Rezension zu Sozialpsychologie des Kapitalismus - heute

Jahrbuch für Psychohistorische Forschung, 13 (2012). Heidelberg: Mattes Verlag, S. 345–348.

Rezension von Uta Ottmüller

Bericht und Anmerkungen zur Tagung
»Sozialpsychologie des Kapitalismus – heute« 1

Die 1991 mit emanzipatorischen und wissenschaftskritischen Zielen gegründete »Neue Gesellschaft für Psychologie« veranstaltete im März 2012 im Seminarzentrum der Freien Universität Berlin eine gut besuchte Konferenz zum Thema: »Sozialpsychologie des Kapitalismus – heute. Zur Aktualität Peter Brückners«. Rund 150 Teilnehmende und über 30 Referenten und Referentinnen zeigten, dass das Interesse an den zentralen Fragestellungen der 68er-Studentenbewegung nach
einem Vierteljahrhundert der Marginalisierung wieder deutlich zunimmt.

Die NGfP widmete die Konferenz dem Andenken und Werk Peter Brückners, der zu den rhetorisch und analytisch brillantesten Vordenkern der 68er-Studentenbewegung gehörte.2 Almuth Bruder-Bezzel hat seine unkonventionelle und von Brüchen durchzogene Biografie familiendynamisch, zeitgeschichtlich und hochschulpolitisch einfühlsam rekonstruiert. So hatte sich das 1922 geborene »anarchische« Kind eines deutschen Mathematikers und einer englisch-jüdischen
Konzertsängerin nach deren Emigration in ein Internatsleben einzupassen, das zunehmend von nazistischen Kontrollen und Ritualen durchdrungen wurde. Seine wissenschaftliche Arbeit – er wurde Psychoanalytiker und Professor für Psychologie
an der Universität Hannover – war überschattet von einem politischen Klima, das seit 1972 im Rahmen des antikommunistischen »Radikalenerlasses« »Berufsverbote« vor allem gegen Lehrer verhängte. Brückner selbst wurde als einziger Hochschullehrer zweimal vom Dienst suspendiert, zuletzt im Zusammenhang der als »Mescalero-Flugblatt« bekannt gewordenen studentischen Stellungnahme
zur Ermordung von Generalbundesanwalt Siegfried Buback durch die RAF. Nach langjährigen und zermürbenden straf- und dienstrechtlichen Auseinandersetzungen, die er letztlich alle gewann, starb er kurz vor seinem sechzigsten Geburtstag an Herzversagen.

Für Brückner waren staatliche Berufsverbote sowie bereits deren Androhung Bestandteil einer »Volkspädagogik«, die »Massenloyalität« gegenüber den Interessen der Kapitalbesitzer einforderte. Als weiteren wichtigen Bereich beschrieb er die »Massenmedien«, insbesondere die Springerpresse, als Meinungslenker und Erzeuger von Feindbildern. Psychohistorisch bedeutsam sind dabei die Umkehrprojektionen, die er der vorherrschenden öffentlichen Meinung attestiert: »Man konnte seit 1966/67 den Eindruck gewinnen, als hätten Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht die Soldateska erschlagen und in den Landwehrkanal geworfen, der Student Ohnesorg am 2. Juni den Polizisten Kurras, ... als hätte Rudi Dutschke auf den Attentäter Bachmann … geschossen und nicht umgekehrt.« 3

Die Konferenzbeiträge oszillierten in großer Themenvielfalt zwischen theoretischen Konzepten wie Gernot Böhmes »Ästhetischer Kapitalismus« (nach dem gesättigte Märkte selbstvermehrende Bedürfnisse erzeugen und zunehmend »Inszenierungswerte« statt Gebrauchswerte hervorbringen) in den Plenarvorträgen
und den meist eher empirischen, dreizügig-parallelen Panel-Beiträgen, unter anderem aus den Bereichen des neuen "Fußballpatriotismus", der Heimerziehung oder der Interventionspraxis gegen Rechtsextremismus. Von besonderem Interesse für das Selbstverständnis und die Zukunft der Psychologie war Josua Handerers Onlinebefragung von 2000 Psychologiestudierenden, die zeigte, dass deren Fachverständnis sehr viel stärker geistes- und gesellschaftswissenschaftlich orientiert ist als das Lehrangebot, das sie in der Regel vorfinden.

