Rezension zu Was ist Selbstregulation?
Psychotherapie Forum 1/2006
Rezension von Christiane Geiser Juchli
»Es ist ein buntes Buch geworden«, schreibt P. Geißler in seiner
Einleitung. Tatsächlich, in einer ersten Annäherung stehen da,
scheinbar unverbunden, Beiträge zur Säuglingsforschung, zum Trauma,
zur Psychoanalyse, zum Traum, Aufsätze über Homöopathie und Wilhelm
Reich und eine Filminterpretation nebeneinander. Allen gemeinsam
ist, mit ganz unterschiedlichen Zugangsweisen, die Beschäftigung
mit dem Phänomen der Selbstregulation.
Eine »Standortbestimmung« nennt P. Geißler seinen Sammelband, und,
anders als bei seinem vorangehenden Buch über Regression, wollte er
keine Monographie schreiben, sondern hat das Nachdenken über
Selbstregulation an einige seiner Kolleg(inn)en aus
psychoanalytischen, humanistischen und körperpsychotherapeutischen
Therapieverfahren weitergegeben und setzt sich selber auch mit
einer Reihe von Aufsätzen mit diesem für ihn wieder neu interessant
gewordenen Thema auseinander. Manchmal klingt er selber überrascht,
was dabei alles an Assoziationen herausgekommen ist in dieser
Palette, die er bewusst methodenvergleichend angelegt hat, und er
überlässt es seinen Leserinnen und Lesern, den roten Faden zu
finden und aus den Puzzlestücken etwas Zusammenhängendes zu
formen.
Gelingt mir das als Leserin? Wie, so kann ich mich fragen,
reguliere ich mich selber beim Lesen?
Interessanterweise passiert das, zeitlich verschoben, auf zwei
Arten: zum einen werde ich zuerst ganz trennscharf und pingelig.
Ich höre mich innerlich sagen: Also das kann man jetzt wirklich
nicht vergleichen, in Beziehung setzen, in Einklang bringen, das
sind doch gänzlich unterschiedliche Menschenbilder, Sprachformen,
Annahmen, Theoriehintergründe. Oder: Was hat denn jetzt dieser oder
jener Aufsatz in diesem Buch zu suchen? Beim zweiten Lesen dann
werde ich großzügiger, mein Blickwinkel wird weiter, die kritischen
Stimmen werden leiser, die Fäden beginnen sich tatsächlich zu
verknüpfen und Gestalten sich zu formen – so wie der Herausgeber es
in der Einleitung erhofft.
Der Begriff »Selbstregulation« kommt in sehr unterschiedlichen
Kontexten vor: in der Biologie, Ökonomie und Ökologie, in der
Entwicklungspsychologie, in der Systemtheorie. Bei genauerem
Hinschauen taucht er auch in den Menschenbild- und
Hintergrundvorstellungen der meisten Therapierichtungen auf. Er
changiert zwischen den beiden ihm zugeschriebenen Bedeutungen: der
Behauptung »ich kann das selbst«, also der Fähigkeit, eigene
Spannungs- und Affektzustände trotz Umwelteinflüssen selber
regulieren, die innere Homöostase aufrechterhalten zu können, und
dem Gedanken »das reguliert sich dann schon (von) selber«, einer
Art Überzeugung oder Glaubensannahme über die Natur lebendiger
Systeme und Organismen, die sich immer wieder selber organisieren
und weiterentwickeln.
Die Vielfalt der Sprach- und Denkfiguren in den einzelnen Beiträgen
reicht von der zu unterstützenden »Aktualisierungstendenz« im
Individuum über die »Kreditierung«, also eine Entwicklungsförderung
durch zeitweilige unterstützende »Fremdregulation«, bis hin zu
einer gegenseitigen Regulierung, an der alle Beteiligten ihren
Anteil haben.
Es hat mich beim Lesen fasziniert, wie deutlich sich die meisten
Beiträge von der lange vorherrschenden »Ein-Personen-Psychologie«
entfernt haben: die wechselseitige Beeinflussung und Regulierung,
wie sie die Säuglingsforscher so deutlich beschrieben und erforscht
haben, steht auch bei der Betrachtung der Beziehung zwischen
Klientin und Therapeutin im Vordergrund. Das Interesse verschiebt
sich zunehmend von der Erforschung innerer Zustände und Prozesse im
Individuum oder einzelner Anteile in ihm hin zu relationalen
Gesichtspunkten: zur Beziehung, zur Intersubjektivität, zur
Neuorganisation im Feld, zum »Zwischen«, zum »moment of now« in der
Interaktion, zur Ko-Konstruktion.
