Rezension zu Sexualität (PDF-E-Book)
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Rezension von Markus Chmielorz und Christoph Fleischer
Sexualität leben, denken und fühlen
Rezension von Markus Chmielorz und Christoph Fleischer, Dortmund
und Werl 2014
27. Januar 2014
Ilka Quindeau: Sexualität
Dieses kleine psychologische Fachbuch über Sexualität mag auf
wissenschaftliche Laien zunächst abschreckend wirken. Anstelle
unterschiedliche Phänomene und Lebensweisen sexueller Erfahrung zu
beschreiben, konzentriert sich Ilka Quindeau, Professorin für
klinische Psychologie an der FH in Frankfurt und Lehranalytikerin,
vor allem auf Sigmund Freud und die Psychoanalyse. Diese
Fokussierung zeigt gewiss, dass der offene Umgang mit dem einst
tabuisierten Thema durch Autoren wie Freud grundsätzlich gefördert
wurde. Sexualität ist andererseits für Freud kein eigenständiges
Thema, sondern wird zur psychoanalytischen Leitfrage. Was nun für
den gesellschaftlichen Prozess eine Ausweitung des Diskurses ist,
ist für die Frage nach Sexualität selbst eine Einengung, die aber
von der Autorin bewusst in Kauf genommen wird.
Eine wichtige Beobachtung jedoch sollte man von der Psychologie her
mitnehmen: Psychologie ist Entwicklungspsychologie. Damit beginnt
Sexualität in der Kindheit, ja sogar im Säuglingsalter und nicht
erst mit der biologischen Zeugungsfähigkeit. Die infantile
Sexualität, die hauptsächlich autoerotisch ist, wird beim
Erwachsenen um die gleich- und gegengeschlechtliche Ausprägung
ergänzt. Ilka Quindeau schreibt:
»Die infantile Sexualität ist indes nicht auf das Kindesalter
beschränkt, sondern stellt in ihrem ›polymorph-perversen‹ Charakter
den Grundzug der genitalen Sexualität der Erwachsenen dar. Diese
bildet sich durch die Integration der inneren und äußeren
Genitalien erstmalig in der Adoleszenz und entwickelt sich in der
Lebensspanne im Sinne von erneuten Umschriften weiter.« (S.
8/9)
In anderer Hinsicht wirkt die Konzentration auf Freud und die
Psychonalyse im Blick auf das Buch über Sexualität einengend (was
für die psychologische Praxis so nicht gelten mag), weil Freud die
Sexualität auf die orale, anale und genitale Erfahrung beschränkt
und die gedankliche und sensorische Erfahrung erst im zweiten
Schritt betrachtet und als wichtig ansieht. Schon in der sexuellen
Erfahrung im Kindesalter gehört Liebe und Gewaltfreiheit als
umfassende Lebenserfahrung hinzu, wie es etwa von Alice Miller (»Am
Anfang war Erziehung«) festgestellt wurde. Auch die heutige
Hirnforschung (z. B. Gerald Hüther) hat mit der Betrachtung der
sensorischen Entwicklung darauf hingewiesen, dass die Entwicklung
des Kindes und auch seiner Sexualität von Anreizen und Erlebnissen
der Liebe und Akzeptanz abhängig ist, zum Teil sogar schon
vorgeburtlich. Nun ist ja von dort her die Fragestellung Sigmund
Freuds nur fortgeführt, die besagt, dass Sexualität kein Nebenthema
ist oder als Erfahrung vom menschlichen Denken abzuspalten wäre. So
schreibt Ilka Quindeau:
»Sowohl das Modell (von S. Freud) – die Aufteilung der kindlichen
Entwicklung bis zur Pubertät in eine orale, anale,
phallisch-genitale und ödipale Phase, an die sich die Latenzzeit
anschließt – als auch die Kritik daran ist vermutlich hinlänglich
bekannt: Es sei zu schematisch, es sei deterministisch, es gebe
keine Latenzzeit, das Sexuelle sei nur eine Dimension unter anderen
und besitze nicht so viel Bedeutung, wie Freud sie ihm zuschreibt.
Diese Argumente überzeugen nicht wirklich, denn sie entstammen
meist einer oberflächlichen Befassung mit dieser Theorie.« (S.
38)
Die Begründung dafür liegt wahrscheinlich darin, dass die kindliche
Sexualität mit all ihren Facetten eine notwendige Ausprägung der
allgemeinen Psyche des Erwachsenen vorbereitet:
»Die subjektiven Befriedigungserfahrungen, die ein Kind mit seinen
primären Bezugspersonen oder deren Ersatz erwirbt oder die ihm
versagt bleiben, bilden sich zu spezifischen Befriedigungsmustern
aus, die wiederum seine Erwartungen an zukünftige Befriedigung
prägen.« (S. 39)
Man kann sich daher vorstellen, wie gravierend und verletzend vor
diesem Hintergrund die Erfahrungen von sexuellem Missbrauch und
Gewalt in die Entwicklung der Psyche eingreifen und Störungen
später im Erwachsenenalter verursachen.
