Rezension zu Im Spiegel des Anderen (PDF-E-Book)
Forum Kommune 6/05
Rezension von Evelyn Hanzig-Bätzing
Das Selbst und der Andere
»Medialer Narzissmus« und das Problem der Anerkennung.
Über Martin Altmeyers »Im Spiegel des Anderen«
Seit Fichte und Hegel verbindet sich mit dem Begriff des
Selbstbewusstseins ein bestimmtes Verständnis von Sozialbeziehung,
das untrennbar verbunden ist mit dem Begriff der ›Anerkennung‹. Es
geht hierbei um eine auf Gegenseitigkeit beruhende Anerkennung.
Sofern sich diese Gegenseitigkeit aber einem vom Subjekt
angestrebten ›identitätsfixierten‹ Anerkennungsverhältnis verdankt,
ist Subjektivität per se mit Nivellierung und Assimilierung ihrer
Andersheit bedroht mit der Konsequenz, dass der Andere bloß
anerkannt wird als der andere ›des‹ Anderen.
Unsere abendländische Denktradition hat Selbstheit und Andersheit,
Eigenheit und Fremdheit auf ein Anerkennungsverhältnis hin
ausgelegt, das von Unterstellungen zehrt, die den Anspruch
aushöhlen, den anderen Menschen in seiner Eigenheit, Besonderheit
und schließlich in seiner Fremdheit anzuerkennen: Sie hat, indem
sie Subjektivität mit Wissen identifizierte, die Vorrangstellung
des Subjekts gegenüber allem Gegebenen behauptet und damit die dem
Wissen sich stets einziehende Andersheit des anderen Menschen dem
je Bekannten, Gewusstes angeglichen and als solche nie anerkannt.
Mit dem sozialphilosophischen Projekt einer auf Gegenseitigkeit
beruhenden Anerkennung verbindet sich nichts anderes als ein
Herrschaftsanspruch gegenüber der Andersheit – nicht nur von
Anderen, sondern auch von anderem und keinesfalls eine auf die
Unverfügbarkeit und Dignität des Anderen abzielende Anerkennung.
Anerkennung im traditionellen Verständnis unterdrückt wirkliche
Andersheit, weil sie den anderen Menschen auf Identifizierbares und
darin auf schon je Gewusstes, auf Klassifizierbares und
Bestimmbares reduziert und damit auf dessen Verfügbarkeit hin
auslegt: Der Augenblick der Anerkennung wird in ein bloßes
›Wiedererkennen‹ verwandelt.
In dieser, auf die Grundlegung von Subjektivität abzielenden
Denktradition steht auch Freuds psychoanalytischer Zugang zum
Konstitutionsgrund des Selbst. Dass Freud zwischenmenschliche
Beziehungen und die äußere Realität des Menschen lediglich aus dein
Blickwinkel der Projektionen individuellen inneren Erlebens
wahrnehmen und äußere Konflikte als bloß unbewältigte innere
Konflikte verstehen konnte, hat seinen Grund in Freuds Auffassung,
derzufolge sich die äußere Realität des Menschen allein aus der auf
seine Innenwelt zentrierten, also aus der Realität des Selbst,
ableiten lässt. Denn, »ursprünglich« – wie Freud in Das
Unbehagen in der Kultur betont -, »enthalt das Ich alles,
später scheidet es seine Außenwelt von sich ab.« Und das heißt:
Ursprünglich (vermöge seiner «halluzinatorischen Wunscherfüllung«)
identisch mit sich, zielt das Subjekt in seinem Daseinsvollzug auf
eine vertraute Innerlichkeit – aber auf die beim Anderen, sofern er
es ist, von dem her es allein die Verwirklichung seiner selbst
erwartet. Nämlich des Realwerdens jenes ›Prinzips‹, wonach es sich
von zunächst primitiven zu immer reicheren Strukturen, von seiner
anfänglichen Undifferenziertheit zu einem getrennten,
selbstbewussten Subjekt entwickelt.
