Rezension zu Justitia, Freud und die Dichter
Freiburger literaturpsychologische Gespräche. Jahrbuch für Literatur und Psychoanalyse, Bd. 33, 2014
Rezension von Aldo Legnaro
Dirk Fabricius: Justitia, Freud und die Dichter.
Rechtspsychoanalytische Betrachtungen literarischer Texte
Die einzelnen Texte dieses Buches sind als Vorträge während der
jährlich stattfindenden Tagung »Psychoanalyse und Recht« in
Curitiba (Brasilien) entstanden. Dabei nutzen die Referenten einen
von den Veranstaltern vorgegebenen literarischen Text als
Ausgangspunkt von Betrachtungen, die zwischen Jurisprudenz,
Literaturwissenschaft und Psychoanalyse oszillieren, um vor der
literarischen Folie die gegenseitigen Bezüge herauszuarbeiten. Die
vorliegende Auswahl an Literaturtexten ist also – mit einer
Ausnahme – nicht die des Verfassers, was die ansonsten eher
disparat anmutende Zusammenstellung erklärt. Das Ziel allerdings
ist immer dasselbe: Literatur wird in diesen Texten nicht zum
Anlass einer (Psycho-)Analyse des Autors genommen; vielmehr sollen
»die Weltmodelle, die handelnden und fühlenden Personen, die
Situationen, in die sie gestellt sind, und die Verläufe, die das
Geschehen nimmt, als Prototypen« (S. 12) begriffen und betrachtet
werden und damit als Ausgangspunkt der Analyse dienen.
Wer nun allerdings glaubt, unter dem Obertitel »Schuld und ihre
empirischen Grundlagen« mit dem Untertitel »Franz Kafka: Der
Prozess« eine Erörterung dieses Werkes im Hinblick auf Schuld zu
finden, wird enttäuscht sein. Dieser Bezug sei nur »sehr indirekt«
(S. 14), räumt der Verfasser ein; immerhin hätte die sehr
differenzierte Kafka-Forschung hier doch einiges beitragen können.
Vorgeführt wird stattdessen eine Erörterung des Schuldprinzips
aus psychoanalytischer Sicht. Weder Juristen noch Kriminologen
wüssten, so der Autor, worum es sich bei Schuld, diesem
metaphysischen Konzept, handelt. Das, wäre anzumerken, hindert die
Gerichte allerdings keineswegs, tagtäglich Schuld operational zu
definieren und zuzuschreiben, und die (allerdings weitgehend aus
den neunziger Jahren stammende)
sozialwissenschaftlich-kriminologische Strafzumessungsforschung,
die dem Verfasser keinen Blick wert ist, ist durchaus in der Lage,
die Kriterien dieser Zuschreibung zu erfassen. Es geht dem Autor
aber auch nicht um die Aufhellung des Metaphysischen durch eine
Analyse der Prinzipien bei der Zuschreibung von Schuld, sondern um
die Frage, wie es Individuen gelingt, bei widersprüchlichen
normativen Erwartungen eine Entscheidung zu treffen. Sie
verfügten, so seine These, über ein »inneres normatives System«
bezüglich Schuld und Scham, an dem sie ihre Handlungen ausrichten,
was durch einige ethologische und ethnologische Befunde gestützt
wird. Dieses System habe als autonom zu gelten – es ist jedoch
nicht so autonom, dass es sich unter allen Umständen durchzusetzen
vermöchte, wie der Autor unter Verweis auf die Milgram-Experimente
einräumt. Die hier nicht erwähnten Forschungen von Harald Welzer
ließen sich gut heranziehen, dieses Feld weiter aufzuhellen: es
gibt demzufolge das, was man eine Kontingenz des Guten nennen
könnte. Dem autonomen stehe, so die Argumentation, ein heteronomes
System gegenüber, wie es sich durch äußeren Konformitätsdruck
und die Maßnahmen schwarzer Pädagogik etabliere. Ziel müsse es
demnach sein, die angeborene Fähigkeit eines autonomen Gewissens
und seine Reifung zu bestärken. Das führt zu einem Plädoyer für
demokratische Institutionen und eine Kultivierung des Widerspruchs.