Da Sexualität eine Interaktion zwischen Körper und Geist darstellt,
wie Quindeau feststellt, ist unter Berücksichtigung des
Beziehungslebens die sexuelle Erfahrung weit mehr als ein
Ausagieren des Gebots »Seid fruchtbar und mehret euch«. (Genesis 1,
28a) Auch wenn das Fachbuch auf die Frage (nach der Rolle) der
Religion und ihrer Moral nicht eingeht, so muss doch vom Inhalt der
Ausarbeitung her geschlossen werden, dass die Vorurteile, die
Sexualität auf die Fortpflanzungsfunktion festlegen wollen und so
der Heterosexualität den Statut des Normalen geben verfehlt sind.
Quindeau denkt hier auch an eine Reflexion der normativen Vorgaben,
die dem Ödipuskonflikt zugrundeliegen:
»Der Ödipuskonflikt wird zu Recht als zentraler Knotenpunkt in der
sexuellen Entwicklung betrachtet. In der phallischen Phase eignet
sich das Kind (aktiv) das an, was ihm bis dahin (passiv)
widerfahren ist. Mit der Aneignung der Phallizität dreht es die
Konstellation der allgemeinen Verführungssituation um. Aus dem
verführten Kind wird ein Verführer oder eine Verführerin. Im
Unterschied zu den vorangegangenen Phasen wird es sich seiner
Fähigkeit, andere zu verführen, auch bewusst. Ich schlage daher
vor, den Akzent der phallischen Phase auf die Aneignung des
Begehrens zu setzen; so lässt sich die von Freud formulierte
Alternative – einen Phallus haben oder kastriert sein – auf die
Fähigkeit beider Geschlechter beziehen, Lust zu empfinden und sich
als Subjekt dieses Begehrens zu erleben.« (S.55)
Wie hier schon dargestellt wird, ist der Ödipuskonflikt keine Frage
der Geschlechtsorientierung, sondern eine Frage des Verführens und
des Begehrens.
Die Autorin bietet dabei einen theoriegeleiteten Zugang zu
psychoanalytischem Denken aus Anlass von therapeutischer Praxis für
diese Praxis. Ihr Anspruch ist, dass die therapeutische Beziehung
gelingen möge. Ihr Anspruch ist auch, dass die_der
Psychoanalytiker_in die eigenen Werthaltungen und -entscheidungen
reflektiert, um sie für den analytischen Prozess zwischen
Analytiker_in und Analysand_in zugänglich zu machen. Dazu gehört
ebenso die Auseinandersetzung mit der gesellschaftlichen Norm zur
Heterosexualität (»Heteronormativität«, S. 23) wie eine Ablehnung
der Reduktion von Sexualität auf den Aspekt der Reproduktion. Denn
diese Einengung verschweigt die Aspekte von Lust und Begehren. Im
Anschluss an die psychoanalytischen Arbeiten vom Laplanche gelingt
es Quindeau auch, ein neues, kritisches Verständnis des Subjektes
zu entwickeln. Sie begreift »Verführung« und »Begehren« als eine
soziale Situation, unter dem »Primat des Anderen« (S.25): Es
gelingt ihr, die Differenz von Kind und Erwachsenem als eine für
das Menschsein konstitutive Asymmetrie darzustellen. Damit
reflektiert sie die gesellschaftliche Norm zu Selbstbestimmung und
Autonomie. Sie begreift das Subjekt als das, was »sub-iectum«
(S.27) ist, buchstäblich und im übertragenen Sinn dem_der Anderen
unterworfen. Denn jede menschliche Existenz ist zuerst und
grundlegend heteronom, also von der_dem
Anderen bestimmt, auf den ich angewiesen bin. Das unbewusste
Begehren des Erwachsenen schreibt sich ein in die Entwicklung des
Unbewussten und Sexuellen des Kindes. Das eigene Begehren gründet
sich im Begehren des_der Anderen. Der eigene sexuelle Körper trägt
die Erinnerungsspur des jeweils anderen. Darin, wie sich erogene
Zonen herausbilden, lässt sich das Entstehen des
Körpergedächtnisses ablesen, das erst durch den_die Andere_n
ermöglicht wird. (Vgl. S. 29f.)
Dringend notwendig erscheint auch, dass die Autorin, die aktuelle
Debatte um Sex und Gender in die psychoanalytische Forschung und
Praxis überträgt. Gerade im Umgang mit der Homosexualität und den
Homosexuellen zeigt sich ja, wie die Psychoanalyse die kulturelle
Dominanz der Zweigeschlechtlichkeit und damit die Bewertung von
gesunder und krankhafter Sexualität fortgeschrieben hat. Mit der
gebotenen Offenheit macht die Autorin dankenswerterweise ihre
eigenen Werthaltungen einer Reflexion zugängig, auch, in dem sie
»Geschlecht als Kontinuum« (S.84) begreift und Geschlechterkonzepte
als normative Setzungen und kulturelle Praxis benennt. (Vgl. S.85):
»Für eine psychoanalytische Theorie ist es daher wichtig,
kulturelle Unterschiede nicht zu ontologisieren und nicht eine
naturhafte geschlechtsspezifische Sexualität zu postulieren«
(S.86).
