Rezension zu Körperkontakt
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Rezension von Dr. Kirsten Oleimeulen
Renate-Berenike Schmidt, Michael Schetsche (Hrsg.): Körperkontakt.
Interdisziplinäre Erkundungen
Körperkontakt
Körperkontakt bezeichnet die aktive oder passive Berührung des
eigenen oder fremden Körpers. Die Haut wirkt als taktiles Organ
nicht nur körperlich, sondern auch durch Erleben und Reaktion auf
das Wachstum und die Entwicklung des gesamten Wesens ein.
Physischer Körperkontakt ist aber auch über das gesamte Leben
hinweg sehr wichtig, denn positive Berührungen stimulieren
bestimmte Rezeptoren unter der Haut, senken die Herzfrequenz,
Verlangsamen die Atmung und bewirken eine Abnahme von
Stresshormonen, sowie eine Stärkung des Immunsystems. Mit anderen
Worten: Berührungen helfen, dem Körper gesund zu bleiben.
Genetisch-programmierte Regulationsmechanismen des
Körperkontaktes
Kinder sind schon sehr früh in der Lage durch ihre Körpersprache
Unwillen oder Abscheu zum Ausdruck zu bringen. Soziale
Bindungssignale, wie Lächeln werden durch Nachahmung erlernt.
»Abscheusignale« dagegen sind bereits genetisch veranlagt und
versetzen schon Säuglinge in die Lage beispielsweise unerwünschte
Berührungen abzulehnen. Schon Säuglinge können entscheiden, wann
der Körperkontakt mit einer bestimmten Person unerwünscht ist und
es durch ihre Körpersprache ausdrücken, indem sie sich wegdrehen,
weinen oder schreien. Diese Körpersprache ist außerordentlich
wichtig, da sie das einzige Mittel von Säuglingen und Kleinkindern
ist, das Verhalten der körperlich und geistig überlegenen
Erwachsenen zu beeinflussen und zu steuern.
Herausgeberin und Herausgeber
Renate-Berenike Schmidt studierte an der FU Berlin
Erziehungswissenschaft mit anschließender Dissertation in Bremen
zum Thema »Sexualität in Biologiebüchern«. Auch in ihrer
Habilitationsschrift »Lebensthema Sexualität« beschäftigte sie sich
mit diesem Forschungsbereich. Aktuell lebt und arbeitet
Renate-Berenike Schmidt in Freiburg im Breisgau in den
Arbeitsgebieten Sexualpädagogik, Sozialisationsforschung und
pädagogische Ethik.
Priv.-Doz. Dr. Michael Schetsche (Hg.) studierte
Politikwissenschaft an der FU Berlin mit anschließender Promotion
zum Dr. rer. pol. (Universität Bremen). Es folgte eine Stelle als
Privatdozent zunächst am Institut für Soziologie der Universität
Bremen, dann am Institut für Soziologie der
Albert-Ludwigs-Universität in Freiburg. Seit 1. 5. 2002 ist Michael
Schetsche Abteilungsleiter am IGPP mit dem Arbeitsgebiete Wissens-
und Mediensoziologie, Soziologie sozialer Probleme und Anomalien,
qualitative Prognostik.
Aufbau
Das Buch »Körperkontakte – Interdisziplinäre Erkundungen« setzt
sich neben der Einleitung aus vier Kapiteln zusammen.