Der Mutter kommt hierbei die zentrale Bedeutung zu, sofern sie das
»Lust« – ›als‹ »Realitätsprinzip« zu verkörpern hat. Und insofern
ist sie das Konstituens der »psychischen Geburt des Kindes«. Das
bedeutet: Sie muss ihre Pflegehandlungen für das Kind derart
erfahrbar machen, dass sie sich für das Kind vom
bedürfnisbefriedigenden Objekt zum identitätsstiftenden Anderen
verwandelt. Sie muss das Kind mit der Enttäuschungserfahrung
unmittelbarer Befriedigung seiner Bedürfnisse konfrontieren, durch
die das Kind dann zwischen sich (seinem Bedürfnis) und der Mutter
(der Bedürfnisbefriedigung) zu unterscheiden lernt und durch die
jene Kluft entsteht, die Selbstreflexivität zuallererst ermöglicht.
Freuds Verständnis des Konstitutionsgrundes von Subjektivität geht
von der fundamentalen Voraussetzung aus, dass es eine ursprüngliche
Mangelerfahrung gibt, aus der heraus sich die Subjektivität des
Subjekts konstituiert. Es ist die Mutter, an der und durch die das
Kind das Phänomen der Spaltung seinen Bedürfnisses von dessen
Befriedigung erfährt. Und insofern ist es die Mutter, die das
›Zwischen‹ konstituiert, der als der Ort zwischenmenschlichen
Begegnens Selbstheit und Andersheit voneinander getrennt hält,
indem es sie aufeinander bezieht, aber eben so, dass das Selbst
seine Andersheit gegenüber dem Anderen allein ›durch‹ ihn zu
erfahren vermag: Der Andere ist bloß ›als‹ das andere ›des‹ Anderen
ein Anerkanntes, weil er ›sich‹ (sein Selbst›verhältnis‹) dem
Anderen verdankt.
Die Frage nach dem Anderen grenzt – wie keine andere – die
Gegenwart von der Tradition abendländischen Denkens ab. Und sie
gewinnt derzeit zunehmend an Bedeutung und zwar in dem Maße, in dem
das heutige Autonomiestreben als Entleerung des Selbst und der
Mitmensch als bloßes Fremd-Ich erlebt wird. Auf eine Andersheit ist
deshalb hinzuarbeiten, die ursprünglich, konstitutionell zur
Selbstheit gehört. Und zwar so, dass Subjektivität ›als‹ die
Anerkennungsbedürftigkeit des Menschen zu verstehen ist. Es ist nun
genau diese Nahtstelle zwischen Selbstheit und Andersheit, aus der
heraus Martin Altmeyer in seinem Buch die ›Conditio humana‹ in den
Blick zu nehmen versucht. Und in dem er sie aus der
zeitdiagnostischen Perspektive der durch die heutigen Medien
evozierten narzisstischen Strukturen, dem »medialen Narzissmus«,
wahrnimmt, gelingt ihm nicht nur eine Neuinterpretation des
feudschen Narzissmusbegriffs. In einem luzide verfassten Text
verknüpft Altmeyer Philosophie und Psychoanalyse, ohne die eine
zugunsten der anderen zu reduzieren. Er entwickelt die Conditio
humana, indem er sie als ein intersubjektives Geschehen einsichtig
macht, dem traditionellen Einheitsdenken, und errichtet im
intersubjektiv begründeten Narzissmus den gemeinsamen Boden von
Psychoanalyse und Philosophie. Auf das ›Verhältnis‹ zwischen
Selbstheit und Andersheit zurückgebogen, entsteht so eine
Vermitteltheit des sozialphilosophischen Motivs der Anerkennung mit
dem basalen Selbst, in das der Andere immer schon eingelassen ist,
das heißt: Das Selbst ist immer schon ein durch den Anderen
Eingefärbtes. Oder anders gesagt: Das Sein des Menschen ist immer
schon ein Mit›da‹sein mit Anderen.
