Rezension zu Masochismus - Die Lust an der Last? (PDF-E-Book)

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Rezension von David Gall

Selbstsabotage: Kann Last Lust sein? Und Lust Last?

Wer Theorielastigkeit und Umfang vieler psychotherapeutischer Deutungen und Diskussionen im Allgemeinen und in der Psychoanalyse im Besonderen kennt, wird vom folgenden Buch angenehm überrascht sein…

Schon sprachlich ist der Masochismus mehrdeutig und schwer einzuordnen. Unter diesen Umständen präzis und knapp zu bleiben, ist sicher nicht einfach. Umso erfreulicher die Verbindlichkeit, mit der hier Missverständnisse aufgezeigt und geklärt werden und das Phänomen trotz aller Vielgestaltigkeit mit einer überschaubaren Auswahl an Ursachen und Folgen gekoppelt wird.

Man könnte schon fast von Erdung reden, wenn man Steinbachs Strukturiertheit mit der vagen Weitschweifigkeit vieler anderer Werke zum Thema vergleicht. Dem verwirrenden Facettenreichtum begegnet sie mit Klassifikationen in Gruppen und Untergruppen. Defizite eigener Untersuchungen – mit leider sehr geringer Fallzahl – werden nicht verschwiegen, dadurch wird der Aufruf zur weiteren Erforschung umso glaubwürdiger.

Zu solchem Pragmatismus war sicher ein weiter Blick über die Psychologie hinaus notwendig. Den scheint die Autorin zu haben, die ansonsten noch BWL studiert hat und sich mit Profanem wie Marketing und Unternehmensberatung befasst.

Kurzum: Mit dem »Rätsel des Masochismus« (L. Wurmser) wird hier mutig und relativ unbefangen umgegangen.

Cora C. Steinbach beginnt ihr Buch nicht mit sexuellen Ausschweifungen und SM Fantasien, sondern verweist erst einmal auf den Alltagsmasochismus. Dann kommen die Erklärungsansätze, alles erscheint irgendwie verständlich, und dann, »erst heiss, dann Schnee, auf einmal tut es weh«(3), kommt auch die sexuelle Komponente zur Sprache, aber eben eingebettet in Ursache, Wirkung, Erinnern, Suchen, Verstehen, Integrieren, Bereichern.

Der hier beschriebene Alltagsmasochismus wird zwar seltener so klar benannt, ist den meisten Menschen dafür aber umso bekannter. Fast synomym kommt der Begriff der Selbstsabotage vor: Menschen, die sechs Jahre lang studieren und dann zur Prüfung zu spät kommen. Die, wenn sie einmal ausgehen, sich im Ballhaus mit einem schlechten Gewissen fragen, wie elend sich nun alle anderen fühlen und welche Trümmerlandschaft sie erwarten könnte, beim »Heimkommen«.

Wer den Unterschied nicht kennt, könnte auch von Pessimismus reden, oder von Depression, von Hysterie oder Zwanghaftigkeit, Angststörungen, Paranoia, Borderline … doch das trifft es nicht. Es ist eine andere Polarität, es sind andere Gründe und andere Wirkungen, wobei natürlich das eine nie das andere ausschließt. Bunte Welt eben.

Auch mit dem in Fachkreisen nicht seltenen Vorurteil, dass Selbst- und Fremdverletzung im Rahmen sexueller Ausschweifung nur als Teil einer Borderlinestörung auftaucht, wird aufgeräumt.

Auch Optimisten und Pessimisten, Gesunde und Kranke, Maniker und Depressive, Arme und Reiche, bewegen sich und die Welt. Und der Mensch bewegt sich in den Polaritäten. Und eine Polarität stellen eben auch Sadismus und Masochismus. Bei Freud waren sie eine zeitlang sogar Teil der Urgewalt des angenommenen Todestriebs (Thanatos).

