Rezension zu Behinderung und Gerechtigkeit (PDF-E-Book)
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Rezension von Benjamin Haas
Markus Dederich, Heinrich Greving u.a.: Behinderung und
Gerechtigkeit
Thema
Grundsätzlich ist in Debatten um Inklusion der Konzeptionalisierung
von Behinderung als historisch-kultureller Differenz eine stärkere
Beachtung zu schenken. Dabei ist zu analysieren »ob das normative
und mit universalem Anspruch auftretende Postulat der Inklusion mit
einer faktisch diversifizierten und heterogenen Kultur (…)
durchsetzbar ist« (S. 13). Außerdem gilt es herauszuarbeiten, auf
welche Weise gesellschaftliche Institutionen wie die Disziplin und
Profession der ›Heilpädagogik‹ an der Produktion und Reproduktion
dieser Kultur teilhaben.
Nach Ansicht der Herausgeber ergibt sich dieses Gebot in besonderer
Weise aus den Diskussionen um Behinderung und Gerechtigkeit im
Zusammenhang mit der Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention.
Dass diese auf die Unmöglichkeit einer vollständigen Klärung
inklusionsbezogener Fragen verweist, ist Gegenstand der
vorliegenden Publikation. Davon ausgehend wird der Versuch
unternommen, die politische Dimension der ›Heilpädagogik‹ durch die
Bestimmung von Wechselseitigkeiten zwischen Kultur, Politik und
Disziplin herauszuarbeiten bzw. rekonzeptionalisieren.
Entstehungshintergrund
Wie bereits in den drei vorausgegangenen Veröffentlichungen der
Herausgeber (›Zeichen und Gesten‹, ›Inklusion statt Integration‹
und ›Heilpädagogik als Kulturwissenschaft‹) so wird auch im
vorliegenden Band der Versuch unternommen neue Wege bei der
Untersuchung zentraler Problemstellungen der ›Heilpädagogik‹ zu
beschreiten, bzw. aktuelle Fragen in einem kulturellen Kontext zu
reformulieren. Ausgangspunkt ist dabei die Feststellung, dass die
politische Dimension der ›Heilpädagogik‹ seit der Materialistischen
Behindertenpädagogik meist zu wenig beachtet wird, wodurch
organisatorische und organisationskulturelle Fragestellungen aus
dem Blick geraten.
Aufbau
Den 15 Beiträgen dieses Bandes ist eine fundierte Einleitung der
Herausgeber vorangestellt, in welcher die zentralen Begriffe
definiert und Zusammenhänge zwischen diesen Themenfeldern stringent
erläutert werden.
Im ersten Kapitel zum Thema »Gerechtigkeit« stehen vor allem
ethische Fragen im Kontext von Freiheit und Selbstbestimmung und
deren Verhältnis zur ›heilpädagogischen‹ Praxis im Mittelpunkt.
Die Beiträge des zweiten Kapitels zum Bereich »Politik« nehmen
anschließend die verschiedenen Dimensionen des Politischen zum
Ausgangspunkt und diskutieren die Ausgestaltung verschiedener
Dimensionen der Verwirklichung bzw. Verhinderung von Gerechtigkeit,
vor allem anhand deren Auswirkungen auf behinderte Randgruppen.
Der letzte Abschnitt zum Thema »Kultur/Kulturpolitik« geht von der
These aus, dass der gesamte kulturelle Raum auf die Gestaltung des
Politischen zurückwirke und Kultur und Politik sich wechselseitig
aufeinander beziehen. Kulturpolitik ist demnach zu verstehen als
»ein Schauplatz für bzw. Austragungsort von Konflikten, Ideen und
Differenzen« (S. 12).
Zu Kapitel 1: Gerechtigkeit
In seinem Beitrag »Recht und Gerechtigkeit« verweist Markus
Dederich auf Leerstellen und Fehlannahmen in Diskussionen um
Gerechtigkeit und Inklusion. Er konstatiert nicht nur eine
Vernachlässigung von individuellen Handlungsdimensionen und somit
einer konsequenten Bezugnahme auf sozialethische Perspektiven,
sondern auch eine meist unausgesprochene Gleichsetzung von Recht
und Gerechtigkeit. Diese diskutiert er kontrastierend durch eine
Bezugnahme auf eine philosophiegeschichtliche Abhandlung des
Verhältnisses von Recht, Gerechtigkeit und Moral, Emmanuel Levinas
Konzeption von Gerechtigkeit als einer spezifischen sozialen
Figuration und Jacques Derridas ›Aporien des Rechts‹. Abschließend
stellt er zur Diskussion »ob das Recht das richtige Medium ist,
Gerechtigkeit herzustellen« (S. 32) und verweist auf die Grenzen
einer stark normorientierten Inklusion, die gelebte Werte zu
vernachlässigen droht.