Das lässt dann auch die lange unangefochten gebliebene Idee der
Autonomie und Eigenkontrolle des Individuums als höchstes
Entwicklungsziel als nur eine der möglichen Sichtweisen erscheinen.
Mindestens ebenso wichtig sind Bezogenheit, Verbundenheit,
Beziehungsfähigkeit.
Diese Verschiebung des Blickwinkels, wie und wohin sich denn eine
Person in der Therapie verändern soll und wie wir sie dabei
begleiten können, hat dann natürlich eine hohe therapeutische
Relevanz. Praxisbeispiele finden sich dazu in den Beiträgen des
Buches aus unterschiedlichen Perspektiven. Mir fällt dazu der Satz
von Carl Rogers ein: »Die erste Bedingung zum Zuhören ist Mut« –
weil wir als Begleitende in einem auf Wechselseitigkeit beruhenden
Kontakt mitverändert und nicht dieselben bleiben werden.
Wir finden darüber hinaus einiges an Anregung, wie Wissen über
diese Prozessverläufe dazu verhelfen kann, blockierte, fixierte,
unterbrochene oder nicht vollendete Selbstregulierungsverläufe in
der therapeutischen Beziehung weiterzuführen, Muster zu
de-automatisieren und so wieder Wahlmöglichkeiten zu schaffen. Was
das über traumatische Erlebensformen und ihre Wieder-Regulierung
aussagen kann, ist im kritischen und fundierten Artikel von P.
Geißler zu lesen.
Als personzentrierte Körperpsychotherapeutin habe ich mit Freude
gelesen, dass die Einbeziehung des Körpers jetzt auch in der
psychoanalytischen Therapie und Praxis offenbar
selbstverständlicher geworden ist. Auf unterschiedlichste Weise
werden die Erkenntnisse der Säuglingsforschung und der
Neurowissenschaften in Nachdenken über Spüren, Wahrnehmen,
Berühren, Sichausdrücken umgesetzt. Es fallen Begriffe wie »basale
Bewusstheit«, »implizites Wissen«, »vorsprachliche Begegnung«,
»ganzer Organismus« – die Zeit der voneinander getrennten und
gegeneinander ins Feld geführten Teileinheiten (hier Geist, dort
Körper; hier Gespräch, dort Berührung) ist vielleicht tatsächlich
vorbei? Eventuell kann mit der Zeit sogar der Begriff des Selbst,
der immer wieder Gefahr läuft, der Reifizierung anheim zu fallen,
relationaler verstanden werden?
Peter Geißler, bekannt als mutiger und unkonventioneller
Theoretiker und Praktiker, der sich selber seit langem für die
Einbeziehung des Körpers in die Psychoanalyse einsetzt, findet im
Epilog des Buches zum Thema »Die Selbstregulation des
Psycho-Marktes« deutliche Worte: Der ständig wachsenden Zahl an
Möglichkeiten, menschliches Erleben zu verstehen, entspreche eine
Vielfalt an therapeutischen Verfahren und Modellen, keine
Einheitstherapie. Um Dialog gehe es in der heutigen Landschaft, um
die Bewahrung von Komplexität und um gleichzeitige
Komplexitätsreduktion beim Vermitteln der Inhalte, um Zugehörigkeit
zu einem Ansatz, aber nachher um offenen Austausch, um eine sich
öffnende Diskussionskultur und nicht um Schulenhermeneutik. Die
»alten Hasen« würden ja, so meint er augenzwinkernd, als Zeichen
menschlicher Reife heute auch manchmal auf Positionen verzichten,
die sie früher als unantastbar eingeschätzt hätten. Und
tatsächlich: einige Beispiele davon finden sich in diesem
Sammelband, und es ist durchaus vorstellbar, sich die Schreibenden
vorzustellen auf einem gemeinsamen Panel sitzend, die Stühle
einander zugekehrt und dann mit einem Dialog beginnend – eine nicht
alltägliche Vorstellung innerhalb unserer Zunft. Und so können wir
vielleicht mit dem Herausgeber getrost der Selbstregulierung
unseres Fachgebiets entgegensehen im Vertrauen darauf, dass
Dialogbereitschaft und Qualität sich durchsetzen.