Es wäre fast schon eine eigene Arbeit wert, um der Frage nachzugehen, weshalb dieser Begriff überhaupt so lange so rätselhaft und mysteriös, beängstigend, beunruhigend und schandhaft blieb, trotz aller Alltäglichkeit und obwohl die Begriffe schon seit ihrer Schöpfung am Ende des 19. Jahrhunderts für beständige Verwirrung sorgen. So sah schon Sigmund Freud in Sadismus und Masochismus eine Polarität mit fließenden Übergängen, die die Entwicklung des Individuums und damit der Menschheit und des Weltgeschehens entscheidend mitbestimmt.

Von Perls und Goodman wird 1951 (Gestalttherapie) der Begriff »Sado-Masochsismus« benutzt um die Folge einer Fixierung auf Unterdrückung von Aggression zu bezeichnen. Es ist keine sexuelle Spielart gemeint.*

Iwan Bloch (1872 – 1927), der fast vergessene Begründer der Sexualwissenschaft, widmete dem Thema weiten Raum, und verknüpfte es grundsätzlich mit der Geschlechterfrage. Er ging von einer naturgegebenen Veranlagung zum Masochismus der Männer aus, da Männer Frauen psychisch und letztendlich auch physisch, in Anbetracht z.B. der Bewältigung einer Geburt, der um Jahre höheren Lebenserwartung etc., unterlegen seien. Frauen seien robuster, gesünder und da weniger triebhaft, auch »klüger«. Je stärker der sexuelle Trieb, um so stärker die Tendenz des Mannes zur Hörigkeit bzw. masochistischen Abhängigkeit.

Die erste sexuelle Revolution
In den 1920er Jahren pulsierte die wissenschaftliche Erforschung und Deutung in allen Bereichen des psychischen Erlebens. An einer sexuellen Befreiung und der Begründung der Lust arbeiteten viele. Wilhelm Reich sah im »primären Masochismus« den Willen und die Bereitschaft zur politischen Veränderung. Auch Magnus Hirschfeld, Fritz Perls, Max Hodann u.a. versuchten die Vielschichtigkeit der Sexualität zu verstehen und als Teil menschlicher Erfahrungsmöglichkeiten zu beschreiben und so aus dem Ruch des Kranken und Verdorbenen, des Niedrigen und Dekadenten herauszuholen, in den die Tradition des deutsch-christlichen Medizinverständnisses sie gebracht hatte, so z.B. im Sinne der »Psychopathologia sexualis« von Richard von Krafft-Ebing (1886).

Der National-Sozialismus beendete diese Strebungen nach Freiheit und Aufklärung. Die meisten Wissenschaftler flohen, viele wurden ermordet. Manche brachten sich selbst um.
Die deutsche Medizin widmete sich inzwischen der Selektion und Ermordung von Kranken, Entarteten und rassisch-minderwertigen Gesunden. So z.B. auch der nach Freud meistgelesene Seelenkundler deutscher Sprache, Prof. J.-H. Schultz, Erfinder des autogenen Trainings, der sich in der SS u.a. bei der Selektion Homosexueller verdient machte.

Doch zurück zum eigentlichen Thema und C. Steinbachs Buch, das übrigens auf ihrer Doktorarbeit 2011 aufbaut.

Im Umschlagtext steht: »Um ein erfolgreiches Leben zu führen, gilt es, einen liebevollen Umgang mit sich selbst zu pflegen, befriedigende Beziehungen gestalten zu können und seine Fähigkeiten in förderliche Taten umzusetzen. Doch statt selbstdienlichem und selbstwertdienlichem Denken und Handeln dominiert häufig ein negativer innerer Dialog, der nicht selten in selbstsabotierende Handlungen mündet – sei es im Hinblick auf die Gesundheit, die Partnerwahl oder den Beruf.«

Gemeint sind also auch Entscheidungen die man trifft, obwohl man den Schmerz, den sie bringen werden, schon ahnt, und obwohl es Alternativen geben könnte. Auch das Verhalten, das man in Beziehungen entwickelt, ist bestimmt von frühen Erfahrungen und sicher auch der Art, in der man lernte, diese Erfahrungen zu deuten, damit umzugehen und ein eigenes Leben aufzubauen.

