Rezension zu Die Psychoanalyse im Pluralismus der Wissenschaften
Freiburger literaturpsychologische Gespräche. Jahrbuch für Literatur und Psychoanalyse, Bd. 33, 2014
Rezension von Alexandra Campana
Karsten Münch/Dietrich Munz/Anne Springer (Hg.): Die Psychoanalyse
im Pluralismus der Wissenschaften
Anlässlich des 60. Jahrestags der Deutschen Gesellschaft für
Psychoanalyse, Psychotherapie, Psychosomatik und Tiefenpsychologie
(DGPT) fand vom 2. bis 4. Oktober 2009 in Berlin eine Tagung statt.
Mit der Herausgabe der Beiträge zu besagter Jahrestagung legen
Karsten Münch, Dietrich Munz und Anne Springer einen Sammelband
vor, der sich vehement dafür ausspricht, die psychoanalytische
Wissenschaft »offensiv zu vertreten« (S. 7). In Anbetracht der
derzeit immer wieder proklamierten Krise der Psychoanalyse ist
diese Aufforderung relevant auch für die Psychoanalyse außerhalb
Deutschlands. Der dreiteilige Band präsentiert seinen Gegenstand,
indem er in logischer Reihenfolge erst die Wissenschaftlichkeit der
Psychoanalyse an sich thematisiert (Teil I: »Psychoanalyse und
empirische Wissenschaft«), dann das Verhältnis der Psychoanalyse zu
einigen ihrer Nachbarwissenschaften in den Blick nimmt (Teil II:
»Psychoanalyse und ihre Nachbarn«), um schließlich (Teil III) mit
einem Rückblick auf die DGPT und damit »60 Jahre Psychoanalyse in
Deutsch- land« zu enden.
Was in Bezug auf die Psychoanalyse als Wissenschaft besonders
auffallen muss, ist deren interne Pluralität. Horst Kächele führt
in seinem Beitrag jedoch nicht nur aus, dass es eine einheitliche
psychoanalytische Schule nicht mehr gibt, sondern benennt auch
gleich die zentrale Schwierigkeit, die sich im Hinblick auf den
Wissenschaftlichkeitsanspruch der Psychoanalyse stellt: nämlich das
problematische Verhältnis zwischen psychoanalytischer Theorie und
Praxis. Ausgehend von der Komplexität des psychoanalytischen
Praxisgeschehens, in dem Analytiker und Analysand als sich
gegenseitig beeinflussende Größen agieren, schlägt Kächele vor,
dass Analytiker ihre Sitzungen in Logbüchern festhalten. Diese
Logbücher seien in anonymisierter Form der Scientific Community zu
übergeben, womit auch die Figur des Analytikers erforschbar werde,
da »die Nahtstelle zwischen dialogischer Tätigkeit und
monologischer Verarbeitung« (S. 29) so besser zu begreifen sei.
Ebenso unterstreicht Joachim Küchenhoff die Wichtigkeit des
Analytikers im Therapiegeschehen. Darüber hinaus fordert auch er
einen konstruktiven Austausch zwischen Theorie und Praxis, wobei er
in Bezug auf den Wandel psychoanalytischer Therapiekonzepte vor
allem betont, dass der vorhandene Pluralismus der
Behandlungsmöglichkeiten nicht zu einem »spontaneistischen
Selbstbedienungsladen« (S. 102) werden dürfe. Vielmehr solle dieser
Behandlungspluralismus konstruktiv genutzt werden, indem er
erlaube, eine »Technik begründet und reflektiert einzusetzen« (S.
102). Dabei ginge es darum, jeweils diejenige Technik auszuwählen,
die die therapeutische Beziehungsarbeit am besten unterstütze.
Damit sei das therapeutische Grundanliegen nicht nur dynamisch zu
verstehen, sondern auch dynamisch umzusetzen. Dass der
Beziehungsaspekt im Zentrum der psychoanalytischen Praxis steht,
unterstreicht auch David E. Orlinsky (1) mit einer kursorischen
Präsentation von Resultaten aus der Prozess-Ergebnis-Forschung, die
unter anderem aufzeige, dass die therapeutische Allianz für den
Therapieerfolg ausschlaggebend sei.
