Rezension zu Sozialpsychologie des Kapitalismus - heute (PDF-E-Book)
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Rezension von Prof. Dr. Stefan Busse
Klaus-Jürgen Bruder, Christoph Bialluch u.a.: Sozialpsychologie des
Kapitalismus – heute
Thema
Kritische Diskurse bzw. wissenschaftliche und theoretische
Einmischungen auf dem Hintergrund kritischen Denkens nehmen in
letzter Zeit wieder zu. Nach postmodernen Kommentaren und
systemtheoretischen Beschreibungen der aktuellen Gesellschaft der
Spätmoderne darf wieder über Herrschaftsverhältnisse, Ausbeutung,
gesellschaftliche Subjekte, Klassenkampf, Kapitalismus und Marx
gesprochen werden. Das hat zum einen damit zu tun, dass die
intellektuelle Linke nach einer gewissen Latenzzeit (oder auch
Schockstarre) nach dem Zusammenbruch des Realsozialismus ihre
(eine) Sprache wieder findet und sich theoretisch hörbarer
einmischt. Zum anderen hat es mit den sichtbaren und unsichtbaren
Formen einer Durchkapitalisierung der Gesellschaft der Spätmoderne
zu tun. Hier greift die ökonomische Logik der Verwertung, des
Wachstums und der Geldvermehrung auch in gesellschaftliche Sphären
über und in Institutionen ein, die bislang im staatlichen oder im
sog. dritten Sektor (Gesundheit, Soziales, Kultur) der
Daseinsvorsorge oder Gemeinwohlorientierung als Errungenschaften in
der westdeutschen Demokratieentwicklung nach 1945 gelten konnten
(z.B. die Institutionen des Wohlfahrtstaates). Aber vor allem haben
sich auch die Bedingungen – gelabelt durch so unterschiedliche
Zeitdiagnosen wie Postmoderne, Postdemokratie, Posthistorie oder
Postfordismus – für die Herausbildung von Subjektivität geändert.
Der globalisierte und flexible Netzwerkkapitalismus bedarf eines
Subjektes, welches weniger selbstbestimmt als selbstreguliert,
-gesteuert, -gemanagt und selbstinszenierend durch das lebens- und
arbeitsweltliche Reich der multioptionalen Freiheiten manövriert.
Entfremdung und Selbstbestimmung fallen auf fast paradoxe Weise im
Subjekt zusammen und kehren die Hoffnung und auch Projektionen
eines marxistischen, kritisch-theoretisch formierten resp.
emanzipierten Subjektes fast in ihr Gegenteil um. Das starke,
mündige, autonome und nicht das angepasste, unterworfene wie
außengeleitete Ich ist das heutige Leitbild in der Lebens- und
Arbeitswelt. Die Brüchigkeit und das ideologische Trugbild dieser
Konstruktion gilt es sichtbarer zu machen.
Insofern ist es nicht nur folgerichtig, die Theoriebestände einer
Marxschen resp. kritischen Theorietradition zu reaktivieren und
bezüglich ihrer heutigen Beschreibungs- und Erklärungspotenz und
-schärfe zu überprüfen oder schlicht die »Klassiker« (Marx,
Gramsci, Adorno etc.) neu zu befragen.
Darüber hinaus ist es durchaus notwendig, auch an die selbst
erlebte oder generativ noch präsente (aber auch dem Vergessen
anheimfallende) Zeitgeschichte anzuknüpfen, die in Form der
»Nach-68er-Politisierung« für die bundesrepublikanische
Gesellschaft bis heute präsent ist – oder, anlässlich der Würdigung
zentraler Akteure dieser Zeit, wie dem Psychologieprofessor Peter
Brückner (1922–1982), eine erinnernde Selbst-Befragung und
Neuauslotung »eingreifender« und gelebter Kritik zu
unternehmen.
Gerade das Werk von Peter Brückner ist dafür prädestiniert, da es
bereits als kritische Weiterentwicklung linken kritischen Denkens
verstanden werden kann und schon gesellschaftliche Veränderungen
aufgriff, die sich erst in den 80er und 90er Jahren voll entfalten
sollten.