Die Erfahrungen, die Cora Steinbach meint, sind frühkindliche Traumatisierungen. Die folgenschwerste und therapeutisch am schwersten zu erreichende Form ist z.B. die Vernachlässigung, die dem Kind seine Wert- und Hilflosigkeit erfahren lässt und ihm seine (einseitige) Abhängigkeit deutlich macht.

Dass traumatische Erlebnisse in der frühen, womöglich präverbalen Lebensphase mit Sucht, sexueller Ausschweifung und allgemein riskantem und sozial nicht akzeptiertem Verhalten einhergehen, ist hinreichend bekannt. Die oft erwähnte Delinquenz liegt statistisch allerdings hauptsächlich an den Bedingungen in die das Betäubungsmittelgesetz die Betroffenen zwingt. Diese Bedingungen bieten zudem reichlich Spielraum für weitere Traumatisierungen unterschiedlicher Genese.

Die Lektüre bestärkte die Ansicht, dass sowohl Sucht, und in diesem Zusammenhang geht es in erster Linie um die Opiatsucht, als auch die sogenannte sexuelle Devianz oder gar Perversion im angesprochenen Sinne, nicht krankhaft sind, sondern viel eher gesunde, wenn auch verzweifelte (und oft auch erfolgreiche) Versuche sind, einen unerträglichen Schmerz zu betäuben um überhaupt erst ins eigene Leben zu finden und mit Hilfe sexueller Reinszenierung an Gefühle anzuknüpfen, die in der Nähe des traumatischen Erlebens liegen. Es scheint für viele Betroffene notwendig, bewusst oder unbewusst, diese zu berühren, um schließlich sich selbst zu verstehen und annehmen zu können. Es scheint plausibel, anzunehmen, dass das Bedürfnis nach Reinszenierung um so stärker ist, je weniger eigene Erinnerung vorliegt. Dass dabei gerade ein sexueller Rahmen gewählt wird, liegt wohl an der Nähe zu archaischen tiefen Schichten und daran, dass viele Ängste vor Verloren- und Verlassenheit nur im Zustand sexueller Erregung so intensiv wahrgenommen, erkannt und integriert werden können. Die Hoffnung mag sein irgendwann auch die Liebe spüren und annehmen zu können, die andere diesem Menschen evtl. entgegenbringen.

Gefährlich und traurig und von großer gesellschaftspolitischer Bedeutung ist die Tatsache, dass die meisten Kinder traumatisierter Eltern selbst traumatisiert sind. Sie haben eine Realität als normal erlebt, in der ihnen selbstsabotierendes und oft auch selbstzerstörerisches Handeln vorgelebt wurde. Oft werden Aufgaben an die Kinder delegiert die diese unmöglich bewältigen können, wodurch Gefühle wie Unvermögen, Ohnmacht, Hilflosigkeit um sich greifen, ebenso Selbstzweifel.

Auch hier gilt es Wege zu finden, das Erlebte zu Erinnern, zu Ordnen, als eigenes Erleben anzunehmen und die empfundenen Gefühle zu integrieren, vielleicht sogar im Sinne einer Bereicherung durch eine enorme Spannbreite in einem ausgedehnten Erlebnisrahmen. Somit als Stärke und nicht als Schwäche und damit als Quell der Sicherheit in der Unsicherheit.

Prof. Dr. Wolfgang Mertens, Mentor der vorliegenden Arbeit wünscht dem Buch einen großen Leserkreis, es biete sowohl für Fachleute als auch für Laien sehr aufschlussreiche und zum Weiterdenken anregende Inhalte. Damit hat er Recht. Trotzdem ist das Buch der Fachwelt besonders nachdrücklich zu empfehlen, da viele Therapeuten schon Schwierigkeiten haben auf Themen im norminativ sexuellen Bereich unbefangen einzugehen, vom erweiterten Bereich ganz zu schweigen. Dies gilt übrigens für Psychotherapeuten aller Couleur, egal ob ärztlich, psychologisch oder heilpraktisch zertifiziert.


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