Einleitung
(Renate-Berenike Schmidt & Michael Schetsche) Im Zentrum der
Einleitung stehen neben der Gegenstandsbestimmung, jene Themen,
deren Behandlung sich die/der Herausgeber/-in diesem Buch gewünscht
hätten, die aber fehlen. Die verbalisierten Ursachen dafür sind,
dass keine Autoren/-innen gewonnen werden konnten oder dass
gewonnene Autoren/-innen, ihre bereits begonnenen Beiträge noch
abgesagt haben. Die Themen, die in dieser ersten Ausgabe des Buches
fehlen sind:
– Die Psychologische Dialektik des Körperkontaktes: Grenzen und
ihre Überschreitung
– Deutung und Normierung des Körperkontaktes im interkulturellen
Vergleich
– Der Kontakt zum eigenen Körper
– Körperkontakte im (Kampf-)Sport
– Psychische Störungen im Hinblick auf Körperkontakte
– Vom Schwert zum Rohrstock – Berührungen oder (unmittelbaren)
Körperkontakt
– Erste und letzte Intimität: Körperkontakte als Begrüßung und
Abschied
I. Grundlagen
Das Sinnessystem Haut und sein Beitrag zur Körper-Grenzenerfahrung
(Martin Grundwald). Mit dem Abriss der biosensorischen Welt unserer
Körperhaut wird in diesem Kapitel deutlich, dass das größte
Körperorgan mit ca. 2m² Fläche des Menschen gleichzeitig auch ein
gigantisches Sensorsystem darstellt, das uns in die Lage versetzt,
sowohl Körperberührungen als auch Körpereigenbewegungen als solche
wahrzunehmen. Selbstberührungen werden erst dann zu
Selbstberührungen im neurophysiologischen Sinne, wenn sie spontan
ausgeführt werden.
Ich werde berührt, ich berühre. Körperkontakte aus
bewegungswissenschaftlicher Sicht (Rainer Wollny). Die
Bewegungswissenschaft ordnet im Rahmen der interdisziplinären
Erforschung des Körperkontaktes zwischen zwei Menschen auf der
Theorie- und der Problemebene die unterschiedlichen
koordinationstheoretischen Konzepte und die neurophysiologischen,
kybernetischen, motorischen sowie psychologischen Kenntnisse über
die menschliche Bewegungskontrolle in einen größeren Zusammenhang
ein.
Soziologie der Berührungen und des Körperkontaktes (Matthias
Riedel). Der vorliegende Text versteht sich als programmatischer
Entwurf für eine neu zu schaffende Soziologie der Berührungen und
des Körperkontaktes. Die auf dem argumentativen Weg dorthin zu
klärenden Fragen dienen zugleich auch der Strukturierung des
Textes. Als Einstieg in die ungewöhnliche Thematik soll ein
detaillierter Blick auf die bisherige öffentliche Thematisierung
des zwischenmenschlichen Körperkontaktes dienen.
II. Psychische Funktionen und soziale Bedeutungen
Die Bedeutung von Körperkontakten im Verlauf der Kindheit (Christia
Wanzeck-Sielert). Kinder entwickeln ihr Selbstkonzept insbesondere
über ihren Körper, ihre Körperkontakte und ihre Bewegungen.
Körperliche Fähigkeiten und Geschicklichkeit haben einen positiven
Einfluss auf das Selbstbild und das Selbstwertgefühl.
Unsicherheiten und Ängstlichkeiten im Umgang mit dem Körper wirken
sich dementsprechend negativ auf das Selbstkonzept aus.
Körperkontakt bei Heranwachsenden (Gerd Stecklina). Seitens der
Forschung wird den körperlichen Veränderungen und der
psychosexuellen Entwicklung von Heranwachsenden viel Aufmerksamkeit
beigemessen, da diese mit Selbstwertverlust, fehlender
Orientierung, Normalisierungsbemühungen und Abgrenzung von der
Erwachsenenwelt einhergehen. Bestimmt wird diese Lebensphase
zugleich von erotisch-sexuellen Gefühlen und der Aufnahme erster
Sexualkontakte. Körperkontakte zu sich selbst und anderen Personen
können einen Beitrag leisten, um die vor den Heranwachsenden
liegenden Entwicklungsaufgaben zu bewältigen, und als Sinnressource
fungieren.
Körperkontakte in pädagogischen Kontexten (Uwe Sielert &
Renate-Berenike Schmidt). In vielen pädagogischen Kontexten ist
Körperkontakt mehr oder weniger unvermeidbar. Weder für
Pädagogen/-innen noch für Kinder und Jugendliche sind das Erleben
und die Wirkung solcher Berührungen immer eindeutig vorhersehbar.
Fachkräfte müssen also grundsätzlich mit Achtsamkeit und ohne
Überschreitung ihres Auftrags und ihrer professionellen Kompetenz
in körpernahen Arbeitssituationen agieren. Die wichtigsten
Rahmenbedingungen hierfür sind Rollenklarheit, Transparenz und
Metakommunikation.
