Rezension zu Schönheit und Konflikt

Musik-, Tanz- und Kunsttherapie 23. Jahrgang Heft 4 2013

Rezension von Dr. Georg Franzen

Leikert, S. (2012). Schönheit und Konflikt

»Über die Schönheit«, schreibt Freud, wisse die Psychoanalyse »am wenigsten zu sagen«; auch Adorno bemängelt das Fehlen einer Vorstellung darüber, wie Kunst psychoanalytisch aufzufassen sei. Auf der Grundlage des innovativen Konzepts der kinästhetischen Semantik legt der Autor eine psychoanalytische Ästhetik vor, die die Künste durch eine verbindende Theorie interpretiert. In Auseinandersetzung mit Philosophie und Ritualtheorie wird gezeigt, auf welchem Weg Kunst den Bewusstseinszustand des Rezipienten transformiert und die für die Kunstbegegnung charakteristische veränderungsoffene Berauschung erzeugt. Ausgehend von spezifischen Analysen im Bereich von Musik, Malerei und Poesie werden die Mechanismen des Ästhetischen aufgedeckt, die sich auch auf die Massenkultur des Films oder des Produktdesigns übertragen lassen.

Der Karlsruher Psychoanalytiker Sebastian Leikert, Dr., Dipl.-Psych., Dozent am Institut für Psychoanalyse und Psychotherapie Heidelberg-Mannheim, beschäftigt sich in seinem neuen Buch mit der psychoanalytischen Frage nach dem Ästhetischen. Der Autor geht davon aus, dass die Definition des Ästhetischen sich auch auf psychische Grundprozesse beziehen muss. Um die Fragestellung zu erhellen und in der Tiefe auszuloten, bezieht er sich folgerichtig auch auf den dabei notwendigen Dialog mit den Nachbardisziplinen wie der Philosophie und historischen Grundlagen, u.a. am Beispiel altsteinzeitlicher schamanischer Rituale, um den ästhetischen Prozess in seiner performativen Gestalt vorzustellen. Hieran zeigt Leikert auf, dass der ästhetische Wahrnehmungsvorgang die psychische Organisation verändert und zu fusionellen Formen des Erlebens führt. Die Erkenntnis des Schönen, so der Autor, ist nur erfahrbar, wenn sich das Subjekt durch die Wirkung des Werkes in einen Zustand der ästhetischen Rezeptivität hineinbewegt.

Leikert betrachtet die Psychoanalyse als eine Geschichtswissenschaft: »Sie weiß um die lebensgeschichtlichen Bedingtheit der menschlichen Subjektivität und damit auch im die historische Kontextbedingtheit des eigenen Fragens« (S. 41). Erst aus der Diskussion der Geschichte des Fragens nach dem Ästhetischen, so Leikert, kann das Geschichts- und Selbstbewusstsein eines psychoanalytischen Fragens entstehen. Sebastian Leikert verfolgt diese Linie sehr konsequent, und, von Baumgarten ausgehend, erweitert die Grundlagen der philosophischen Ästhetik auf psychoästhetische Wirksamkeiten. Anhaltspunkte dafür findet der Autor u.a. bei Schopenhauer und diskutiert Begrifflichkeiten der ästhetischen Kontemplation, um Grundlagen ästhetischer Erfahrung zu erhellen. In seiner Untersuchung stellt Leikert das Konzept der kinästhetischen Semantik vor. Mit diesem Begriff beschreibt er ein System, das Erlebnisse sinnlich auffasst, verarbeitet und speichert (S. 73). »Kunst grenzt sich vom Alltag ab und schafft einen eigenen Möglichkeitsraum, der den Übergang in einer spezifischen Verfassung des Erlebens erleichtert« (S. 77). Mit dem Begriff der kinästhetischen Semantik sucht der Autor einen Modus der Erfahrungsbildung sichtbar zu machen, der bisher nur wenig Eingang in die psychoanalytische Diskussion gefunden hat. Der Autor beschreibt diesen rezeptiven Prozess des ästhetischen Erlebens in einem psychodynamischen Anschauungsmodell. In Anlehnung an Merleau-Ponty kommt es zu einer fortschreitenden Synchronisierung von Leib und Wahrgenommenem. So wird eine Veränderung möglich, wenn z.B. im Ritus oder in der Kunst eine Verbindung zwischen dem aktualisierten Wahrnehmungsobjekt und der kinetischen Bedeutungsmatrix hergestellt wird. Insbesondere die transzendente Qualität der ästhetischen Erfahrung erhält bei Leikert eine herausragende Bedeutung. Dieser Moment der Transzendenz als kathartisch veränderte Erfahrung steht im Zentrum seiner Überlegungen. In einem weiteren Kapitel stellt Sebastian Leikert verschiedene klinische Konzepte zur kinästhetischen Beziehung an den Konzepten u.a. von Stern, Bollas und Ogden vor und bemerkt, »dass sich Beziehungskonflikte in allen Strukturen, auch in den frühesten, niederschlagen, und dass auch die späteren, sprachbasierten Formen des psychischen Funktionierens Anteil am Ästhetischen haben« (S. 127).

Die bildende Kunst vermag für Leikert, die Wahrnehmung auf dem Feld des Visuellen so zu ordnen und zu organisieren, dass der Rezipient sich in dem geschlossenen und proportionierten Bildmodus so sicher fühlt, dass er die gewohnte schützende Realitätsorientierung abstreift und wieder zum Subjekt der Wahrnehmung wird, d.h., die Wahrnehmungsfusion der unmittelbaren Verbindung von ästhetischem Reiz und kinetischer Resonanz wieder eingeht (S. 193). Der Autor beschreibt hier stabilisierende Wirkmechanismen der Künste, die sehr beachtlich sind und der Funktion von Kunst zugeordnet werden können. Das anspruchsvolle Werk von Sebastian Leikert stellt auf Grund des enormen ästhetisch-philosophischen-psychoanalytischen Gehalts an den Leser hohe Anforderungen, führt diesen aber in den sicheren komplexen Schlussfolgerungen lohnend zu einem profunden Ansatz einer psychoanalytischen Ästhetik. Sebastian Leikerts Untersuchung zeichnet sich durch eine fundierte wissenschaftlicher Arbeit aus, die den Zusammenhang von Psychoanalyse und Ästhetik bedeutsam erhellt.

Dr. Georg Franzen

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