Freuds »psychoanalytische Dichotomie von Ich und Realität, die sich
in den Gegensätzen von Trieb und Kultur, Selbst und Objekt,
Narzissmus und Anderem fortsetzt, ist von der latenten
Anthropologie einer feindlichen Außenwelt durchzogen«. Dieser
Auffassung liegt die keineswegs plausible fundamentale
(Voraus-)Setzung «eines weltabgewandten, objektlosen
primärnarzisstischen Zustands« des basalen Selbst zugrunde. »Der
Narzissmus« – so eine der zentralen Aussagen Altmeyers – »ist in
einem Zwischenbereich angesiedelt, welcher das Selbst mit dem
Anderen verbindet.« Infolgedessen ist der Narzissmus per se
intersubjektiv begründet und eben nicht eine auf Selbstgewissheit
und Selbstidentität ausgelegte Denkfigur der freudschen
Psychoanalyse, welche von jeher einem bloß theoretisch fundierten
ursprünglichen Einheitsbegehren des Subjekts folgt, dem dann –
sozusagen in einem zweiten Schritt – die Konstituierung des Selbst
durch die von der Mutter herbeigeführte Enttäuschungserfahrung
ihrer Totalpräsenz nachfolgt.
Mit Altmeyers Ansatz bei der ›Intersubjektivität des Narzissmus‹
des frühkindlichen Selbst wird diese traditionelle
psychoanalytische Auffassung obsolet. Und mit ihr der
Absolutheitsanspruch des Menschen (der auch die philosophische
Denktradition begründet), der sich in seiner Beziehung zum Anderen
hindurch perpetuiert. Es geht bei diesem Ansatz um nichts
Geringeres als um eine Grundkonzeption: um den Aufweis nämlich,
dass sich Subjektivität ›als‹ das Angewiesen- und Verwiesensein auf
den Anderen konstituiert, und insofern ›ist‹ sie das
Nicht-ganz-sein-Können des Subjekts, das auch durch den Anderen
nicht ergänzt werden kann: fungiert der Andere als Ergänzung meiner
selbst, so wird er instrumentalisiert.
Im Verständnis von Altmeyer von der intersubjektiven Basis der
Conditio humana liegt denn auch beispielsweise: Die ›Liebe‹ ist
nicht als eine Eigenschaft des Subjekts zu begreifen, sondern als
das Prädikat seiner Beziehung zum Anderen. Diese Auffassung der
Conditio humana ist übrigens auch und vor allem für das Verständnis
der ›Würde‹ des Menschen relevant, sind sie leistet insofern auch
für die heutigen Ethik-Diskussionen einen wesentlichen Beitrag.
Denn der Begriff der Würde (untrennbar mit dem der Menschenrechte
verbunden) bezieht sich eben gerade nicht auf irgendwelche
Eigenschaften des Menschen, aus deren Bestimmung sich dann die der
Würde ableiten liege (oder nicht). Sondern der Würdebegriff
bezeichnet ein ›Verhältnis‹, nämlich das der Menschen
untereinander. Und damit verbietet er gleichsam eine Definition
dessen, ›was‹ den Menschen zum ›Menschen‹ macht. Die heutigen
Diskussionen um die Frage nach dem genauen Zeitpunkt des
Lebensbeginns, die mit den würdeverletzenden Handlungen bei der
Forschung an embryonalen Stammzellen aufgekommen sind, haben
letztlich ihren Grund in diesem neuzeitlichen Konzept der Würde
›als‹ einem Verhältnis, dem ›Zwischen‹ der Menschen, in welchem
sich die Subjektivität des Subjekts als sein Angewiesen- und
Verwiesensein auf Andere manifestiert. Deshalb wird auch derzeit
den utilitaristisch motivierten Positionen, die die Würde des
Menschen an Eigenschaften binden und sie somit qualifizieren,
Plausibilität zu verschaffen versucht, um die ethischen Probleme
der verbrauchenden Embryonenforschung auszuhebeln, die durch die
Verletzung den klassischen Würdekonzepts durch die neue
Fortpflanzungs- und Biomedizin entstanden sind.