In der Form von kurzen Heldensagen mit Anfang, Mitte, Schluss und
Fabula docet wendet sich Peter Fonagy dem
Wissenschaftlichkeitsanspruch der Psychoanalyse zu (2). Bereits
1952 behauptete Hans Eysenck, dass Psychotherapie an sich nicht
wirksamer sei als die natürlichen Selbstheilungskräfte des
Menschen. Die darauf folgenden Forschungen zur Effizienz der
Psychotherapie habe bei etwa 1.000 Studien immerhin eine
Effektstärke (ES) von 0.8 ergeben. Dies scheint kein schlechtes
Ergebnis zu sein, denn ES von 0.6 bis 0.9 gelten in der
evidenzbasierten Forschung als mittelstark, womit es »drei Viertel
der Behandelten besser geht als den Unbehandelten aus der
Kontrollgruppe« (S. 35). Jedoch weist Fonagy auch auf die
Mehrdeutigkeit von solch empirischen Ergebnissen hin, da ein
mittlerer Effekt auf eine große Untersuchungsgruppe dieselbe
Effizienz im empirischen Ergebnis hervorbringt wie ein großer
Effekt auf eine kleine Gruppe. So lautet Fonagys Fazit bezüglich
der psychodynamischen Langzeittherapie, die nach wie vor als »der
Heilige Gral der psychoanalytischen Kliniker« (S. 49) gehandelt
werde, dass noch mehr Studien mit breiterer Ergebnismessung
vonnöten seien.
Marianne Leuzinger-Bohleber vertritt den Standpunkt, dass die
Psychoanalyse nicht versuchen solle, sich an eine
»naturwissenschaftlich geprägte[] Einheitswissenschaft« (S. 116)
anzugleichen. Vielmehr solle als gemeinsame Basis innerhalb der
psychoanalytischen Vielfalt eine »analytische, forschende
Grundhaltung« (S. 119) eingenommen und entsprechend nutzbar gemacht
werden. Anhand der LAC-Depressionsstudie führt sie aus, wie sich
klinische und extraklinische Forschung miteinander verbinden
können, um die Psychoanalyse nicht nur in der Welt der
Psychotherapien zu vertreten, sondern auch um die professionelle
Behandlungskunst weiterzuentwickeln. So werden in besagter Studie
wöchentlich klinische Konferenzen abgehalten, in denen die
Behandlungen besprochen und diese Besprechungen systematisch
dokumentiert werden. Die daraus resultierenden narrativen
Fallberichte werden zum Gegenstand extraklinischer Untersuchungen,
die in einem intergenerationellen Netz stattfinden, in dem sowohl
jüngere als auch bereits etablierte ForscherInnen unter der
reflektierten Verwendung von schulenunabhängigen wie auch
-spezifischen Messinstrumenten das ihrige zum Projekt beitragen
(3).
Den zweiten Teil des Bandes eröffnet Gerhard Roth mit einem Blick
auf das Verhältnis zwischen Psychoanalyse und Hirnforschung. Was
hier vorliege sei vor allem ein Spannungsverhältnis, das von
Vorwüfen unwissenschaftlichen Denkens auf der einen, sowie
Vorwürfen reduktionistischen Denkens auf der anderen Seite getragen
werde. Nichtsdestoweniger betont Roth die Nähe der beiden Bereiche,
indem nämlich psychische Zustände sehr wohl auf einem
neurobiologischen Fundament fußen. Zudem könne die
neurowissenschaftliche Forschung dazu beitragen, die Effizienz der
therapeutischen Praxis sichtbar zu machen, was derzeit in der 2007
begonnenen Hanse-Neuro-Psychoanalyse-Studie (HNPS) geschieht: so
zeigten fMRI-Daten4 eine Reduktion neurologischer Übererregung,
wenn die Teilnehmenden nach 7 bis 10 Monaten Psychotherapie mit
psychodynamisch hergeleiteten Kernkonfliktsätzen konfrontiert
werden.