Entstehungshintergrund
Der vorliegende Sammelband nimmt so den achtzigsten Geburtstag, den
dreißigsten Todestag von Peter Brückner und den fast vierzigsten
Jahrestages des Erscheinens seines Hauptwerkes, »Sozialpsychologie
des Kapitalismus«, zum Anlass, nach der »Sozialpsychologie des
Kapitalismus – heute« zu fragen. Dabei geht es den Herausgebern des
Bandes – Klaus-Jürgen Bruder, Christoph Bialluch und Benjamin Lemke
– darum »den gesellschaftlichen Gesamtzusammenhang von Ökonomie,
Politik, Kultur, Sozialem und Psyche zu denken« (S. 10). Dabei soll
auf eine Gesellschaftsanalyse und -kritik gesetzt werden, die
»reflexives Durchdringen von Herrschaftsstrukturen und
gesellschaftlichen Konfliktlagen« mit einer auf Emanzipation
gerichteten Perspektive verbindet, die an die Soziale Frage und die
Realität von sozialen Klassen gebunden ist (ebd.).
Dafür scheint sich die zeit-historische Gestalt Brückners deshalb
so zu eignen, da er zum einen als Psychologe seine universitäre
Disziplin immer in einem gesellschaftlichen Raum verortet und
Subjektives so als Gesellschaftliches gedacht hat, zum zweiten, da
er als kritischer linker Intellektueller sich nicht nur eingemischt
hat, sondern, wie man heute sagen würde, seine persönliche
Komfortzone deutlich verließ und die Konsequenzen des
Berufsverbotes (im universitären Kontext) als Disziplinierung des
bundesrepublikanischen Staates (als »innerstaatliche
Feinderklärung« (Brückner)) leibhaftig erlebt hat.
Der Band vereint 23 Beiträge von 25 Autor_innen (davon nur fünf
Autorinnen), die anlässlich des Kongresses der Neuen Gesellschaft
für Psychologie (NGfP) im März 2012 in Berlin gehalten wurden.
Herausgeber
Klaus-Jürgen Bruder ist Psychoanalytiker und hat ein Professur für
Psychologie an der FU Berlin inne, derzeit ist er erster
Vorsitzender der Neuen Gesellschaft für Psychologie (NGfP).
Christoph Bialluch ist promovierter Psychologe und zweiter
Vorsitzender der NGfP, er unterrichtet Psychologie an diversen
Berliner Berufs-, Fach- und Hochschulen.
Benjamin Lemke ist diplomierter Psychologe und derzeit in
psychotherapeutischer (tiefenpsychologischer) Ausbildung.
Aufbau
Die Beträge thematisieren Subjektivität im heutigen Kapitalismus
unter zwei Perspektiven:
1.) als Sozialpsychologie des Kapitalismus, indem nach
gesellschaftlichen resp. politischen (Regierungs-)Praktiken gefragt
wird, die Subjektivität als inneres Movens (als Bewusst- und
Unbewusstsein) kapitalistischer Verwertung und Loyalitätserzeugung
an ein politisches und wirtschaftliches System ermöglichen, die
aber auch Räume für Widerstand, Subversion, Emanzipation und
lebenspraktische Gegenentwürfe zum Mainstream marktkonformer
Selbstunterwerfung zulassen.
2.) fragt der Band, allerdings eher subkutan, nach der
Sozialpsychologie im Kapitalismus. Zwar geht es um eine
gesellschaftswissenschaftliche Reflexion, die das »Ganze denkt«
aber eben auch um die Frage, mit welcher »Psychologie« hier
Subjektbildungs-, Sozialisations- und Aneignungsprozesse abgebildet
werden können. Peter Brückner als politischer (und politisierter)
Psychologe war von Haus aus Psychoanalytiker. Das ist eine
Position, die nicht von allen Autor_innen unbedingt geteilt wird.
So darf der/die Leser_in auch hierzu kritische Kommentierungen und
Auseinandersetzungen erwarten (zumal es sich bei den Beiträgen um
Wortmeldungen auf einem Psychologiekongress handelt).
Die Beiträge sind unter vier inhaltlichen Clustern zusammengefasst.