Strafe trägt hierzu nichts bei, da sie, wie der Autor resümiert,
entmündigend wirke und die Gehorsamsbereitschaft erhöhe. Deswegen
gelte es, Schuld zu erkennen, zugleich aber die destruktiven
Wirkungen von Strafe in Rechnung zu stellen – letztere Forderung
hat unter dem Etikett des Abolitionismus in der Kriminologie
durchaus Tradition, dem Autor ist sie aber keiner Erwähnung
wert.
Shakespeares Kaufmann von Venedig liefert den Assoziationsraum des
folgenden Kapitels über eine gestörte Entwicklung der
Einwilligungsfähigkeit als Basis paternalistischer Eingriffe.
Solche Eingriffe – in aller Regel mit der Unmündigkeit der
Betroffenen gerechtfertigt – seien in einer Demokratie
Fremdkörper. Wenn Einwilligung bedeute, dass »längerfristige
Konsequenzen der Aufopferung eines Gutes im Auge« (58) zu behalten
seien, dann sei die Fähigkeit dazu um so ausgeprägter, je mehr
eine Person ihr »wahres Selbst« (Winnicott) ausdrücken könne und
ein autonomes normatives System ausgebildet habe. Eine Störung
trete dann ein, wenn es ihr nicht gelinge, Risiken abzuwägen und
Alternativen zu bedenken, und jegliche Sozialisation, die
Norminternalisierung autoritär und fremdbestimmt anstrebt, werde
solche Störungen hervorrufen. Nicht zuletzt befördere diese
Entwicklung die Tendenz von Eltern, Kinder zu Projektionsflächen
zu machen, anstatt die gegebenen Asymmetrien auszugleichen. So
entspringe die Unfähigkeit zur autonomen Entscheidung und zum
Umgang mit Freiheit einer erlernten Hilflosigkeit und einem
»Zusammenspiel von Zwangsverhältnissen« (S. 75), die dem Menschen
»im Naturzustand« (ebd.) unbekannt gewesen seien und eben deswegen
durch politisch-gesellschaftliche Prozesse überwunden werden
könne. Diese Formulierung insinuiert den Glauben des Autors an
einen vorsozialen – und selbstredend nicht-entfremdeten – Zustand
des Menschen, was aus sozialwissenschaftlicher Sicht eher
merkwürdig anmutet. Das entwertet allerdings überhaupt nicht die
Bedeutung der Forderung, Kindern eine unbeschränkte Ausübung
ihrer Grundrechte zu gewährleisten – wobei man sich aber bewusst
bleiben sollte, dass Kindheit als eigenständige Lebensphase eine
Erfindung etwa des 17. Jahrhunderts ist, die Forderung nach
Kinderrechten aber wiederum merklich der späten Moderne entstammt
und in jenem sagenhaften Naturzustand ganz undenkbar gewesen
wäre.
Im Zusammenhang mit dem Buch »Drachenläufer« von Khaled Hosseini –
hier wie auch bei einigen anderen weniger bekannten Texten wäre
eine knappe Inhaltsangabe hilfreich – werden dann Fragen der
kollektiven und individuellen Identität erörtert. Dabei geht es dem
Autor um »Erzeugungsprinzipien für Einmaligkeit« (S. 83).
Kollektive Identitäten, stellt er in Anlehnung an empirische
Forschungen fest, lassen sich an beliebigen (biologischen oder
sozialen) Details festmachen und tendieren dazu, im Sinne einer
self-fulfilling prophecy eben das zu erzeugen, dessen Existenz sie
behauptet haben. Identität entsteht dabei bekanntlich vor allem
durch Abgrenzung von Anderen und Anderem, was Gewaltverhältnisse
und ein polarisierendes Schwarz-Weiß-Denken befördert.
