Rezension zu Moderne Gruppenanalyse (PDF-E-Book)

PSYCHE

Rezension von Oliver Hechler

Wendet sich der fachlich interessierte Zeitgenosse der von S. H. Foulkes begründeten Gruppenanalyse zu, dann ergeben sich auf den ersten Blick eine Vielzahl von Fragen. So entsteht beispielsweise der Eindruck, als existiere die Gruppenanalyse in Deutschland – in Osterreich ist im Übrigen von Gruppenpsychoanalyse die Rede – nur als analytische und tiefenpsychologisch fundierte Gruppenpsychotherapie und wäre damit, wie dies auch die Psychotherapierichtlinien vorsehen, ausschließlich als eine Anwendungsform der Psychoanalyse zu begreifen. Tschuschke (1999) hingegen vertritt die Meinung, dass der Gruppenpsychotherapie als »dritte Säule« (S. 114), neben der Verhaltenstherapie und den psychodynamisch begründeten Verfahren, ein berechtigter Platz im Konzert der wissenschaftlich begründeten Psychotherapieverfahren einzuräumen wäre und argumentiert in diesem Sinne mit dem der Gruppenpsychotherapie zugrunde liegenden interpersonellen Krankheitsverständnis, das sich von dem der Psychoanalyse und dem der Verhaltenstherapie kategorial unterscheide. Rekurriert man darüber hinaus auf Foulkes (1974) selbst, dann kommt man nicht umhin festzustellen, dass es offensichtlich sein Anliegen war, mit der Gruppenanalyse eine »network theory of the neuroses« (S. 4) und damit eine genuin gruppenanalytische Entwicklungs-, Persönlichkeits- und Krankheitstheorie zu begründen. Eine so verstandene Gruppenanalyse kann dann in Form der gruppenanalytischen Psychotherapie zu Anwendung kommen. Und zwar nicht nur im Setting Gruppe, sondern auch, wie Foulkes (1974, 1978) immer wieder betont, sowohl in der therapeutischen Zweierbeziehung, die Brown (1999) als eine dyadische Form der gruppenanalytischen Matrix und Moeller (2002) als Gruppenanalyse mit einer Person konzeptualisiert, als auch in der Paar- und Familientherapie, wie dies Skynner (1987) in seinem Buch »Explorations with Families« deutlich herausgearbeitet hat.

Das hier zur Rezension vorliegende, von Michael Hayne und Dieter Kunzke herausgegebene Buch »Moderne Gruppenanalyse«, tritt an, die skizzierten schwierigen Verhältnisse zu klären und geht der grundlegenden Frage nach: »Was ist Gruppenanalyse« (S.9).

Betrachtet man zunächst die Form des Werkes, dann lässt sich über die Dreiteilung in Theorie, Praxis und spezielle Anwendungsgebiete die Beteiligung international renommierter Gruppenanalytikerinnen und Gruppenanalytiker feststellen. Der Grund, einen internationalen Band herauszugeben, lässt sich im Umstand finden, dass »unterschiedliche kulturelle und soziale Hintergründe und Einflüsse von Beginn an in der Gruppenanalyse zusammenflossen, zu ihrer Vielschichtigkeit und Offenheit beitrugen und bis heute wesentlich ihre Weiterentwicklung unterstützen« (S. 14).

In der Einleitung stellen Hayne und Kunzke fest, dass die Gruppenanalyse »eine Art Geschwisterrang neben der Psychoanalyse« (S. 9) beansprucht. Soweit, so gut. Doch gleich darauf machen sie deutlich, dass Freud selbst nahe »dem Schritt war, eine eigene Gruppenpsychotherapie zu schaffen« (S. 9). Es scheint so, als werde hier ein Konflikt deutlich, den Dalal in seinem Beitrag (»Macht, Scham und Zugehörigkeit: Eine radikale gruppenanalytische Theorie«) aufgreift. Dalal hebt zwei Foulkessche Theoriestränge hervor, einen orthodoxen, »der bei Freud und den Ansätzen blieb, die aus der individuellen Psychoanalyse und ihrer Trieblehre entstanden sind« (S. 49). und einen radikalen. »der versuchte sich aus dem Individualismus zu befreien und nicht nur der Gruppe sondern überhaupt sozialen Phänomenen und der Kultur den Vorrang einzuräumen« (S. 49). Er kommt zu dem Ergebnis, dass Foulkes der Sprung ins wirklich Soziale nicht gelungen ist.