Körperkontakt im Alter (Elke Mahnke & Uwe Sielert). Auf der Basis
einer Befragung von älteren Frauen und Männern im Rahmen des
»Kontakt-Studiums nach Beruf und Familie« der
Christian-Alberts-Universität zu Kiel, kann eine selbstbewusste
Gestaltung der Lebensbewältigung im Prozess des Alterns gelingen,
wenn in jedem Fall ausreichende körperliche Kontakte und das
subjektive Körperkontaktempfinden als wesentliche Ressource
vorhanden sind.
III. Heilsame Körperkontakte
Bedeutung von Berührungen und Körperkontakte für das Arbeitshandeln
von Therapeuten und Therapeutinnen in somatisch orientierten
Therapien (Annette Probst). In diesem Beitrag sollen die mit den
zentralen Dimensionen Körper, Körperkontakt und Geschlecht
verknüpften Besonderheiten des physiotherapeutischen
Behandlungsprozesses aufgezeigt werden. Der angerissene,
theoretische Bezugsrahmen umfasst dabei interaktions- und
konstruktionstheoretische sowie phänomenologische Ansätze.
Die bewegten Leibkörper in Pflegesituationen. Körperkontakte
pflegeberuflichen Handelns (Ulrike Böhnke). Im diesem Beitrag
konnte die Vielfalt der pflegeberuflichen Körperkontakte entfaltet
werden. Über eine kontrastive Darstellung wurde das Spektrum von
sinnvollen, gewollten und grenzüberschreitenden Körperbewegungen
und -kontakten dargelegt. Hervorzuheben ist, dass das
leibkörperbezogene Spurenlesen, das immer ein Suchen, Finden,
Rekonstruieren und Konstruieren der lebensgeschichtlich geprägten
Spuren erfordert, eine zentrale Voraussetzung für gelingende
pflegeberufliche Körperkontakte ist.
Psychotherapie und Körperkontakt (Tilmann Moser). Die klassische
Psychoanalyse hat Körperkontakt bekannterweise untersagt.
Berührungen bedeuten Sexualisierung und damit auch Missbrauch des
Patienten für die eigenen Bedürfnisse des Analytikers. Darüber
hinaus schneide er den Patienten vom Reichtum seiner unbewussten
Fantasien ab und die seien ja der eigentliche Stoff der
tiefenpsychologischen Aspekte. Stimmiger Körperkontakt ist
allerdings ein elementares Bedürfnis des Menschen. Ist er in der
Kindheit missglückt, beschädigt durch mangelnde Empathie, durch
Gewalt oder erotischen Missbrauch, dann darf er in kundiger Form
auch angewandt werden, um frühe Schäden zu mildern und verloren
gegangene Lebensfreude zu fördern.
Körperkontakt zwischen Menschen und Tier (Alexandra Stupperich). In
der zwischenmenschlichen Interaktion gibt es nur wenige Bereiche,
in denen Körperlichkeit so tabulos gelebt werden kann, wie in der
Mensch-Tier-Interaktion. Die Besonderheit am tiergestützten
Körperkontakt ist, dass er als ein unbelasteter Modellversuch
gesehen werden kann, in dem alte Verhaltensmuster geprüft und neue
ausprobiert werden kann. Häufig unterschätzt werden die
gesundheitlichen Effekte des Tierkontaktes. Haustierbesitzer waren
weniger häufig beim Arzt und klagten weniger über gesundheitliche
Probleme, da positiv erlebter Körperkontakt ein essenzielles
menschliches Bedürfnis ist.
IV. Sinn und Sinnlichkeit
Soziale Welten ohne Berührungen. Zum sozialen Potenzial
mediatisierter Spielwelten (Jeffrey Wimmer). Die in der Literatur
meist negativ bewertete Entkörperlichung der menschlichen Erfahrung
in Computerspielwelten kann empirisch nicht bestätigt werden.