Peter Rödler arbeitet in »Menschen(ge)recht – Anthropologische
Grundüberlegungen zu einer menschlichen Qualität« anschaulich
heraus, dass die Forderung ›Inklusion für alle‹ aufgrund der
derzeitigen Verteilung materieller Ressourcen – national wie global
– in ihrem Gesamtanspruch als Utopie zu bezeichnen ist. Des
Weiteren diskutiert er anthropologische Grundvoraussetzungen, um
einen universell gültigen normativen Kern zu begründen. Martha
Nussbaums ›Capability-Approach‹ stellt er dabei das Konzept der
›biologistischen Unbestimmtheit‹ entgegen, welches auch auf
Menschen mit schweren Beeinträchtigungen angewendet werden könne
und auf die zentrale Bedeutung des sozialen und kulturellen
Eingebundenseins verweist. Rödler zufolge ließen sich ausgehend von
diesem »anthropologischen Zentralpunkt« (S.45) wahrhaft inklusive
Zielperspektiven – pädagogisch wie gesellschaftlich – formulieren
und derzeitige Verfahren auf dieser Grundlage bewerten.
Sascha Plangger und Volker Schönwiese heben in ihrem Beitrag
»Bildungsgerechtigkeit zwischen Umverteilung, Anerkennung und
Inklusion« mit einem Rekurs auf Nancy Frasers Gerechtigkeitskonzept
der ›partzipatorischen Parität‹ hervor, dass gerade in neoliberalen
Kontexten das soziale und kulturelle Modell von Behinderung der
Disability Studies nicht gegeneinander ausgespielt werden dürfen.
Vielmehr gelte es in Diskussionen um (Bildungs-)Gerechtigkeit
Behinderung als dreidimensionales Phänomen (Ökonomie, Kultur,
Politik) zu betrachten. In Abgrenzung zu »dekonstruktivistischen
Theorie-Entwicklungen« (S. 68) betonen sie die Relevanz empirischer
Forschungen auf dem Gebiet der Inklusion, die sie an Beispielen
veranschaulichen.
Aus einer politisch-philosophischen Perspektive fragt Christian
Lindmeier in «Gerechtigkeit, politische Inklusion und Behinderung«
nach Möglichkeiten einer fundamentalen (Teilhabe-)Gerechtigkeit.
Mittels einer soziologischen Begriffsbestimmung von Inklusion und
Exklusion hebt er die Notwendigkeit der Reflexion von Machtfragen
bezüglich der Rechtfertigung und Bestimmung der Verteilung von
Gütern hervor. Zudem stellt er das Potential des ›capability
approaches‹ und die Notwendigkeit eines »beständigen politischen
›Monitorings‹ unter Beteiligung von behinderten Menschen« (S. 90)
heraus.
Mit dem Dilemma, dass »Gerechtigkeit und Inklusion (…) in der
gemeinschaftlichen Sphäre ihren engen Zusammenhang« (S. 108)
verlieren und dass »gemeinschaftliche Inklusion letztlich eine
Frage der Freiwilligkeit ist« (S. 97), setzt sich Franziska Felder
im Beitrag »Inklusion und Gerechtigkeit« auseinander. Die Autorin
verdeutlicht, dass das Verhältnis von Inklusion und Gerechtigkeit
zwar auf einer basalen Ebene durch die Anerkennung Aller und
gesellschaftliche Teilhabe an demokratischen
Willensbildungsprozessen gewährleistet werden könne. Auf einer
gemeinschaftlichen Ebene bleibe dieses Verhältnis letztlich jedoch
aufgrund der notwendigen individuellen Freiheit unbestimmt. Hier
schlägt Felder vor, die Bezugnahme auf Recht und Gerechtigkeit
durch das Interesse am konkreten Anderen zu erweitern.
Zu Kapitel 2: Politik
Anne-Dore Stein stellt in »Das Politische als das Handeln im
›Zwischen‹ – Die politische Dimension der Heilpädagogik« dezidiert
die Notwendigkeit eines aktiven politischen Handelns der Disziplin
heraus. Das Politische definiert Stein unter Bezugnahme auf Hannah
Ahrendt (politischer Raum als kulturelle, intersubjektiv
hervorgebrachte Leistung) und Oskar Negts Verantwortungsbegriff.