Es scheint genau dieses Dilemma zu sein, das sich auch in dem vorliegenden Buch widerspiegelt: Ist die Gruppenanalyse eine eigenständige »soziale Theorie des Menschen und seiner Störungen« (S. 15). aus der sich gruppenanalytische Interventionsformen ableiten lassen oder bleibt sie dem Freudschen Individualismus verhaftet, der davon ausgeht, das Individuum gehe der Gruppe voraus?

Vor diesem Hintergrund lassen sich auch die weiteren theoretischen Beiträge verstehen. Die zwei Beiträge von Malcom Pines (»Andere Zeiten, andere Wirklichkeiten: Ein Blick in die Zukunft: ›Es ist mehr‹« und »Soziales Gehirn und soziale Gruppe: Wie das Spiegeln Menschen verbindet«) beschreiben die aktuellen Entwicklungen im Bereich der modernen Säuglingsforschung, der Entwicklungspsychologie, der Neuro- und Evolutionsbiologie und der Psychoanalyse und bringen diese Erkenntnisse mit gruppenanalytischen Grundannahmen zusammen. Auch der Beitrag von Hayne »Gruppenanalyse und moderne Affekttheorie« und der von Marrone »Bindungstheorie und Gruppenanalyse« nehmen Bezug auf aktuelle Forschungsergebnisse der Affekt- und Bindungstheorie. Affekte, so Hayne, entstehen, wie »alle psychischen Phänomene im Rahmen von Gruppenprozessen« (S. 87). Insofern kommt der Gruppe bei Fehlentwicklungen und im Hinblick auf die notwendige Affektregulierung besondere Bedeutung zu. Auch Marrone weist in seinem Beitrag nach, dass sich die Prinzipien der Bindungstheorie kongenial zu denen der Gruppenanalyse verhalten, da die Bindungstheorie »die Bewegung weg von der Ein-Personen-Psychologie zu einer Mehr-Personen-Psychologie» (S. 111) bestätigt.

Die Arbeiten von Kunzke (»Joseph D. Lichtenbergs Theorie der Motivationssysteme und ihre mögliche Anwendung auf die gruppenanalytische Praxis«) und Segalle (»Motivationssysteme und Gruppenobjekttheorie: Implikationen für die Gruppentherapie«) sind die beiden ersten Beiträge im Teil II des Buches und knüpfen unmittelbar an die theoretischen Überlegungen an. Indem Kunzke, ähnlich wie Hayne, psychische Störungen als interpersonal erworbene Fehlregulationen in den von Lichtenberg beschriebenen fünf Motivationssystemen begreift, gelingt ihm, in Anlehnung an Foulkes, die Konzeptualisierung der Gruppenanalyse als »motivationssystemische Reorganisation in Aktion« (S. 141). Eine so verstandene Reorganisation führt, wie dies Segalle nachweist, vor dem Hintergrund von Gruppenobjektbedürfnissen zu grundlegenden Selbstobjekterfahrungen im Bereich der unterschiedlichen motivationalen Systeme. Können diese beiden Beiträge, die durch klinische Vignetten ergänzt werden, als Übergang von der eher theoretischen zu der mehr praxisorientierten Perspektive verstanden werden, so widmen sich die folgenden Beiträge von Paparo und Nebbiosi (»Wie heilt die Gruppenanalyse? Eine Neukonzeption: Von der Selbstpsychologie zur intersubjektiven Perspektive«), de Mendelssohn (»Zur Deutungstechnik in der psychoanalytischen Gruppe"). MeuschikBendele (Geschlechterdynamik in der Gruppenanalyse: ›Das Ich ist vor allem ein körperliches‹«) und Hall (»Überwindung von Gruppenprojektionen in der Co-Therapie«) behandlungstechnischen Fragen. So scheint die gruppenanalytische Psychotherapie nicht so sehr durch Veränderung der Repräsentanzen der Gruppenteilnehmer zu heilen als vielmehr durch Internalisierung alternativer und funktionalerer Prinzipien. die die Gruppe hervorbringt. De Mendelssohn verweist in diesem Zusammenhang auf die Notwendigkeit der angemessenen Deutungstechnik und der vermehrten Aktivität des Gruppenanalytikers insbesondere in so genannten »nicht-klassischen« Gruppen. Menschnik-Bendele und Hall fügen dieser störungszentrierten Sichtweise eine grundlegende und »leibhaftige« Perspektive hinzu. In ihren Beiträgen wird deutlich, wie sehr die Entfaltung der Gruppenpsychodynamik (Foulkes) und des gruppenanalytischen Prozesses von der Geschlechterdynamik. die entgegen der weit verbreiteten Annahme der Gender-Mainstreaming-Debatte natürlich auch einen biologischen Ursprung hat, abhängig ist. Dies betrifft u.a. auch die immer wieder mal erwähnte Forderung, der Gruppenanalytiker müsse sowohl weibliche als auch männliche Aspekte verkörpern können. Gelingt es allerdings, dass durch gruppenanalytische Psychotherapie »mehr Eindeutigkeit hergestellt werden kann in Bezug auf die Geschlechtsidentität und die Anerkennung der Differenz, dann muss das Aufgegebene des Anderen kein schmerzhafter Verlust sein, sondern bleibt erhalten als Nachhall dessen, was man verloren hat« (S. 223). Insofern ist es vertretbar, »dass auch Gruppenanalytiker und Gruppenanalytikerinnen letztlich auch nur eines sein können – allerdings, in dem sie die Ahnung des Anderen in sich tragen« (S. 224). Die Beiträge des praktischen Teils des Buches sind allesamt interessant und informativ verfasst, so dass es leicht fällt, die Anregungen mit der eigenen gruppenanalytischen Tätigkeit in Verbindung zu bringen. Dies ist insbesondere durch die Vielzahl unterschiedlichster Vignetten möglich.

