Rezension zu Scham

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Rezension von David Gall

Bindungstrauma und Schamüberflutung

Es dürfte sich bei der Scham mit an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit um das Gefühl handeln, das die meisten Psychotherapien verhindert hat und viele begonnene Therapien verzögerte oder scheitern ließ. Dass gerade jetzt ein Buch zu diesem Thema in der Reihe »Analyse der Psyche und Psychotherapie« des Psychosozial-Verlags erschienen ist, ist also sehr zu begrüßen …

Dass ein derart zentraler Affekt in der Psychotherapieforschung so vernachlässigt worden sein soll, wie Jens L. Tiedemann behauptet, erscheint beim ersten Gedanken unwahrscheinlich, auf den zweiten Blick hin wird aber klar, dass dieser alles überflutende Affekt eine alles mitreißende Gewalt ausüben kann und zudem ansteckend ist.

»Da Schamgefühle an der Grenze zwischen dem Selbst und dem Anderen angesiedelt sind, sind sie »ansteckend«: Das Teilhaben an einer Schamszene, von der der Patient berichtet, löst automatisch Scham im Therapeuten aus (…) Als Zuschauer an einer beschämenden Szene teilzuhaben oder von ihr zu hören, löst ein Gefühl der Peinlichkeit aus, wie wir aus der neurophysiologischen Forschung über Spiegelneurone wissen (Bauer 2005).«
Scham, J. Tiedemann

Es ist also kein Wunder, dass das Thema gerne diskret umgangen wird, vom Klienten, wie auch vom Therapeuten: »Der Therapeut muss sich selbst innerlich mit der eigenen Scham auseinandersetzen, die die Scham des Patienten in ihm zum Resonieren bringt. Es existiert daher ein unbewusster Wunsch und Drang beim Therapeuten, die Wahrnehmung und Anerkennung der eigenen Scham zu umgehen.« (ebd.)

Tiedemann schreibt in seiner Einleitung man könne behaupten, »dass das ganze System der Psychotherapie nur funktioniert, wenn wir die Scham übersehen, die wir tagein, tagaus in unserer therapeutischen Arbeit ungewollt und vor allem unbewusst sogar hervorbringen. In unserer postfreudianischen Gesellschaft wurde nahezu alles behandelt, außer Scham. Das Ausmaß und die Schwere einer unbehandelten Scham übersteigt bei Weitem alles, was wir uns vorstellen können, wie der Emotionsforscher und Therapeut Donald L. Nathanson (1996) provokativ anmerkt. Scham und häufiger noch Schamangst können spezielle Probleme in der psychotherapeutischen und psychoanalytischen Behandlung (und anderen Lebenssituationen) hervorrufen. Sie können viele Handlungen hemmen und eine Art emotionaler Stagnation hervorbringen, aus der es kein Entkommen zu geben scheint. Weil die Psychotherapie voraussetzt, dass sich Patientinnen und Patienten verbal mit ihren Gefühlen exponieren, ist Scham potenziell ein grundlegender Aspekt unserer therapeutischen Arbeit.«

Dass das Thema »Scham« zur Diskussion angesagt ist, liegt auch an den erstaunlichen Erkenntnisgewinnen, die verwandte Themen hervorgebracht haben, wie Traumatisierung, frühkindliche Störung, präverbale Vernachlässigung.

Trauma und Schamüberflutung
Wenn wir aus klinischen Erfahrungen wissen, dass Schamangst wichtiges Material dem Bewusstsein einfach entzieht, dann können uns heute hochentwickelte bildgebende Verfahren der Hirnforschung ganz genau beschreiben, welche Areale und Schmerzzentren nun besonders geflutet werden. Die Angst vor Beschämung kann so stark sein, dass jedes Vertrauen in andere Menschen unmöglich wird. Stets stehen Verlustängste im Raum. Wer davon überzeugt ist, im Grunde wertlos und nicht liebenswert zu sein, dem erscheint es naheliegend verlassen zu werden, schreibt Tiedemann.

Den intersubjektiven Beziehungsaspekt der Scham beschreibt auch Gershen Kaufman (p.43): »Auf dem Höhepunkt des Schamerlebens gibt es eine ambivalente Sehnsucht nach einer Versöhnung mit dem – wer es auch war – , der uns in die Scham führte. Wir fühlen uns getrennt und verlangen insgeheim danach uns heil, ganz zu fühlen. Das Erleben der Scham fühlt sich wie ein Bruch, entweder im Selbst, in einer bestimmten Beziehung oder in beidem an. Scham ist ein affektives Erleben, das beides verletzt, zwischenmenschliches Vertrauen und innere Sicherheit.«

Im Grunde handelt es sich bei Scham um die emotionale Reaktion auf den Verlust der Abstimmung mit der Bezugsperson. In der Scham wird eine paradoxe Verbindung sichtbar: Einerseits tritt Scham intensiv am wahrscheinlichsten im Kontext bedeutsamer Beziehungen auf, andererseits werden durch die Scham zwischenmenschliche Kontakte behindert.