Übertragen auf die ›Heilpädagogik‹ verlange diese Rahmung die
Klärung der Frage, »welche Art von gesellschaftlicher Institution
›die Heilpädagogik‹ heute ist« (S. 120) bzw. »eine
historisch-kritische Auseinandersetzung mit der eigenen Disziplin
und ihrer gesellschaftlichen Funktion der Selektion der
›Nicht-Brauchbaren‹« (S. 119). Daher sei die historische
Vorherbestimmung durch scheinbar ›objektiv-natürliche‹ Sachverhalte
und die eigene Ausrichtung auf Selektion und Separation in gleichem
Maße in Betracht zu ziehen, wie aktuelle gesellschaftliche
Entwicklungen eines ›autoritären Kapitalismus‹ (Heitmeyer). Stein
resümiert, dass die derzeit herrschende Sprachlosigkeit durch ein
politisches Handeln im Zwischen unter anderem dadurch zu überwinden
wäre, dass die Disziplin diesen Widerstreit offenlege und als
Katalysatorin inklusiver Strukturen fungiere.
Jörg Michael Kastl fordert in seinem kritischen und teils
überspitzt anmutenden Beitrag (»Inklusionspropaganda« S. 150) eine
Konkretisierung des Inklusionsdiskurses, u.a. durch eine
soziologische Begriffsbestimmung von »Inklusion und Integration«.
Dabei problematisiert Kastl Fehlannahmen in aktuellen Diskussionen
um Inklusion. Diese sieht er sowohl in übersteigerten Hoffnungen an
die UN-BRK als auch in einer unkritischen Bezugnahme auf Annedore
Prengels Konzept der ›Pädagogik der Vielfalt‹.
Dass Wissenschaft und Forschung hochwirksame Macht- und
Herrschaftsinstrumente sind und im deutschsprachigen Raum die
Definitions- und Gestaltungsmacht bisher weitestgehend bei
nichtbehinderten Forscher_innen liegt, thematisiert Petra Flieger
in »Durch Partizipation zu mehr Gerechtigkeit in der Forschung zu
Behinderung«. In Anlehnung an den Rechtsphilosophen Peter Koller
und Nancy Frasers Konzept der ›partizipatorischen Parität‹ stellt
sie Potentiale partizipatorischer Forschung für Gerechtigkeit in
Forschung und Gesellschaft heraus. Die Anforderungen an selbige
hält Flieger auf der Grundlage eines internationalen Vergleichs von
partizipatorischen Forschungsansätzen überblicksartig fest und
verweist abschließend auf Best Practice Modelle.
Ob und inwieweit mit Verfahren individueller Hilfeplanung Teilhabe
hergestellt werden kann, fragt Erik Weber in seinem Beitrag. Da
Hilfeplanung aufgrund des Zusammentreffens unterschiedlicher
Interessenlagen als ambivalente Angelegenheit zu betrachten sei und
die konsequente Achtung persönlicher Kompetenzen sowohl durch
defizitäre Diagnosen als auch die zentrale Stellung von
Gesundheitsproblemen im SGB erschwert werde, fordert er geeignete
Strukturen für ein rechtlich abgesichertes, teilhabeorientiertes,
personenzentriertes und sozialräumliches Arbeiten in der
Behindertenhilfe.
Ausgehend von Pierre Bourdieus Kapitaltheorie und auf der Grundlage
zum Teil eigener empirischer Erkenntnisse arbeitet Fabian van Essen
in seinem Beitrag »Die politische Dimension der sozialen
Konstruktion von ›Lernbehinderung‹« anschaulich heraus. Van Essen
zufolge zeige sich die politische Dimension daran, dass durch die
Kategorie ›Lernbehinderung‹ soziale Ungleichheit reproduziert
werde. Aufgrund einer weiterhin defizit-orientierten und
medizinisch-biologisch konnotierten Etikettierungspraxis seien
zudem negative Auswirkungen auf die Subjketivierung festzustellen,
welche ein verändertes disziplinäres Selbstverständnis erfordern.
Diese Überlegungen münden in die zaghaft anmutende Forderung des
Autors den disziplinären Zuständigkeitsbereich zu einer »Pädagogik
für sozial Benachteiligte« (S. 198) zu erweitern. Nach Ansicht des
Rezensenten wäre an dieser Stelle eine Kontextualisierung
hinsichtlich aktueller Diskussionen um Dekategorisierung und eine
subsidiäre Konzeption der ›Sonderpädagogik‹ hilfreich.
Zu Kapitel 3: Kultur/ Kulturpolitik
Das dritte Kapitel beginnt mit einem Beitrag von Erich Otto Graf.