Den abschließenden dritten Teil des Buchs »Spezielle Anwendungsgebiete« eröffnet Shaked mit einem Beitrag »Zur Zukunft der Großgruppe«. Shaked verdeutlicht anhand eines Wiener Großgruppenprojekts, dass die analytisch geleitete große Gruppe sowohl »als Medium der freien Aussprache, in der Konflikte [...] in einer geschützten und toleranten Atmosphäre angesprochen werden können, (als auch) als therapeutisches Medium, in dem die Einbeziehung von Fantasien, Einfällen und Träumen ermöglicht wird« (S. 242), sinnvoll zur Anwendung gebracht werden kann und sieht aufgrund der spezifischen Charakteristika und Möglichkeiten ihren zukünftigen Einsatzort neben psychiatrisch-psychotherapeutischen Kliniken und der Anwendung im interkulturellen Bereich »in der analytischen Organisationsberatung und Supervision« (S. 251).

Ebenso liegen die Überlegungen von Knauss zur »Gruppenanalyse in der stationären Psychotherapie« auf einer eher konzeptuellen Ebene. In Auseinandersetzung und Abgrenzung mit dem Bi-Polaren-Modell nach Enke und dem Integrativen Modell nach Janssen entwickelt Knauss ein »gruppenanalytisches Stationsmodell« (S. 285), »das stationäre Psychotherapie grundlegend als Gruppenpsychotherapie begreift, und der Etablierung einer Großgruppe [...] der Analyse von Vernetzungen des einzelnen Patienten und der einzelnen Teammitglieder in den vielfältigen Gruppenprozessen im Rahmen eines klaren Settings und im Kontext der Gesamtsituation der Klinik (dient)« (S. 285). Damit gelingt es Knauss, die Grundannahmen der Gruppenanalyse, nach denen der »Lebensprozess als Kommunikationsprozess in und mit wechselnden, für das Individuum bedeutsamen Gruppen« (S. 287) zu verstehen ist, in einem genuin gruppenanalytischen Modell stationärer Psychotherapie aufzugreifen.

Zwischen den konzeptuellen Überlegungen von Shaked und Knauss finden sich zwei weitere, sehr interessante Beiträge, die sich der gruppenanalytischen Psychotherapie von zwei schwierigen Patientengruppen zuwenden. Canete und Ezquerro zeigen in ihrem Beitrag »Gruppenanalytische Psychotherapie der Psychose« eindrucksvoll, dass der gruppenanalytische Ansatz einschließlich seiner spezifischen Deutungstechnik hilfreich im Sinne der psychotischen Patienten angewendet werden kann, denn: »Autonomie und Verbundenheit sind für psychotische Patienten bedrohliche Erfahrungen und müssen – um weiter funktionsfähig zu bleiben – in der Außenwelt stark abgewehrt werden [...]. Eine Gruppe stört ihrer ureigensten Natur nach den Kern, um den die psychotische Abwehr zentriert ist.«