Vielmehr konnte erarbeitet werden, dass der Körper der Spieler bei
deren Immersion in Computerspielwelten stets intensiv beansprucht
wird. Dies reicht von positiven Trainingseffekten bzw.
Kompetenzerwerb, wie z.B. der Steigerung von sensomotorischen
Fähigkeiten, Reaktion oder Hand-Augen-Koordination, bis hin zu den
in den Medien gerne zitierten Fällen von begleitenden physischen
wie psychischen Mangelerscheinungen exzessiver Computerspieler.
Kommunikation durch Berührung. Die Welt taubblinder Menschen
(Traute Becker & Gudrun Lemke-Werner). Schwerpunkt dieses Aufsatzes
sind Kommunikationssysteme, bei denen taktil-kinästhetische Sinne
eingesetzt und die Hände zu Informationsträgern werden. Dazu gibt
es ein ausführliches Beispiel eines von Geburt an taubblinden
Mädchens und dem Aufbau ihrer Kommunikationskompetenz.
Erotische Berührungen. Eine (mikro-)soziologische Annäherung
(Michael Schetsche). Erotische Berührungen sind das, was die
Beteiligen darunter verstehen. Ob eine Berührung als erotisch
gelesen wird oder nicht, ist also in hohem Maße von den
angewendeten sozialen Deutungsmustern und ihren
Situationsdefinitionen abhängig. Dies erklärt, wie es im Alltag
überhaupt zu übereinstimmenden Wahrnehmungen einer Berührung kommen
kann. Die Beteiligten interpretieren sie auf Basis gemeinsam
geteilter Deutungsmuster.
Körperkontakt im Tanz. Ästhetische Betrachtungen seiner
Artikulation (Sabine Huschka). Der Tanz erarbeitet Weisen und
Formen des Sich-Bewegens als wahrgenommene und wahrnehmbare
Wahrnehmungskonstellationen. Auf den eigenen Körper gerichtet,
organisieren sich Bewegen und Wahrnehmen im Blickfeld anderer und
konstellieren Kontaktweisen mit der eigenen Beweglichkeit, um alles
drei zu gewinnen – sich, den anderen und eine wirkende
Beweglichkeit.
Zielgruppe
Das Buch richtet sich an ein wissenschaftlich interessiertes
Fachpublikum.
Fazit
Das Buch »Körperkontakt. Interdisziplinäre Erkundungen« ist eine
Überblicksdarstellung auf höchstem wissenschaftlichen Niveau.
Die/der Herausgeber/-in reflektiert sich und seine/ihre Arbeit
selbstkritisch, in dem es fehlende und nicht eingereichte Beiträge
hervorhebt und bespricht. Der rote Faden der verschiedenen Aufsätze
ist der menschliche Körperkontakt. Allen Beiträgen gemeinsam ist,
dass sie das Potential und den enormen Wirkfaktor körperlicher
Kontakte vor dem Hintergrund verschiedenster Perspektiven
kaleidoskopartig aufspannen. Es hinterlässt beim Lesenden weniger
konkrete Handlungsabsichten für den Arbeitsalltag, als ein
grundsätzliches Gefühl der Bedeutung von Körperkontakten. Einziges
Manko dieses Buches, ist das Titelbild, dass typische Assoziationen
zum Titel weckt und der interdisziplinären Erkundung im Untertitel
nicht annähernd gerecht wird.
Rezensentin
Dr. Kirsten Oleimeulen
Psychologin – Familienberaterin, akkreditierte Psychologin für
Gesundheitspsychologie und Prävention (BDP), systemische
Familientherapeutin und Supervisorin, online-Beraterin für
www.kinderwelten.de
Homepage www.oleimeulen.info
Zitiervorschlag
Kirsten Oleimeulen. Rezension vom 30.12.2013 zu: Renate-Berenike
Schmidt, Michael Schetsche (Hrsg.): Körperkontakt.
Interdisziplinäre Erkundungen. Psychosozial-Verlag (Gießen) 2012.
335 Seiten. ISBN 978-3-8379-2119-9. In: socialnet Rezensionen, ISSN
2190-9245, http://www.socialnet.de/rezensionen/15648.php, Datum des
Zugriffs 06.01.2014.
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