Rezension zu Filmräume - Leinwandträume
Freiburger literaturpsychologische Gespräche. Jahrbuch für Literatur und Psychoanalyse, Bd. 33, 2014
Rezension von Peter Scheinpflug
Alf Gerlach/Christine Pop (Hg.): Filmräume – Leinwandträume.
Psycho- analytische Filminterpretationen
Literatur- oder Medienkulturwissenschaftler kann eine sehr
ambivalente Stimmung bei der Lektüre einer der vielen
Publikationen ergreifen, in denen praktizierende und/oder lehrende
PsychoanalytikerInnen ihre Filmlektüren vorstellen. Zugunsten der
Psychoanalyse werden andere Kontexte, Lektüre-Ansätze und
Theorien, aber auch Klassiker der psychoanalytischen Filmtheorie
wie Laura Mulvey, Jean-Louis Baudry oder Christian Metz zumeist
ausgeblendet. Allzu oft werden in diesen Publikationen die
Regisseure oder die Figuren der Filme auf die Couch gelegt. Doch es
ist eben diese Praktik, die von den Herausgebern des Sammelbands
»Filmräume – Leinwandträume« kritisiert wird und von der sie sich
mit ihrem eigenen Band absetzen wollen. Stattdessen fordern sie
eine Auseinandersetzung einerseits mit den Prinzipien der
Inszenierung, wie beispielsweise den Kamera-Einstellungen oder der
Montage, und andererseits mit dem Dispositiv der Rezeption und
dessen Effekten auf das Zuschauer-Subjekt. Beispielhaft wird diese
Agenda in der Lektüre von Se7en/Sieben (USA 1995) umgesetzt, die
den Band eröffnet: Der Beitrag widmet sich sowohl eingehend
diversen Aspekten der mise-en-scène, wie Raum-Inszenierungen,
Lichtsetzung, Kostümen etc., als auch Fragen der Kamera-Führung
und deren Identifikationsangebote an den Rezipienten. Darüber
hinaus gehen die Autoren auch auf kulturwissenschaftliche
Fragestellungen wie beispielsweise gender-theoretische
Lektüre-Ansätze ein und lassen diese Fäden schließlich in einer
psychoanalytischen Deutung der ödipalen Konstellation kulminieren,
die durch die vier Hauptfiguren konstituiert wird. Diese
multiperspektivische Filmanalyse ist nicht die einzige angenehme
Überraschung, die der Band bietet und die sich größtenteils durch
seine Genese erklären lässt.
Der vorliegende Sammelband resultierte aus einer
Veranstaltungsreihe, in der praktizierende und/oder lehrende
PsychoanalytikerInnen Filme ihrer Wahl einem Kino-Publikum
vorstellten und mit diesem diskutierten. Die Adressierung eines
heterogenen Publikums ohne psychoanalytische Vorkenntnisse ist als
Spur in den Beiträgen noch zu erkennen. Beispielsweise sind
fachliche Explikationen mehrheitlich einerseits so leicht
verständlich gehalten, dass sich die Argumentationen und Lektüren
schnell auch einem Leser ohne Vorkenntnisse erschließen, während
sie andererseits so pointiert ausfallen, dass ein bereits in der
Psychoanalyse bewanderter Leser sich eher an die Modelle erinnert,
denn von langen Darlegungen gelangweilt fühlt. Aber auch der
Aufbau des Sammelbandes zeugt von seiner Genese: Denn die Beiträge
folgen weder einem gemeinsamen Ansatz noch fügen sie sich in ein
übergreifendes Thema. Gemeinsame Fragestellungen und
Themenkomplexe – beispielsweise der Themenkomplex Trauma, Verlust
und Trauer bei den Lektüren von The Lovely Bones/In meinem Himmel
(USA/UK/NZ 2009), Sous le sable/Unter dem Sand (F 2000) und Der
Himmel über Berlin (BRD/F 1987) – erscheinen eher zufällig und
den gewählten Filmen geschuldet. Diese fehlende Struktur der
Beiträge kann durchaus positiv perspektiviert werden, denn sie
geht mit einer großen Vielseitigkeit der Ansätze und
Kontextualisierungen, der Schwerpunktsetzungen und Modelle
einher.
