Ebene plädiert Zimmermann für eine Enthierarchisierung der Institution Schule, eine überschaubarere Gruppe (konkret: reduzierte Klassengrösse), eine Kürzung der Pflichtstundenzahl für Lehrkräfte, mehr Zeit und Raum für Selbstreflexion in Form von Supervision usw., aber auch für mehr selbstbestimmtes Handeln der Lehrpersonen sowie für eine Ausrichtung an Schlüsselthemen der Lernenden. Für die Ausbildung von Lehrkräften ist für den Autor ein umfassendes Wissen über Entwicklungsprozesse von Heranwachsenden nötig, ebenso die Kenntnis gruppenspezifischer psychosozialer Erlebens- und Verhaltensmodi.

Zwei kritische Anmerkungen. Schade, dass Zimmermann gelegentlich immer noch den veralteten psychoanalytischen Begriff Aggressionstrieb verwendet. Und: die Deutung des Berufswunsches ›Bauarbeiter‹ bei einem Jugendlichen als eine reife Form der Inbesitznahme aggressiver innerer Anteile zu verstehen, scheint mir doch eher fraglich zu sein.

Jürg Frick, Prof. Dr., Pädagogischen Hochschule Zürich, Zentrum für Beratung (ZfB)



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