Darin postuliert dieser, dass der Zugang zu formaler Bildung gerade
im Kontext aktueller gesellschaftlicher Entwicklungen im
Neoliberalismus nur bedingt einen Beitrag zur Gerechtigkeit liefern
kann. Vielmehr, so Graf, bedürfe es veränderter gesellschaftlicher
Kräfteverhältnisse unter Beteiligung der Betroffenen.
Warum der gesellschaftliche Perspektivenwechsel im Zusammenhang mit
Inklusion schwer zu vollziehen ist, diskutiert Holger Burckhart in
seinem Essay. Im Sinne des Konzepts der ›diskursiven Ethik‹ als
einem verantwortungsethischen Ansatz verweist er auf die
Notwendigkeit Differenz »als Vielfalt moralisch und kommunikativ
Gleichartiger und -wertiger« (S. 227) zu betrachten und Inklusion
somit als gesellschaftliche Aufgabe zu verstehen.
In seinem fundierten Beitrag »Zur Kultur der Gerechtigkeit der
Heilpädagogik« geht Heinrich Greving der Frage nach wie die
›Heilpädagogik‹ zur sozialen Gerechtigkeit beitragen kann. Er
diskutiert dies ausgehend von einer definitorischen Grundlegung des
Kulturbegriffes und gerechtigkeitstheoretischer Überlegungen,
woraus er spezifische Anforderungen an das Professionsverständnis
der ›Heilpädagogik‹ ableitet. Mit Verweis auf konstruktivistische
Überlegungen und sein eigenes Modell zur fachlichen Dimension der
›heilpädagogischen‹ Professionalität fordert Greving eine
mehrdimensionale Orientierung unter anderem aufgrund aktueller
gesellschaftlicher Tendenzen im Neoliberalismus. ›Heilpädagogik‹
müsse demnach differenztheoretisch, interdisziplinär und multimodal
agieren.
Christian Mürner diskutiert in »›Gerechtigkeit ist nur auf der
Bühne‹ Kulturpolitische Perspektiven zur narrativen Heilpädagogik«
die Bedeutung einer ästhetischen und narrativen Perspektive in der
Darstellung von Behinderung. Dabei hebt er das Potential
literarischer Darstellungen hervor, welche Behinderung
mehrperspektivisch thematisieren. Mit Bezug auf Theodor W. Adornos
›Ästhetische Theorie‹ fordert der Autor eine ästhetische Dimension
in der kulturpolitischen Perspektive, deren Ambivalenz hilfreich
erscheint, um defizitäre Sichtweisen zu verringern und
Gerechtigkeit zu erhöhen.
Jan Weisser fordert in seinem Beitrag »DisabiLiTy STudies in
EducaTion: Kritische Wissensaktivitäten« entfalten eine radikale
Referentialisierung eigener Wissensaktivitäten. Er greift dabei das
im deutschsprachigen Raum bisher nicht beachtetet Konzept der
›Disability Studies in Education‹ auf und verdeutlicht die
Notwendigkeit diskursiver Interventionen exemplarisch an einem
Gerichtsurteil des schweizerischen Bundesgerichtshof zur
integrativen Beschulung. Weisser zufolge zeichne sich die
Perspektive der Disability Studies in Education durch eine
kritische Betrachtung von Barrieren im Zusammenhang von Bildung und
Behinderung aus. Kritische Wissensaktivitäten zielen dabei auf die
Überwindung bestehender Barrieren, die Thematisierung normativer
Konstrukte und Beteiligungsprobleme in der Wissensproduktion.
Diskussion
Die hier versammelten Beiträge verdeutlichen durch die Vielzahl
theoretischer Perspektiven sowie weitestgehend durch ihre
inhaltliche Stringenz und analytische Tiefe eindrucksvoll, dass es
sich bei Inklusion nicht um ein voraussetzungsfreies Anliegen
handelt, sondern deren Umsetzung stets historisch-kulturell
determiniert ist. Wenngleich Inklusion nicht dezidiert im Zentrum
steht, können die Ausführungen zum Verhältnis von Behinderung und
Gerechtigkeit doch grundsätzlich zu einer Schärfung der
Begrifflichkeit beitragen. Besonders hervorzuheben ist, dass die
Beiträge auf die Eingebundenheit der ›heilpädagogischen‹ Praxis und
Theorie in kulturelle Zusammenhänge verweisen und somit
innerdisziplinär/-professionelle Barrieren aufzeigen, denen
zukünftig eine größere Beachtung zukommen sollte.
Die systematische Unterteilung durch die drei Unterkapitel sowie
die Klärung zentraler Begrifflichkeiten in der Einleitung erweisen
sich als äußerst hilfreich, um die unterschiedlichen Analyseebenen
voneinander zu trennen.