Der Band besteht insgesamt aus einer Einleitung und fünfzehn
Lektüren von einzelnen Filmen, die von insgesamt sechzehn
Autorinnen und Autoren verfasst wurden und die sich grob in drei
Kategorien unterteilen lassen: Auf der einen Seite bietet der Band
Filmlektüren, die vorrangig auf der Folie der Psychoanalyse
operieren. Dazu können die Analysen gezählt werden von The Matrix
(USA 1999), Orlacs Hände (D 1924), Spellbound/Ich kämpfe um dich
(USA 1945), Spider (CDN/UK/F 2002), Unter dem Sand und Wie im
Himmel. Auf der anderen Seite stehen Beiträge, in denen die
Psychoanalyse zugunsten kulturwissenschaftlicher Fragestellungen in
den Hintergrund tritt. Dies trifft vorrangig auf drei Beiträge zu:
Anhand von Fatih Akins Gegen die Wand (BRD 2004) setzt sich Kizil
Tekdemir mit gesellschaftlich hochaktuellen Fragen zu Migration und
Interkulturalität auseinander; Rainer Krause legt hingegen einen
kenntnisreichen Vergleich von Jeremiah Johnson (USA 1972) zu
historischen Quellen vor und erklärt den Misserfolg des
Neo-Westerns durch die Verklärung der historischen Figur, deren
Ambivalenz kein breites Zielpublikum zu adressieren vermochte; und
Ludwig Janus folgt einer gender-theoretischen Fragestellung in
seiner Historisierung von Wim Wenders Der Himmel über Berlin, wenn
er die Ersetzung eines nationalsozialistischen Ideals der
Männlichkeit durch ein Ideal der einfühlsamen Männlichkeit
nachzeichnet und dadurch den Film im Kontext der Auseinandersetzung
des Neuen Deutschen Films mit der NS-Zeit liest. Zwischen diesen
beiden – hier postulierten – Polen liegen die Lektüren von Se7en,
Up in the Air (USA 2009), Yella (BRD 2007), Breaking the Waves
(DK/S/N/NL/F 1996), La stanza del figlio/Das Zimmer meines Sohnes
(I/F 2001) und 1⁄2 Miete (BRD 2002). Diese Lektüren zeichnen sich
durch ein relatives Gleichgewicht aus psychoanalytischen Deutungen
und kulturwissenschaftlichen Lektüren aus. In dieser Kategorie
sind es insbesondere die Beiträge, die von Christine Pop verfasst
oder aber an denen sie mitgearbeitet hat, die sich durch sehr
genaue Beobachtungen und sehr präzise Deutungen auszeichnen,
während auf ausgedehnte Theorie-Explikationen zugunsten eines
geradezu minimalistischen Theorie-Apparats verzichtet wird.
Eine gesonderte Erwähnung verdient aber auch der Beitrag von Alf
Gerlach zu Spellbound. In der Auseinandersetzung mit Alfred
Hitchcocks viel diskutiertem Film gelang dem Autor ein geradezu
schelmisches Meisterstück: Mit Rekurs auf Balint widmet sich der
Autor in seiner Lektüre von Spellbound der »Angstlust« des
Rezipienten, die in Gerlachs Argumentation durch unkonventionelle
und selbstreflexive Inszenierungen evoziert werden könne. In
dieser Argumentation, die auf die Aktivierung des Rezipienten und
dessen Reflexion über seine eigenen Phantasien hinausläuft, sind
jedoch zwei Friktionen gesetzt: Erstens führt Gerlach als
Kronzeuge seiner Argumentation die Traumsequenz aus Spellbound an,
die er forciert Alfred Hitchcock zuschreibt, obwohl wir seit Jahren
wissen, dass gerade diese berühmte Sequenz auf Wunsch des
Produzenten von William Cameron Menzies nachgedreht worden war.
Dieser Bruch mit dem Vorwissen des Lesers greift in eine zweite
Verwerfung, da Gerlach den auteur zunächst als heuristische
Fiktion begreift (S. 139), doch am Ende seiner Lektüre mit
Referenz auf Ralf Zwiebel vermeintlich affirmativ auteuristisch den
»Filmkünstler« Hitchcock bespricht (S. 146– 147). Dieser Aufsatz
ist daher dezidiert als performativer Text zu lesen: Der Autor
adaptiert seine Schlusspointe, dass happy endings die Komplexität
der Angstlust bereitenden Inszenierungen geradezu gewaltsam
simplifizieren und zähmen, durch die nicht minder gewaltsame
Schließungsfigur des auteurs, die gleichsam als Abwehr gegen die
konstitutive semantische Offenheit der Filmbilder gelesen werden
kann. Durch die beiden Sollbruchstellen in der Argumentation
überführt Gerlach somit die postulierte Aktivierung des
Rezipienten in eine Aktivierung des Lesers seines Textes.
Mit diesem Sammelband sind die Herausgeber und Autoren einen
mutigen Schritt auf die Auseinandersetzung mit dem Medium Film und
auf Ansätze zu einer medienkulturwissenschaftlich ausgerichteten
Filmlektüre zugegangen. Sie haben sich deutlich erstens einem
Verständnis der psychoanalytischen Modelle und Theorien als
Instrumentarium zur Kulturanalyse, zweitens der psychoanalytischen
Theoriebildung in der Filmwissenschaft und drittens den Einflüssen
der Cultural Studies auf die Filmanalyse angenähert, wodurch sie
an rezente Praktiken der Textlektüre anschlussfähiger geworden
sind. Zukünftige Publikationen des Genres der Filmlektüren von
praktizierenden und/oder lehrenden PsychoanalytikerInnen werden
sich daran messen lassen müssen.
Peter Scheinpflug