Regulierung des unbewussten Affekts
Gerade das Konzept der Affektregulierung (Bromberg, Schore) ist in der Lage verschieden Forschungsrichtungen wie die Bindungstheorie, Säuglingsforschung, Emotionspsychologie, Neurowissenschaft und Psychotherapie zu verbinden. Der Grundgedanke ist dabei, dass die Affektregulierung angeboren ist, sie aber bestimmte Bedingungen, wie sichere Bindungserfahrungen und angemessene bzw. kontingente Affektspiegelung, benötigt, um sich ausbilden zu können.

Dabei hängt unsere Fähigkeit, uns in uns selbst wohlzufühlen, uns auf andere Menschen einzulassen, Intimität zu erleben und mit den Belastungen des Alltagslebens fertig zu werden, von einer gelungenen Affektregulierung ab. Die Regulation ist wiederum auf das Engste mit der Mentalisierung verbunden – »nur wenn Gefühle innerhalb handhabbarer Grenzen gehalten werden, kann man beginnen, über sie zu reflektieren« (Holmes 2012, S. 50).

Psychotherapie kann, so Tiedemann, als Mittel zur affektiven Entwicklung beschrieben werden. Sie dient der bewussten Reflexion affektiver Prozesse und hilft dem Patienten seine Affektregulierung auszubauen. Es geht letztendlich um die Fähigkeit ein Selbst zu entwickeln das sowohl flexibel als auch robust ist. (p. 53) Die Fähigkeit zur Affektmodulation hängt eng mit der Fähigkeit zur Mentalisierung zusammen, die wiederum von den frühen Bindungserfahrungen geprägt ist. Therapieziel wäre unter diesem Blickwinkel die Wandlung eines unsicheren Bindungsstils zu einem – wenn auch »erworbenen« – sicheren.

Sind die Beziehungsangebote an das Kind in den ersten Jahren von Liebe, Anerkennung und Wohlwollen bestimmt, tragen sie zur Ausbildung und zum Wachstum von Selbstvertrauen und gesunder Selbstliebe bei. Sind die primären Bezugspersonen eher entwertend, ablehnend und beschämend, übernimmt das sich entwickelnde Kind diese Sicht von sich selbst ins eigene Selbsterleben und denkt und fühlt von sich, was andere von ihm gedacht haben, z.B. dass es unerwünscht sei, nicht wertvoll, lästig, peinlich.

Affektzustände, die wegen fehlender Resonanz der Fürsorgeperson keine Integration erfahren haben, bleiben dabei als dissoziierte Affektzustände erhalten. Es entsteht ein Labyrinth unbewerteter Gefühle, die das Kind nicht verstehen kann. Erst in der Therapie kommt es zur Versprachlichung und Symbolisierung solcher Affektzustände, die zu blinden Flecken in der subjektiven Erfahrung des Kindes geführt haben, eines Kindes, das sich früh auf die Bedürfnisse eines anderen (eben der unerreichbaren, abweisenden und abwertenden Bezugsperson) fokussiert hat.

Eine frühe Beziehungstraumatisierung schlägt sich neurowissenschaftlich ausgedrückt in Defiziten der rechten Hirnhälfte nieder. Nach Alan Schore liegt hier das biologische Substrat des Unbewussten, hier entstehen intensive Affekte, ebenso wie die damit verbundene Abwehr. Traumatisierte erleben aktuellen Stress mit einer Intensität, die in ihre Vergangenheit gehört.

Schores Konzept der »rechtshemisphärischen interaktiven Affektregulation« fordert vom Therapeuten in solchen Fällen sich auf die dysregulierten rechtshemisphärischen »primitiven« Affekte, wie Ekel, Schrecken, Wut, hoffnungslose Verzweiflung – und vor allem Scham zu konzentrieren.

Die Psychodynamik von elterlicher Nicht-Anerkennung der Affekte des Kindes schafft dissoziative mentale Strukturen im Erwachsenen. Infolge des »Bindungstraumas« wird das eigene Bedürfnis nach liebender Anerkennung verlacht und verachtet und so zur Quelle von Scham. Das Bedürfnis wird nun dissoziiert und als fremd erlebt.

Das »Frühe Trauma« lässt sich als eine Störung der Gegenseitigkeit in der Abstimmung zwischen Säugling und primärer Bezugsperson beschreiben, daraus folgen defizitäre Selbstwahrnehmung und instabile Ich-Identität mit porösen Grenzen zwischen Selbst und Objekt und Tendenz zur projektiven Identifikation. Nach Fonagy et al. wird Scham unerträglich, wenn »einem die Menschlichkeit in eben jenem Augenblick, in dem man zu Recht erwartet, anerkannt und für wertvoll erachtet zu werden, abgesprochen wird.«



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