So kann das Begehren in seinen unterschiedlichen Ausprägungen durch
die psychoanalytische Theorie und in der therapeutischen Praxis in
den Blick genommen werden: »Aktiv« und »passiv«, sind dann
Beschreibungen, ohne dass damit auch Zuschreibungen zum einen oder
anderen Geschlecht nötig wären. Auch und gerade, weil psychische
Störungen ihre Ursache darin haben können, dass keine konstruktive
Antwort auf die Frage gefunden werden kann, ob die eigenen
sexuellen Phantasien zum Bild des eigenen Geschlechts passen. So
folgt denn Quindeau auch der Kritik Reiches am Modell des
Ödipuskomplexes, wenn nicht davon ausgegangen wird, dass sexuelles
Begehren vom Objekt unabhängig ist. Offenbar war Freud der späteren
Psychoanalyse voraus, wenn er schrieb: »Im Sinne der Psychoanalyse
ist also auch das ausschließlich sexuelle Interesse des Mannes für
das Weib ein der Aufklärung bedürftiges Phänomen und keine
Selbstverständlichkeit.« (Freud, Sigmund, Drei Abhandlungen zur
Sexualtheorie, zit. n. Quindeau, ebd., S.89).
So bleibt die Autorin auch dem kritischen Ansatz treu, wenn sie
hinterfragt, unter welchen gesellschaftlichen Bedingungen
überhaupt, nämlich unter der Vorherrschaft der Heterosexualität,
die sexuelle Orientierung eine Bedeutung für das eigene Verständnis
von Identität bekommen und von sexueller Identität – als etwas
Statischem – gesprochen werden konnte. Ein anderer Blick ermöglicht
dann, Begehren als Wechselspiel von Penetration und Einverleiben zu
beschreiben, und Sexualität und das »Gefühl des Überschreitens und
Überwindens von Verboten« (S.91) zusammenzudenken. Und dann müssen
gesellschaftliche Normen hinsichtlich Liebe, Sexualität, Beziehung
und Geschlechtsrolle nicht mehr übernommen werden und
Homosexualität muss nicht länger als krankhaft und abweichend
erscheinen.
Für den psychotherapeutischen Prozess bekommt nach Quindeau die
Sexualität nun eine »seismographische Funktion«. Durch sie zeigen
sich unbewusste psychische Konflikte, in denen Lust und Begehren
versagt bleiben. Die Autorin beschreibt dabei ausführlich das
Handwerkszeug des_der Psychoanalytikers_in. Es ist die Kunst, in
der Therapie Übertragung und Gegenübertragung reflektiert zu
nutzen:
»Diese Ängste vor dem Sexuellen (…) kommen in jeder Therapie vor
und beinhalten die Angst vor der eigenen Körperlichkeit. So
überspringt man das Sexuelle häufig, um sich Unsicherheit zu
ersparen, und zwar aus Angst vor zu viel Nähe in der
Übertragung-Gegenübertragung. Es entsteht dann eine Art Tabuzone,
die zu Lähmungen und Stagnation führen kann. Um dies zu verhindern,
ist es wichtig, die Wahrnehmungseinstellung als TherapeutIn zu
erweitern und ein feines Gespür für die eigenen sexuellen Impulse,
Gefühle und Gedanken zu entwickeln.« (S.116)
So wird die Psychoanalyse zu einem Möglichkeitsraum psychischer
Prozesse, in dem Erinnerungsspuren entdeckt und zugänglich gemacht
werden können. Das Ziel ist, das, was dem Kind ehemals von Anderen
Erwachsenen eingeschrieben wurde, nun als Erwachsener selbst
umzuschreiben. Und das, was auf den ersten Blick als sexuelles
Symptom erscheint, zeigt ein grundlegendes Beziehungsmuster und ist
Ausdrucksform einer produktiven psychischen Bearbeitung.
Ergänzend zur Lektüre sei im Anschluss nach der konstruktiven Rolle
der Religion gefragt. Die Religion kann hier – wie in anderen
gesellschaftlichen Diskursen – die Beachtung einer ganzheitlichen
Perspektive anregen, die etwa Sexualität in den Kontext von Liebe
und Akzeptanz stellt und von der Entwicklung des Grundvertrauens
ausgeht, in der das Leben mit der sexuellen Erfahrung als gut und
bereichernd empfunden wird. Wird Sexualität dagegen
instrumentalisiert oder gar die durch sie entstehende Vielfalt
eingegrenzt, müssen die Grundkenntnisse der Psychologie, wie sie
hier dargestellt werden, ins Gedächtnis gerufen werden. Das Thema
Sexualität rührt an die Grundrechte, wonach das Grundrecht des
Diskriminierungsverbots durch den Begriff des sexuellen
Orientierung zu ergänzen wäre.
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