Sozialpsychologisch empfiehlt sich deswegen, so der Autor,
präventiv wie als Abhilfe zum einen die Ausbildung von multiplen
kollektiven Identitäten, also die bewusste Entwicklung von
ausdifferenzierten und nicht notwendig kohärenten Rollensets, zum
anderen die Verrechtlichung von Gewaltverhältnissen – durchaus
sinnvolle Vorschläge, über deren Realisierungsmöglichkeiten er
allerdings kein Wort verliert, was sich auch daraus erklärt, dass
Macht als Kategorie hier allenfalls marginal vorkommt. Das gilt
vergleichbar auch für die Forderungen, wie sie anhand von Clarice
Lispectors Buch Die Sternstunde formuliert werden. Es gelte, wird
hier postuliert, gesellschaftliche Institutionen und Strukturen
aufzubauen, die entsolidarisierenden Tendenzen entgegenwirken. Dazu
müsse Politik die Gleichheit der Individuen fördern und
Konkurrenzen zwischen ihnen abbauen.
Das wird anhand einer Analyse von William Goldings Roman »Herr der
Fliegen« weiter entfaltet. Diesen komplexen und vielfältig
symbolischen Text interpretiert der Autor als eine Mikrowelt, die
sich zugleich als Weltmodell ansehen lässt. Wie die Experimente von
Milgram und Zimbardo gezeigt haben, können Systeme von Autorität
und Hierarchie – zumindest in den allermeisten Individuen –
jederzeit destruktive Verhaltensweisen hervorbringen: Verhalten
ist, lässt sich daraus lernen, situations- und kontextabhängig. So
führen die isolierte Situation nach dem Absturz und die inneren
Konflikte, die die Kinder im Roman erleben, bei ihnen zu
posttraumatischen Regressionen, was primitivere Abwehrmechanismen
wie Projektion und Introjektion aktualisiert. Golding dekonstruiere
in seinem Roman die Bildung von Mythen, folgert der Autor und
beschreibt im folgenden die im Roman vorgeführten Abwehrmechanismen
nach der jeweiligen Abwehr und dem jeweils Abgewehrten, wobei
einzelne Akteure die Prototypen des Verhaltens abgeben. Der reifere
Schritt zur Sublimierung gelinge dabei nicht; vielmehr werde ein
repressives System mit hoher Regeldichte, großem Konformitätsdruck
und ungenügender Individuierung etabliert – Erinnerungen an gerade
vergangene Zeiten (der Roman ist 1954 erschienen) dürften von
Golding beabsichtigt sein. So stehen nach der Interpretation des
Autors eine Struktur der Traumatisierung, die damit verbundene
Regression und die »Selbsterklärung zu einer Räuberbande« (S.
158) im Mittelpunkt eines Romans, der zwar die Oberflächlichkeit
von Zivilisierung aufzeige, diese aber nicht als unausweichliches
Schicksal beschreibe. Entscheidend sei vielmehr die ungenügende
Integration von Emotionen, die unter dem dominierenden Stereotyp
von Männlichkeit abgewehrt werden müssten. Die Interpretationen
dieses Kapitels lösen in ihrem dichten Textbezug exemplarisch den
Anspruch des Buches ein, Literatur psychoanalytisch zu lesen –
freilich wäre es geraten, den Roman auch in Details präsent zu
haben, um die daran geknüpften Auslegungen nachvollziehen zu
können.
Den Zusammenhängen von Kunst, Verbrechen und Psychoanalyse spürt
der Autor im Kapitel über Shakespeares Hamlet nach, wobei ihn
besonders interessiert, ob im Sinne einer positiven
Generalprävention vom Theater eine kathartische Wirkung erwartet
werden könne. Ausgangspunkt ist ein Text von Freud über das
Stück, in dem er diesem bescheinigt, durch die Darstellung von
Psychopathie beim Helden, also Hamlet, an den Verdrängungen der
Zuschauer rütteln zu können. Nun lässt sich der Begriff der
Psychopathie heute kaum unbefangen benutzen, und psychoanalytisch
gesehen, hebt der Autor hervor, handelt es sich dabei keineswegs
(wie früher angenommen) um eine Degeneration, sondern allenfalls
um eine Verhaltensbeschreibung, die sich nur im sozialen Kontext
ihrer Entstehung verstehen lässt – was auch Freuds Interpretation
entspricht. Aber wie sind dann die Wirkungen des Psychopathen auf
der Bühne zu bestimmen? Und wie kann Theater beim Publikum zur
Sublimierung als einer Versöhnung von Affekten mit der gegebenen
Realität beitragen? Das Drama als Kunstform bietet generell Anlass
zu Projektionen, Identifikationen und Reinszenierungen, was sich an
diesem Stück prototypisch zeigen lässt. Claudius sei geradezu das
Modell des Psychopathen, Hamlet zumindest zeitweise ein solcher,
und eben an beider Unfähigkeit zur Sublimierung lasse sich
erkennen, dass diese soziale Voraussetzungen habe, nämlich eine
demokratisch und rechtsstaatlich organisierte Umgebung. Shakespeare
gelinge es in diesem Stück, Psychopathie als durch Umstände
bedingt darzustellen und den Zuschauer zu wechselnden
Identifikationen einzuladen, ohne eine Auflösung anzubieten. Das
sei die Vorbedingung, damit man als Zuschauer die inneren Konflikte
der Akteure identifikatorisch mit- und nacherleben und dann
sublimierend Auswege finden könne. Das Theater eröffne damit
einen Möglichkeitsraum, erzeuge Irritationen und bringe das
Publikum zum Nachdenken, ohne es aufdringlich zu belehren.