Gleichzeitig ist kritisch anzumerken, dass eine weitergehende und
grundlegende definitorische Bestimmung von Behinderung (‚nicht
diagnostisch oder klassifikatorisch, sondern kritisch-analytisch‘,
S. 14) hilfreich wäre, um die angestrebte kritische Perspektive der
‚Human Abilities Studies‘ zu erweitern. Denn trotz erwähnter
Konvergenzen zu den Disability Studies bleibt meist offen,
inwiefern deren kulturelles Modell von Behinderung, besonders
bezogen auf die Konstruktion körperlicher Schädigungen, Beachtung
findet. Zwar liefern beispielsweise Plangger und Schönwiese
zunächst ein weitreichendes Konzept von Behinderung, indem sie
dieses dreidimensional (ökonomisch, kulturell und politisch)
anlegen und somit eine vielversprechende Kombination aus sozialem
und kulturellen Modell anstreben. Inwiefern die
Mehrheitsgesellschaft Bilder von Behinderung erzeugt oder gar
körperliche Schädigungen produziert, bleibt dabei jedoch
unbeantwortet.
Ähnlich verhält es sich mit Steins definitorischer Grundlegung von
Behinderung nach Feuser (S. 123), bei welcher die
biologisch-organische Beeinträchtigung als naturgegeben
durchscheint. An dieser Stelle wäre eine dezidierte Bezugnahme auf
die Kritik an ontologisierenden Zuschreibungen körperlicher
Schädigungen der Disability Studies (vgl. Waldschmidt 2007)
erfolgversprechend, gerade um die berechtigten Einwände bzgl.
medizinisch-defizitären Etikettierungspraxen, welche Stein, Weber,
von Essen und Mürner äußern, konsequent weiterzuführen.
Daran anknüpfend provoziert das zu Beginn eingeführte Konzept der
Kulturpolitik, als »›Auseinandersetzung darüber, welche Wörter man
verwenden sollte‹ (Rorty 2008, S. 15)« (S. 12) zudem ein Nachdenken
über die disziplinäre Bezeichnung der ›Heilpädagogik‹.
Fazit
Die einzelnen Beiträge heben in der Summe eindringlich die
Notwendigkeit einer grundlagentheoretischen Auseinandersetzung mit
dem Thema Behinderung und Gerechtigkeit hervor. Dadurch werden in
mehrfacher Hinsicht wichtige Impulse zur Diskussion um Inklusion
geliefert. Zum einen wird in den Worten Rödlers (S. 51) dazu
beigetragen »dass das Projekt nicht schon im Ansatz auf der Ebene
des theoretischen Fundaments in eine Sackgasse gerät«. Zum anderen
wird anhand der ›Heilpädagogik‹ exemplarisch die Verstrickung
weiterer ›Behinderungspädagogiken‹ (Hazibar/ Mecheril 2013) in
gesellschaftliche und kulturelle Praktiken des Ein- und
Ausschlusses verdeutlicht. Somit sei diese Publikation allen
angeraten, die sich aus einer gesellschafts- und kulturpolitischen
Perspektive mit dem Thema Inklusion beschäftigen und es bleibt zu
hoffen, dass diese Veröffentlichung in der fachlichen Debatte in
gebührendem Maße rezipiert wird.
Literatur
Hazibar, Kerstin; Mecheril, Paul (2013): Es gibt keine richtige
Pädagogik in falschen gesellschaftlichen Verhältnissen. Widerspruch
als Grundkategorie einer Behinderungspädagogik. In: Zeitschrift für
Inklusion, Nr. 1 (2013), URL: www.inklusion-online.net/index.php/i,
Datum des Zugriffs 06.11.13.
Waldschmidt, Anne (2007): Macht – Wissen – Körper. Anschlüsse an
Michel Foucault in den Disability Studies. In: Waldschmidt, Anne/
Schneider, Werner (Hg.): Disability Studies, Kultursoziologie und
Soziologie der Behinderung. Erkundungen in einem neuen
Forschungsfeld. Bielefeld: transcript, 55–77.
Rezensent
Benjamin Haas
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Zitiervorschlag
Benjamin Haas. Rezension vom 18.11.2013 zu: Markus Dederich,
Heinrich Greving, Christian Mürner u.a.: Behinderung und
Gerechtigkeit. Psychosozial-Verlag (Gießen) 2013. 280 Seiten. ISBN
978-3-8379-2305-6. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245,
http://www.socialnet.de/rezensionen/15393.php, Datum des Zugriffs
18.11.2013.
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