Rezension zu Lektüren eines Psychoanalytikers

Psychologie heute März 2014 41. Jahrgang Heft 3

Rezension von Gerhard Bliersbach

Patient oder Kollege?
Tilmann Moser untersucht Romane auf ihren tiefenpsychologischen Gehalt

Psychoanalytische Lektüren literarischer Texte haben eine lange, inzwischen umstrittene Tradition. Caroline Neubaur hat das methodische Problem psychoanalytisch orientierter Kunstbetrachtung (das auch für den Film oder die Literatur gilt) im Jahr 2002 in einem Aufsatz in der Zeitschrift Merkur auf die Formel gebracht: Hat das jeweilige Kunstwerk den Status eines Kollegen oder eines Patienten? Lange Zeit wurde der Patient oder die Patientin fokussiert.

Sigmund Freud versuchte 1928 mit seiner Arbeit »Dostojewski und die Vatertötung« die neurotische Persönlichkeit des russischen Autors zu beschreiben. Inzwischen wird der kollegiale Status bevorzugt. Tilmann Moser betont deshalb in seiner Arbeit: »Wie üblich ziehe ich keine Rückschlüsse auf die Persönlichkeitsmerkmale der Autoren, sondern betone meinen Respekt vor der unglaublich einfühlsamen Sensibilität, mit der sie ihre Helden charakterisiert haben.« Moser schließt in seine Lektüre die Texte »Warten auf Godot« von Samuel Beckett, »Ein Regenschirm für diesen Tag« und »Das Glück in glücksfernen Zeiten« von Wilhelm Genazino, »Die Klavierspielerin« von Elfriede Jelinek, »Feuchtgebiete« und »Schoßgebete« von Charlotte Roche, »Empörung« von Philip Roth sowie »Der wiedergefundene Freund« von Fred Uhlmar ein.

Die Auswahl der aus den vergangener sechs Jahrzehnten stammenden Arbeiten – Becketts Theaterstück wurde 1952 publiziert, Charlotte Roches Text »Schoßgebete« stammt aus dem Jahr 2011 – begründet Tilmann Moser mit seinem psychotherapeutischen Interesse: Abgesehen von Samuel Becketts Theaterarbeit und Fred Uhlmans Erzählung hätten die von ihm präsentierten Prosaarbeiten zu seiner klinischen Kompetenz beigetragen. »Deshalb scheue ich mich nicht zu sagen«, schreibt Moser, »in den letzten Jahren habe ich durch die Lektüre ausgewählter Romane mehr über die Nöte meiner Patienten gelernt als durch wissenschaftliche Abhandlungen über ›frühe Störungen‹.«

Moser liest die Prosatexte gewissermaßen gegen den Strich auf die katastrophalen Lebensgeschichten der Protagonisten durch – fast alle von ihnen, bilanziert er, »haben Traumatisierungen in frühester Kindheit erfahren« – und läuft Gefahr, aus ihnen drastische Fallgeschichten zu machen und den Reiz des literarischen Textes (seine Form, seine Bewegungen, seine Sprache, seine Rhythmen) aus dem Blick zu verlieren. Das Kunstwerk mit seiner geglückten Gestalt – wofür Elfriede Jelinek mit ihrer sarkastischen, enorm komponierten Sprache ein sehr prägnantes Beispiel ist – spricht von der tröstlichen kreativen Kraft der Autorin und des Autors. Andererseits helfen Tilmann Mosers psychoanalytische Lektüren, einen Zugang zu den schwierigen Verfassungen der Theater- und Romanfiguren zu finden.

Gerhard Bliersbach

Tilmann Moser: Lektüren eines Psychoanalytikers. Romane als Krankengeschichten. Psychosozial, Gießen 2013, 133 S. € 14,90

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