Während Michael B. Buchholz noch einmal betont, dass die
psychoanalytische Praxis (verstanden als Profession) die
Wissenschaft (verstanden als Bereich des Akademischen) in ihrer
Nachbarschaft braucht, stellt Christoph Türcke in seinem Beitrag
eine Verbindung her zwischen dem Freudʼschen Prinzip des
traumatischen Wiederholungszwangs und der Entstehung von Kultur.
Denn Kultur habe mit rituellen Gemeinschaftsakten begonnen: »Weil
man den Schrecken nicht aushalten konnte, war er wiederholt worden,
und die Wiederholung gerann dabei allmählich zu fester ritueller
Form« (S. 222). Abgerundet wird dieser zweite Teil von einer
Exkursion in die Kunstwissenschaft, wenn nämlich Hartmut Kraft mit
einer Analyse von Carl Friedrich Lessings Gemälde Klosterhof im
Schnee (1829) den Kunstgenuss zum Thema macht. In Analogie zu den
zwei Schritten des Kunstgenusses, der mit einer subjektiven
Wahrnehmung (primärer Kunstgenuss) beginne, um dann in eine reifere
Objektbeziehung (sekundärer Kunstgenuss) zu treten, sei nämlich
auch die Psychoanalyse zuerst eine Wahrnehmungs- und dann eine
Deutungskunst.
Sowohl der Beitrag von Johann August Schülein als auch derjenige
von Jürgen Körner, die zusammen den dritten Teil des Bandes bilden,
schätzen in ihrem Rückblick auf die vergangenen 60 Jahre
Psychoanalyse in Deutschland die Tätigkeit der DGPT als erfolgreich
ein. Zum einen sei »in institutionstheoretischer Perspektive [...]
der Schritt von der Dogmatik zur Multiparadigmatik ein Zeichen von
Reifung« (Schülein, S. 269), da er auf ein erhöhtes Maß an interner
Differenzierung und Integrationsfähigkeit verweise. Zum anderen
habe sich die DGPT als Dachgesellschaft auch immer wieder der
schwierigen Aufgabe gestellt, zu vermitteln zwischen der
psychoanalytischen Idee und der sozialen Realität, die aus einem
wertrationalen Beruf einen ins Krankenkassensystem eingebundenen
zweckrationalen Beruf gemacht hat (Körner).
Insgesamt lässt sich festhalten, dass der vorliegende Sammelband
einen Überblick über die Entwicklungen der Psychoanalyse in den
vergangenen Jahren sowie entsprechende Ausblicke auf deren Zukunft
liefert, der substanziell ist, ohne sich in Detailverästelungen zu
verlieren. Wünschenswert wäre ein Einbezug von noch weniger
etablierten AutorInnen gewesen, deren Perspektiven eine vermutlich
interessante Ergänzung zu den vorliegenden Beiträgen dargestellt
hätte. Auch in der vorliegenden Version des Sammelbandes jedoch
spiegelt die Vielfalt der Aufsätze genau denjenigen Pluralismus –
innerhalb wie außerhalb der Psychoanalyse – wider, der als sein
übergreifendes Thema fungierte. Folglich muss den HerausgeberInnen
zugestimmt werden, wenn sie die Tagung selbst bezeichnen als
»Einlösung des Postulats, unter das sie gestellt worden war« (S.
9).
Alexandra Campana
1 Der englische Originalbeitrag ist in einer deutschen Übersetzung
von Thomas Atzert (Offenbach am Main) abgedruckt.
2 Der englische Originalbeitrag ist in einer deutschen Übersetzung
von Elisabeth Vorspohl (Frankfurt am Main) abgedruckt.
3 Die LAC-Depressionsstudie ist zum Zeitpunkt der Publikation des
Bandes noch nicht abgeschlossen. (LAC = Langzeittherapie bei
chronischen Depressionen).
4 Die Abkürzung fMRI steht für englisch: functional magnetic
resonance imaging (funktionelle Magnetresonanztomographie).