Rezension zu Jugend heute (PDF-E-Book)
EuWis. Zeitung »Erziehung und Wissenschaft im Saarland« des Landesverbandes der GEW im DGB. 59./60. Jahrgang, Dezember 2013/Januar 2014, S. 20
Rezension von Klaus Ludwig Helf
Jugend heute
Das 12. Bonner Symposium zur Psychotherapie in Kooperation mit der
Jahrestagung der Deutschen Fachgesellschaft für Tiefenpsychologisch
fundierte Psychotherapie (DFT) stand im Jahre 2012 unter dem Thema:
›Jugend heute im Spagat zwischen Web 2.0. und Abi 1.0‹.
Als zusammenfassendes Ergebnis der Tagung haben Sabine
Trautmann-Voigt und Bernd Voigt – als Psychotherapeuten in der
Leitung der Köln-Bonner Akademie für Psychotherapie (KBAP) tätig –
den vorliegenden Band herausgegeben, der zwei Aufgaben hat. Zum
einen soll er einige Antworten auf Fragen zum Thema Jugend heute
geben, zum anderen einen »weiteren Beitrag dazu leisten, dass sich
kulturelle und gesellschaftliche Reflexionen und der aktuelle
psychotherapeutische Diskurs gegenseitig bereichern« (S. 16). Dies
ist zweifellos sehr gut gelungen in diesem übersichtlich
gestalteten und auch für psychotherapeutische Laien verständlich
und klar formulierten Reader.
Die Beiträge geben wertvolle Hinweise und Handlungsanweisungen, ob
und wie Psychotherapeuten, Pädagogen und Eltern der heutigen Jugend
auf der Grundlage neuester wissenschaftlicher Erkenntnisse
professionelle Hilfe und Unterstützung geben können. Nach dem
Editorial der beiden Herausgeber folgen zehn psychotherapeutische
Fachbeiträge und am Schluss Interviews mit sechs jungen Menschen
und einer Mutter.
Die Lebenssituation von Jugendlichen sei in der heutigen sozialen
Lebenswelt durch eine »eigentümliche Spannung« gekennzeichnet:
einerseits hohe Freiheitsgrade bei der Gestaltung der eigenen
individuellen Lebensweise, andererseits sei diese erkauft durch die
Lockerung und den Verlust von sozialen und kulturellen Bindungen.
Daraus ergeben sich auch eine »zunehmend soziale und kulturelle
Ungewissheit«, eine moralische und wertemäßige Widersprüchlichkeit
und eine erhebliche Unsicherheit in den Perspektiven für die
Zukunft. »Deswegen bringen die heutigen Lebensbedingungen auch so
viele neue Formen von Belastungen mit sich, Risiken des Leidens,
des Unbehagens und der Unruhe, die teilweise die
Belastungskapazität von Jugendlichen überfordern. Sie zahlen …
einen ›hohen Preis‹ für die fortgeschrittene Industrialisierung und
Urbanisierung, der sich in körperlichen, psychischen und sozialen
Belastungen ausdrückt« (S. 20).
Gesellschaftliche Erwartungen und Bilder von Jugend und
individuelle Muster der Lebensführung spielen bei der Organisierung
und Bewältigung des Alltags eine entscheidende Rolle, ebenso
biologisch bedingte Veränderungen und vor allem auch die
sozioökonomischen und kulturellen Rahmenbedingungen und
Ressourcen.
Welche Kompetenzen brauchen Heranwachsende, um in einer sich
wandelnden, globalisierten Netz–Gesellschaft handlungsfähig sein zu
können? Die Jugendlichen selbst fühlten sich – so Heiner Keupp –
durch Elternhaus und Schule ungenügend vorbereitet. In seinem
Beitrag macht er fundierte praktische Vorschläge zur Förderung von
nachhaltigen Ressourcen und zur Gewinnung von Lebenssouveränität
bei Heranwachsenden.
Im Zusammenhang mit dem pathologischen Internet- und Medienkonsum,
der in den nächsten Jahren sicher zunehmen werde, schlägt Oliver
Bilke-Hentsch vor, dies nicht zu verharmlosen, sondern ausgereifte
Konzepte zu entwickeln, die weder Dramatisieren noch
Bagatellisieren oder gar Kriminalisieren. Er warnt zu Recht vor
einer »Überinterpretation und Pathologisierung heute völlig
normaler und häufiger Verhaltensweisen« und vor einem
»grundsätzlichen Nicht-ernst-Nehmen« (S. 88).
Uwe Labatzki brilliert in seinem »Versuch einer unaufgeregten
Betrachtung und Einordnung« der neuen und alten Medien in die
Lebenswelten von Kindern und Jugendlichen: Nicht die Medien per se
seien das Problem, sondern dieses liege in der Natur des Menschen
und seiner Lebensweise; Medienkompetenz gehöre daher zu den
beruflichen und persönlichen ›skills‹ des postmodernen Menschen.
Die altersgemäße und ganzheitliche Heranführung an alle Medien
(inklusive der Spiele) sei ein Bildungsauftrag. In Anlehnung an Joe
Lichtenbergs biologisch-psychologische Motivationssysteme schlägt
er das Konzept eines »sicheren Hafens« vor: »Orientierende und
strukturierende Lebenskontexte (›Grenzen‹ sowie Werte und Regeln)
mit einfühlsamen Bezugspersonen auf der Basis einer sicheren
Bindung … schützen Kinder und Jugendliche vor Mediengefahren« (S.
104).
Der vorliegende Band zeigt anregende und kreative Perspektiven und
Strategien für Bewältigung der Herausforderungen, denen sich
Jugendliche (und Pädagogen und Eltern) gegenwärtig stellen
müssen.
Klaus Ludwig Helf
Trautmann-Voigt, Sabine, Voigt, Bernd (Hrsg.):
Jugend heute. Zwischen Leistungsdruck und virtueller Freiheit.
Psychosozial-Verlag Gießen, 206 Seiten, broschiert
ISBN: 9783837922707
Preis: 19,90 Euro