Rezension zu Jugend heute
a+b Für Arbeit und Besinnung. Zeitschrift der Evangelischen Landeskirche in Württemberg
Rezension von Dr. Thomas Ebinger
Sabine Trautmann-Voigt, Bernd Voigt (Hrsg.),
Jugend heute. Zwischen Leistungsdruck und virtueller Freiheit
Sammelbände sind manchmal ein Graus: Oft werden Texte
untergebracht, für die sich als Monographie niemand interessieren
würde, abseitige Themen und Fragestellungen. Dieser hingegen ist
ein Genuss. Obwohl ich zum Thema Jugend schon vieles gelesen habe,
waren mir zahlreiche Fakten und Perspektiven neu. Vermutlich liegt
es daran, dass die meisten Texte aus Vorträgen entstanden sind, die
beim 12. Bonner Symposium zur Psychotherapie vor Fachpublikum
gehalten wurden. Damals lautete der Untertitel noch etwas griffiger
»›Jugend heute‹ im Spagat zwischen Web 2.0. und Abi 1.0«.
Der Blick der Fachleute mit psychologischem oder
sozialwissenschaftlichem Hintergrund auf heutige Jugendliche
ergänzt und vertieft das Bild, das Jugendstudien meist aus Sicht
der Jugendlichen zeichnen. Heiner Keupp beschreibt anschaulich die
Normalitätskrise unserer spätmodernen Gesellschaft, in der gar
nicht mehr klar ist, was als normales Erwachsensein zu gelten hat.
Ein extremer Wertewandel von der Maxime Selbst-Kontrolle über
Selbst-Verwirklichung hin zum neuen Leitbild Selbst-Management hat
stattgefunden und stellt Jugendliche wie Erwachsene vor große
Herausforderungen (S. 27–29). Entsprechend wollen Jugendliche, wie
Jürgen Junglas darstellt, heute mehr Partizipation als früher und
haben auch rechtmäßigen Anspruch darauf. So gilt zwischen Eltern
und Kindern eine wechselseitige Beistands- und Rücksichtspflicht
(BGB §1619). In Fragen der Erziehung sollen Eltern die wachsenden
Fähigkeiten ihrer Kinder zu selbstständigem verantwortungsbewusstem
Handeln berücksichtigen und bei Fragen der elterlichen Sorge nach
einer Besprechung mit ihrem Kind Einvernehmen anstreben (BGB §1626
Abs. 2).
Klaus Fröhlich-Gildhoff stellt vor, wie sich die Resilienz von
Jugendlichen stärken lässt, also die psychische
Widerstandsfähigkeit gegenüber starken Entwicklungsrisiken und
psychischen Belastungen. Das Vorhandensein stabiler und
wertschätzender Beziehungen zeigt sich hier als stärkster
Schutzfaktor, auch das Erfahren von Sinn und das Wissen um die
Bedeutung der eigenen Existenz im Rahmen eines persönlichen
Glaubens trägt zur Resilienz bei (S. 64f).
Erfreulich nüchtern und wenig alarmierend sind die Beiträge zur
Mediennutzung Jugendlicher und zu sozialen Netzwerken. Statt eine
drohende digitale Demenz heraufzubeschwören wird nüchtern abgewogen
und es werden auch die Chancen beschrieben, die das Internet
bietet. Unter fachkundiger psychotherapeutischer Anleitung kann man
durchaus auch online wertvolle positive Rückmeldung erhalten und
lernen, aus virtuellen Freundschaften echte Freundschaften zu
machen (S. 116f). Facebook-Fans werden Sätze wie diesen gern lesen,
der sich gegen die Pathologisierung intensiver Internetnutzung
wendet: »Insbesondere ist dabei noch zu berücksichtigen, dass die
Hauptnutzung des Internets durch Jugendliche insbesondere in der
Pflege sozialer Kontakte (via sozialer Online-Netzwerke) besteht,
und kontaktbezogenes soziales Verhalten als ›Sucht‹ zu bezeichnen
erscheint wenig sinnvoll.» (S.115)
Gut gefallen hat mir auch die übersichtliche Darstellung der
Theorie psychischer Grundbedürfnisse im Jugendalter durch Michael
Borg-Laufs als da wären: Bindung, Orientierung/Kontrolle,
Selbstwertschutz/Selbstwerterhöhung sowie
Lustgewinn/Unlustvermeidung. Wenn es gelingen würde, in unserer
Arbeit mit Jugendlichen diese vier zu berücksichtigen, wäre viel
gewonnen! Auch die Erfahrungen der Psychotherapeutin Silke Birgitta
Gahleitner im Umgang mit schwer erreichbaren, traumatisierten
Jugendlichen sind anregend und ermutigen, Kontakt zu
professioneller psychotherapeutischer Hilfe aufzunehmen und zu
vermitteln, wo nötig.
Fazit: Ein Sammelband, den man gerne liest und guten Gewissens
seiner Buchsammlung einverleiben kann.
Dr. Thomas Ebinger, Stuttgart