Im Plenarbereich widmete Josef Berghold das Eröffnungsreferat der Frage nach dem »subjektiven Wahn«, der den »objektiven Zwang« in der kapitalistischen Geldvermehrungsspirale stabilisiert. Die Brisanz der Frage ergibt sich aus den zerstörerischen Folgen dieses Zwanges. Während die Menge und Qualität menschlicher Arbeitsprodukte längst alle Armut aus der Welt geschafft haben könnte, führt(e) der konkurrenzgeleitete Investitionszwang zum »ausufernden Raubbau an natürlichen Ressourcen und ..… zu materiell zermürbenden und verzweifeltenLebensbedingungen der großen Mehrheit (sowie) … zu einer systematischen Untergrabung von Solidarität, Vertrauen und sinnvoller Kommunikation und damit auch zu schwerer Gewalt, Ausgrenzung und Entwürdigung in den sozialen Beziehungen.«

Unter den wahnhaft ignorierten Funktionsbedingungen der Geldwirtschaft nannte Berghold zunächst die (tendenziell zunehmende) Nicht-Erwerbsarbeit wie private Haus- und Erziehungsarbeit oder ehrenamtliche Gemeinde- und Fürsorgearbeit. Insgesamt werden für diese unbezahlte Arbeit mehr Stunden aufgewendet als für die bezahlte oder auf »selbstständigen« Gelderwerb gerichtete Arbeit. Des weiteren wird in der Naturhaft-Setzung jener Märkte, die derzeit wieder und wieder auf Kosten der Mehrheit »beruhigt« werden sollen, leicht vergessen, dass der Kapitalismus erst seit sieben bis neun Generationen die menschlichen Lebenszusammenhänge reguliert. Besondere Aufmerksamkeit widmete Berghold dem »Mythos, dass unsere Gesellschaft eine Leistungsgesellschaft sei«. Aus empirischer Sicht hätten sich weder Leistungsdruck, noch Belohnungen, noch Konkurrenz als verlässlicher Anreiz zu (kreativen und verantwortungsbewussten)
Leistungen bewährt. Was indessen in den vergangenen Jahrzehnten kontinuierlich zugenommen hat, ist die Wertschätzung des Geldes, insbesondere als Orientierungsmittel für die eigene Lebensplanung. Mit zunehmender Instabilität der Kapitalmärkte wachsen »Ängste vor dem sozialen Tod«, und die »schwach abgesicherten Selbstwertgefühle« fördern den Suchtcharakter der Finanzspekulationen. Als mögliche Gegenmittel benannte Berghold zum einen die Entwicklung und Pflege gleichberechtigter und nicht-machtorientierter Beziehungen, zum anderen die Förderung intrinsischer (gegenüber geldorientiert extrinsischer) Arbeitsmotivation.

Die Aktualität von Peter Brückners Gesellschaftskritik wurde eindrucksvoll von Klaus-Jürgen Bruder am Thema der aktuellen Finanz- und Wirtschaftskrise und speziell am Beispiel Griechenlands demonstriert. Bruder sieht darin vor allem eine »Krise der Kritiker der gegenwärtigen Zustände von Staat und Ökonomie«, die nicht erklären, »weshalb die Mehrheit der Bevölkerung dieser unübersehbar und ungehemmt gegen ihre Interessen sich richtenden Politik regungslos, widerstandslos, apathisch gegenübersteht…«

Zur Erklärung dieser gegenüber Brückners und Apo-Zeiten eher verstärkten Massenloyalität bezieht sich Bruder auf dessen Konzept der »innerstaatlichen Feinderklärung«, die die exemplarische Bestrafung von – realer oder auch nur unterstellter – Illoyalität vorsieht. Als sinnfälligstes aktuelles Beispiel behandelt er die Griechenlandkrise: »Für die Deutschen geben die Griechen die Rolle des Exempels ab, das ihnen vorführt, wie es auch ihnen gehen kann, wenn sie nicht der Regierung folgen, die zum Sparen bläst (und damit eindeutig, in jedermanns
Augen sichtbar, die Sozialleistungen meint, die Löhne, die Krankenversorgung … den Preis für ein gutes Leben).« Das Fernsehen spielt in dieser »Volkspädagogik« eine wichtige Rolle, weil es die drohenden Möglichkeiten der Verarmung und Deklassierung direkt in die Wohnzimmer (als nicht-öffentliche, von der gesellschaftlichen Teilhabe entfernte Orte) projiziert.