Gruppenanalytische Psychotherapie trägt dazu bei, sukzessive die stabilisierende Stagnation hin zu Entwicklung zu verändern. In ebenso offener Weise wenden sich die vorher genannten Autoren, nun durch Stormont ergänzt, in ihrem weiteren Beitrag der Frage zu, ob nicht auch »Gruppenanalytische Psychotherapie mit Älteren« durchzuführen sei. Im Spannungsfeld von demographischer Entwicklung und häufig vorzufindender Lehrmeinung, nach der ältere Menschen nicht von einer psychodynamischen Psychotherapie profitieren könnten, entwickeln die Autoren ein Konzept gruppenanalytischer Psychotherapie, das »eine Matrix zur Verfügung (stellt), die das Selbst unterstützt und die Bearbeitung narzisstischer Verletzungen durch gemeinsames Nachdenken [...] und durch die Förderung von Selbstobjekterfahrungen« (S. 275) ermöglicht. Das technische Vorgehen muss sich den alterspezifischen Entwicklungsaufgaben anpassen.

Den Abschluss des dritten Teils und damit auch des Buchs bildet der Beitrag von Streeck (»Psychoanalytisch-interaktionelle Gruppentherapie«). Nach einer detaillierten Übersicht über die pathologischen interpersonellen Entstehungsbedingungen struktureller Störungen und deren Diagnose entfaltet der Autor zum einen eine fundierte Kritik an der traditionell deutungszentrierten Vorgehensweise psychoanalytischer Behandlungen. Zum anderen zeigt er mit Bezug auf die Arbeiten von Heigl-Evers, Heigl und Ott die notwendigen Modifikationen psychoanalytischer Technik, um diese schließlich in der psychoanalytisch-interaktionellen Methode zu konzeptualisieren. Die psychoanalytisch-interaktionelle Gruppentherapie ist nach Streeck eine Modifikation der analytischen Gruppenpsychotherapie und unterscheidet sich insbesondere hinsichtlich der therapeutischen Techniken des Antwortens, der Hilfs-Ich-Funktionen, der Unterstützung von Gruppennormen und der Regulierung interpersonaler Beziehungen und Affekte von der Gruppenanalyse. Gleichwohl ist davon auszugehen, »dass interaktionelle Techniken bei entsprechendem Bedarf [...] nicht selten im Rahmen der gruppenanalytischen Arbeit zur Anwendung kommen« (S. 326).

Betrachtet man abschließend sowohl Form und Inhalt des Buches, dann lässt sich hier eine gelungene und vorwärtstreibende Arbeit im weiten Bereich der Gruppenanalyse konstatieren.

Suggeriert der Titel so etwas wie eine Systematisierung und vielleicht auch eine grundlegende Theoriebildung, so liest sich das Buch in dieser Perspektive dann eher wie eine Sammlung von Beiträgen. Insbesondere die relative Unbestimmtheit der Begriffe, die auf die therapeutische Anwendung abstellen, fällt auf. So ist die Rede von Gruppenanalyse, analytischer und tiefenpsychologischer Gruppenpsychotherapie, psychoanalytischer Gruppentherapie, analytischer Gruppentherapie, Gruppenpsychoanalyse und nicht zu letzt von gruppenanalytischer Psychotherapie, der Foulkes selbst den Vorzug gegeben hat. Hier soll keiner Kleinkariertheit das Wort geredet werden, sondern auf eine Schwierigkeit verwiesen werden, die offensichtlich mit der bundesrepublikanischen Psychotherapiegesetzgebung zu tun hat, die eben nur die analytische und tiefenpsychologisch fundierte Gruppenpsychotherapie als Anwendung der Psychoanalyse kennt. Akzeptiert man aber, wie dies Hayne und Kunzke in der Einleitung deutlich machen wollten, den Geschwisterrang der Gruppenanalyse neben der Psychoanalyse, dann ergibt sich die Notwendigkeit einer eigenständigen systematischen Konzeptualisierung, wie dies zum Beispiel in Großbritannien der Fall ist. Dort ist ganz selbstverständlich von Gruppenanalyse und gruppenanalytischer Psychotherapie die Rede, und schaut man auf die Website des Group Analytic Instituts, so findet man ebenso ganz selbstverständlich, dass die Gruppenanalytiker sowohl gruppenanalytische Psychotherapie in der kleinen Gruppe als auch gruppenanalytisch orientierte Einzel- Paar- und Familientherapie anbieten.

Vor diesem Hintergrund kann die »Moderne Gruppenanalyse« als ein längst überfälliger Anfang betrachtet werden, der, durch die interessante Zusammenführung unterschiedlichster Perspektiven, gewissermaßen die Basis für weitere Forschung und theoretische Konzeptualisierung abgibt. An dieser Stelle sollten berufs- und sozialrechtliche Überlegungen den fachlichen Diskurs nicht allzu sehr bestimmen.



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