Rezension zu Werke

HEP Informationen Berufsheilerziehungspflege in Deutschland e.V. 4/2013

Rezension von Ulf-Henning Janssen

Theorie und Praxis der Erziehung

»Fräulein, gehen Sie doch in den Garten, sehen Sie nach, was die Kinder machen, und verbieten Sie es Ihnen!« – nein, das war wahrlich nicht die Art der Pädagogik, die Siegfried Bernfeld vorschwebte. Die Perversion bürgerlicher Pädagogik als klares Feindbild und Entwürfe zu einer menschen-, vor allem aber kindgerechteren Pädagogik als Wunsch und Ziel, das ist Thema des vorliegenden fünften Bandes der Werkausgabe Siegfried Bernfelds.

Unter dem Titel »Theorie und Praxis der Erziehung« finden sich neben seiner 1925 erschienenen polemische Streitschrift »Sisyphos oder Die Grenzen der Erziehung« eine Fülle weiterer Texte, die das pädagogische Theoriegebäude Bernfelds bilden. So vor allem seine Thesen über den »Erzieher« aus dem Jahr 1927, die aktueller und wichtiger nicht sein könnten. Machtmissbrauch durch Pädagogen bildete letztlich die traurige Quintessenz der Missbrauchsdebatte in schulischen und betreuenden Einrichtungen der letzten Jahre und Jahrzehnte. Man wünschte allen angehenden und aktiven Pädagogen eine intensive Auseinandersetzung mit den Thesen Bernfelds, weil auch der kleine und eher unsichtbare Missbrauch durch pädagogische Mitarbeiter immer ein wesentliches Problemfeld dieser Arbeit darstellen.

In den Ausbildungsstätten sollte gerade dieser Text Pflichtlektüre werden. Wie ein derartiger Machtmissbrauch selbst im Dunstkreis pädagogischer Überväter wie Johann Heinrich Pestalozzi stattfand und sogar mit dessen Duldung stattfinden konnte und damit der Übervater eigentlich gar keiner war, auch das zeigt Bernfeld auf ebenso eindrucksvolle wie amüsant zu lesende Art. Es ist eben manchmal schwierig, keine Satire zu schreiben. Hierzu gehören naturgemäß aber auch die Texte aus Bernfelds Nachlass zur psychoanalytischen Ausbildung von Pädagogen, die im vorliegenden Band erstmalig der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden. Sie geben einen Einblick in die Zeit seiner Lehrtätigkeit am Berliner Psychoanalytischen Institut und in der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung in den 1920er und 1930er Jahren und runden das Bild seines theoretischen Zugangs zur Pädagogik ab. Und bei allen diesen Texten spürt man deutlich, dass sie von den Herausgebern mit viel Liebe und gleichermaßen großer Sorgfalt editiert wurden; ein wesentliches Kriterium, weil damit der Zugang zu Bernfelds Texten erheblich erleichtert wird. Sicher: Manche Vorstellung Bernfelds ist Utopie. Die Mischung aus jüdischer Kultur und Religion, Psychoanalyse und Marxismus vor dem Hintergrund unsicherer Zeitläufe ist heutigem Verständnis in manchem sicherlich eher fremd.

Und dennoch: Viele Vorstellungen von ihm sind weiterhin aktuell, viele Fragestellungen ebenfalls. Sozioökonomische Unterschiede auszugleichen und hierdurch Bildungs- und Teilhabechancen zu eröffnen sind so aktuell wie schon zu Bernfelds Zeiten – und die liegen immerhin neun Jahrzehnte zurück. Es lässt sich zudem nicht verleugnen: Es gibt Themen, die offenbar nie überwindbar sind, mögen sie auch noch so überholt sein. Die Diskussion um die »Erbbiologie« gehört offenkundig dazu, hatte doch unlängst ein ehemaliger Politiker ein vielbeachtetes Buch veröffentlicht, das die diesbezüglichen Thesen einmal mehr aufgriff, um daraus wiederum »die natürliche durchschnittliche Überlegenheit der gehobenen Schichten« zu postulieren. Ein Unsinn, wie wir wissen, aber offenbar unausrottbar. Die diesbezüglichen Texte Bernfelds, schon 1926 verfasst, legen hiervon beredtes Zeugnis ab. Umso erfreulicher, die von ihm mit spitzer Feder und unverkennbarem Sarkasmus geschriebenen Repliken zu lesen. Siegfried Bernfeld, man ahnt es, hätte auch an der aktuellen Debatte seine reine Freude gehabt. Der heutige Leser jedenfalls genießt das Sezieren dieser Thesen ebenso wie die Lektüre dieser Texte.

Kurzum: Es ist ein gutes, ein wichtiges Buch, dass Verlag und Herausgeber hier vorgelegt haben. Ganz nebenbei liest es sich auch ebenso erfreulich wie amüsant.

Siegfried Bernfeld: Theorie und Praxis der Erziehung / Pädagogik und Psychoanalyse. Werke, Band 5 Psychosozial-Verlag ISBN-13: 9783837921618 EUR: 49,90.

www.berufsverband-hep.de

zurück zum Titel