Inwieweit diese Interpretation des Theaters als einer Form von
moralischer Anstalt einer Rezeptionsanalyse beim heutigen
Theaterpublikum standhielte, bleibt allerdings dahingestellt.
Das letzte Kapitel widmet sich dem »Vorleser« von Bernhard Schlink.
Anhand einer Erörterung der jeweiligen strafrechtlichen Relevanz
einzelner Handlungen und Unterlassungen der Romanfiguren steht hier
die janusköpfige Bedeutung von Alphabetisierung im Mittelpunkt.
Alphabetisierung (bzw. Analphabetentum) spielt im Roman eine
wichtige Rolle und wird hier als kriminogener Faktor interpretiert.
Die Figur Hanna, Analphabetin und ehemalige KZ-Aufseherin, habe
sich, behauptet der Autor, nicht als Täterin, sondern lediglich
der Beihilfe schuldig gemacht. Zwar wird mehrfach betont, ihr
Analphabetismus habe für die Verbrechen keine Rolle gespielt, doch
wird ihr eine verminderte Steuerungsfähigkeit und eine Trübung
der Unrechtseinsicht attestiert – was sich allerdings nur mit dem
Roman in der Hand nachvollziehen ließe. Dass – des Autors zweiter
Punkt – Kriminalität sich in Schriftkulturen besser organisieren
lasse, klingt plausibel, wenngleich das auch nicht immer der Fall
ist: heute können die technischen Möglichkeiten von Mündlichkeit
(Radio, Fernsehen, Internet) durchaus an die Stelle der Schrift
treten und kriminogen wirken. Aktenführung allerdings ist, wie der
Autor unterstreicht, ohne Schrift nicht möglich, weswegen die
Schrift am Beginn aller Staatlichkeit steht, und eine staatlich
induzierte Kriminalität wie in der Nazizeit ist ohne das Alphabet
kaum vorstellbar. Institutionen sind also ohne Alphabetisierung
nicht denkbar, aber auch »eine deinstitutionalisierende Politik,
die das Feld so organisiert, dass alle Institutionen rechtliche
Ziele haben« (S. 215) kommt ohne Schrift nicht aus – eine
dialektische Beziehung, wie sie für Aufklärung wie auch ihr
Medium Schrift gleichermaßen gilt.
Sind dies insgesamt nun »produktive Spiegelungen«, um den Titel
eines ebenfalls um Recht und Literatur kreisenden Buches
aufzugreifen, das Klaus Lüderssen 1991 veröffentlichte? Man
zögert, dies uneingeschränkt zu bejahen: zu lose ist in manchen
Kapiteln der Zusammenhang zwischen literarischem Text und einer
Interpretation, die die Texte eher als illustrative Ausgangspunkte
benutzt und weniger literarisch durcharbeitet, und unvermittelt
auch oft der Argumentationsstil. So muss man ein ausgeprägtes
Interesse an Psychoanalyse mitbringen, um an diesem Buch Freude zu
haben, wird dann allerdings mit einigen aufschlussreichen
Argumentationsfiguren belohnt.
Aldo Legnaro