Gegen Freuds dualistische Konzeption der Genese des Selbst, der
Theorie eines »primären Narzissmus« und gegen Jacques Lacans
Dialektik des »Begehrens«, als das sich das Selbst ›zwischen‹ dem
»Bedürfnis« (auf Befriedigung) und dem »Anspruch« (auf Liebe) und
folglich ›durch‹ die anwesende Abwesenheit des Anderen
konstituiert, macht Altmeyer »die intersubjektive Herkunft des
Subjektiven« geltend, »das sich im kommunikativen Austausch mit dem
Anderen über Prozesse der Spiegelung und Anerkennung ... als etwas
Eigenes erst entwickelt«. Darin ist schon mitbeschlossen: Das
Selbst ›wird‹ nicht interaktionsfähig ›gemacht‹, sondern es ›ist‹
diese Fähigkeit. Und als solche ins es immer schon auf den Anderen
verwiesen und darin angewiesen auf dessen Fähigkeit
intersubjektiven In-Beziehung-Seins. Altmeyers Narzissmusbegriff
meint »die Spiegelung den Selbst im Anderen«: Narzissmus ist nicht
»solipsistische Selbstbegegnung«. Sondern mit ihm und durch ihn
entsteht ein – inn Sinne Winnicotts – »intermediärer Raum«, in
welchem sich Anerkennung als gegenseitige generiert. Mit dieser
Neuinterpretation des Narzissmus will Altmeyer zugleich eine
ldentitätstheorie postmoderner Subjektivität begründen. Leider
fallt er hierbei hinter seine – für Psychoanalyse und Philosophie
so wichtige – Intention zurück, nämlich das Selbst aus dem
»Zwischenbereich« zum Anderen zu fundieren, und damit ›Anerkennung‹
auf die ›Andersheit‹ und darin auf das›Anderswerden‹ (-können) des
Menschen zu zentrieren. Weil er das Argument (der »intersubjektiven
Herkunft des Subjektiven«) nicht benutzt, das seine
Narzissmustheorie stützt, setzt sich gewissermaßen hinter seinem
Rücken ein Positivismus durch, der seinen Neuansatz bei der
Conditio humana als einem intersubjektiven Geschehen (das sich als
solches einem positiven Zugriff aufs Selbst entzieht) unterminiert.
Altmeyers Zeitdiagnose des »medialen Narzissmus« gerinnt auf diese
Weise zu einer positiven Setzung des »neuen« durch die Medien
erschaffenen »Subjekts«, das »im Auge der Kamera« entsteht.
Altmeyers Formel für den Konstitutionsgrund postmoderner Identität
lautet deshalb: »Ich werde gesehen, also bin ich.« Sie soll das
Gegengift zum cartesianischen »cogito ergo sum« sein. Sie
reformuliert jedoch nur – wahrscheinlich unbeabsichtigt –
Descartes’ Abwertung von Andersseiendem, Unberechenbarem,
Unbestimmbarem (durch das ›Primat‹ der »res cogitans« über die »res
extensa«). Dies ist insofern der Fall, als Altmeyer den
»identitätsstiftenden Austausch« mit dem Anderen in etwas »Drittem,
den Medien«, begründet, durch die Anerkennung gestiftet wird. Damit
wird den Medien das Primat zugesprochen, den Ort ›zwischen‹ dem
Selbst und dem Anderen an besetzen und deren ›Beziehung‹
herzustellen. Es handelt sich bei einer solchen durch die Medien
erzeugten Identität aber gerade nicht um eine selbstreflexive
Identität des Menschen. Sondern vielmehr um eine, die dadurch
entsteht, dass Anerkennung durch die Medien bloß ›fingiert‹ wird
und dass Identität deshalb bloß als deren Reflex besteht. Und
dadurch, dass Identität Reflex der Medien ist, kann sich das
Subjekt auch nur in einer ebensolchen anderen Identität »spiegeln«
und in diesem Sinne »austauschen«. Alles dem Medium gegenüber
Andere ist darin ausgeschlossen, wird nicht anerkannt, weil nicht
›wieder‹erkannt.
Eines trifft durchaus zu, dass wir in den »performativen Mustern
zeitgenössischer, auf der Bühne der Öffentlichkeit vorgetragener
Selbstkonzeptualisierungen ... etwas erfahren über die
intersubjektive Genese des Selbst«. Aber nur ›ex negativo‹ – und
nur so bestenfalls dadurch, dass wir in dieser Postmodernen
Identität so etwas freilegen wie die »verdeckte Suche nach
spiegelnder Anerkennung« der Andersheit und dadurch den medialen
Narzissmus als das wahrnehmbar werden lassen, was er bewirkt:
nämlich Subjektivität bloß noch als die Inszenierung des Selbst zu
verstehen.