Die aktuelle Politik der sogenannten Rettungsschirme beschrieb Bruder als vorläufigen Höhepunkt einer »Schockstrategie« (Naomi Klein), die von Neoliberalen der Chicagoer Schule und weltweit als Gegenmittel gegen die Kapitalismuskritik der 68er-Bewegung im Rahmen eines »Katastrophenkapitalismus« eingesetzt wird, der wirtschaftliche oder militärische Schocks und Naturkatastrophen zur Durchsetzung von neoliberal begründeten Privatisierungen und Sozialabbau nutzt. Aus psychohistorischer Sicht liegen hier die Themen Angst und Angstabbau nahe – die neoliberal-konservative Wende könnte dann als Wachstumspanik gedeutet werden, die durch die 68er-Befreiungs- und Wachstumserfahrungen ausgelöst wurde.

Auf der NGfP-Konferenz erhielt schließlich Martin Kronauers spannende
Erörterung der Differenzen und Berührungspunkte von Brückners Begriff der sozialen Integration und einem neueren, von der »Exklusion« her gedachten Begriff der »Inklusion« große Zustimmung. Während Brückner Integration historisch und politisch als Einordnung in eine vorgegebene Gesellschafts- und Herrschaftsstruktur verstand, zielt Inklusion auf institutionalisierte Formen der Teilhabe. In Schulen bedeutet das den – in Deutschland aktuell besonders umstrittenen – gemeinsamen Unterricht für Schüler unterschiedlicher Leistungsniveaus und unterschiedlicher körperlicher und sozialer Voraussetzungen. In der Sozialpolitik bedeutet es die Ermöglichung eines menschenwürdigen Lebens und gesellschaftlicher Teilhabe für Arbeitslose und andere (partiell) ausgegrenzte Individuen und Gruppen durch rechtliche Voraussetzungen und ausreichende Transferzahlungen. Diese »besondere Form des Innerhalb« ermöglicht Kronauer zufolge eine Politik der Inklusion, die die ausgrenzenden Institutionen selbst infrage stellt.

Die soziologischen Überlegungen Kronauers verweisen mentalitätsgeschichtlich und psychohistorisch auf einen generationsspezifischen Wandel im Verhältnis zu gesellschaftlichen Machtstrukturen. Während »Integration« oder mehr noch der zeitgenössische Begriff der »Anpassung« für Linke der Apo-Zeit eine Art politischen Sündenfall markierte, werden Gesellschafts- und Herrschaftsstrukturen inzwischen mehrheitlich sehr viel weniger homogen und durch politische Teilhabe veränderbar gedacht. Auch wenn viele Aspekte der neueren gesellschaftlichen Entwicklung, wie die deutliche Umverteilung von unten nach oben, diesem Perspektivenwechsel vorerst nicht wirklich recht zu geben scheinen, drückt er vielleicht einen allgemeinen Angstabbau aus, der mit dem Abstand zu den Weltkriegen und den faschistischen Gewaltregimen sowie mit dem verbreiteten Angstabbau in den Eltern-Kind-Beziehungen zusammenhängt und bei kommenden Herausforderungen von Nutzen sein kann.

Fußnoten:
1 Die Zitate ohne Anmerkung entstammen teils den Vorträgen, teils den Abstracts im ausführlichen Konferenzprogramm: http://www.ngfp.de/wp-content/uploads/2012/02/NGfPKongress-2012_Programm.pdf. Voraussichtlich im Februar 2013 erscheinen die Beiträge in: Bruder, K.-J. / Bialluch, Ch. / Lemke, B. (Hg., 2013): Sozialpsychologie des Kapitalismus – heute. Zur Aktualität Peter Brückners (Psychosozial-Verlag, Gießen). Der nächste NGfP-Kongress ist vom 28. 2. bis 3. 3. 2013 zum Thema: »Machtwirkung und Glücksversprechen – Gewalt und Rationalität in Sozialisation und Bildungsprozessen« am gleichen Ort geplant.
2 vgl. Brückner (1972).
3 Brückner (1979), S. 36.


Literaturangaben:
Brückner, Peter (1972): Zur Sozialpsychologie des Kapitalismus. Sozialpsychologie der antiautoritären Bewegung (Frankfurt a. M. 1972).
Brückner, Peter (1979): Über die Gewalt. Sechs Aufsätze zur Rolle der Gewalt in der Entstehung und Zerstörung sozialer Systeme (Frankfurt a. M. 1979), S. 36ff.

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