Denen geht zunächst ein eröffnender Beitrag von Klaus-Jürgen Bruder
voran, in welchem er sich kritisch wie rhetorisch mit der Frage
beschäftigt, ob und inwieweit »uns« eine »kulturelle Kluft« von der
Zeit von 68 trennt. Das sei eine Zeit, die Fragen anders, auch in
einem anderen Vokabular, gestellt und anders beantworten habe und
er fragt rhetorisch, ob man nicht durch einen unvermittelten
Aufgriff dieser in den Verdacht gerate, ein »altideologischer … ein
heillos verbohrter Ewiggestriger« zu sein (S. 19/20). Gleichwohl
macht Bruder deutlich, dass hier eher Denkverbote und
Loyalitätszwänge am Werke sind, und dass es mehr als geboten ist,
den Faden zu Brückner wieder aufzunehmen, etwa um dessen Konzept
der Herstellung von »Massenloyalität« neu zu denken und den
heutigen Verhältnissen »einer Brutalisierung des ›Klassenkampfes
von oben‹« analytisch entgegen zu halten. Freilich hieße das
Brückner zu aktualisieren und nicht zu historisieren. Almuth
Bruder-Bezel versorgt den Leser in einer kurzen und informativen
Skizze mit dem notwendigen biografischen Wissen zu Peter
Brückner.
Zu 1 »Transformation der Demokratie – Postdemokratie«
Der erste Abschnitt versammelt dann Beiträge unter der Überschrift
»Transformation der Demokratie – Postdemokratie«. Beim Lesen dieser
zeigt sich freilich, dass es sich hier eher um eine allgemeine
Perspektive der Transformation der Gesellschaft (nicht allein die
der Demokratie) handelt.
So greift Gernot Böhme das Horkheimer-Adornosche Verdikt der
Trivialisierung und Depravierung der Kunst resp. Hochkultur zur
Massenkultur in der Kulturindustrie auf. Böhme kann zeigen, dass
die Kritiklinien heute eher verschoben werden müssen, will man die
Ästhetisierung des gegenwärtigen spätkapitalistischen Alltags und
modernen Formen der »ästhetischen Ökonomie« in angemessener Form
begreifen. Diese setzt weniger auf die Verwertung von Bedürfnissen
(über deren Ästhetisierung) als auf die Erzeugung und Befriedigung
von »Begehrnissen« nach »Gesehen-Werden, nach Ausstattung, nach
Selbstinszenierung« etc., die »durch ihre Befriedigung nicht
gestillt sondern gesteigert werden« (S. 57). Der Autor greift
hiermit eher post-moderne (als post-demokratische) Formen der durch
Medialisierung und Popkultur vorangetriebenen Ästhetisierung des
Alltags auf, die die realen Herrschaftsverhältnisse verdecken und
die Funktion von Massenlenkung haben.
Der Text von Markus Brunner greift auch eine klassische Marxsche
(Denk-)Figur auf – die des Klassensubjekts (die Arbeiterklasse),
welches revolutionäre Veränderungsimpulse und Klassenbewusstsein
verkörpert. Dies geschieht, um die diesbezüglich artikulierten
Erfahrungen, Zweifel und begrifflichen Erweiterungen, die Brückner
bereits unter dem Begriff der »Posthistorie« als einer Geschichte
nach der Geschichte des klassisch formierten, »organisierten«
Kapitalismus verarbeitet hatte, weiterzuspinnen. Neben dem
klassischen Revolutionsparadigma müsse weiterhin nicht in
Konkurrenz eher in Ergänzung zu diesem sein »Aneignungsparadigma«
der bürgerlichen Demokratie (als Wieder-Aneignung) analytisch
genutzt werden. Die Ausgeschlossenen, heute würde man sagen
Exkludierten der Gesellschaft, wären als »Revolutionäre« wahr- und
deren Veränderungsimpulse ernst zu nehmen.
Der Beitrag von Claudia Barth lotet die Subjektivierungsmechanismen
der neuen Religion »Esoterik« aus, nicht um sie einfach als
»falsches Bewusstsein« zu markieren (oder auch zu denunzieren). Sie
kann eher die subjektiven Anstrengungen und die Arbeit
nachvollziehbar machen, die in einer von Entgrenzung und
Subjektivierungsphänomenen gekennzeichneten postfordistischen
Gesellschaft gerade für die sog. »Leistungsträger« nötig ist, um
die neuen Formen der Selbst-Entfremdung »aufzuheben«. Der
subjektive Kurzschluss zwischen eigenen Entfremdungserfahrungen und
deren Aufhebung in einer trans-gesellschaftlichen Welt verweist
freilich auch darauf, dass politische Erklärungsmodelle von
Gesellschaft und deren utopischer Gehalt ausgedient haben oder
nicht mehr sinnbildend scheinen. Esoterik ist dabei weniger eine
Form der Abkehr von der realen Welt als eine psychoaktive Substanz
der Selbstberuhigung und -stimulierung in ihr.
Ein ähnliches sozialpsychologisches Phänomen des medialisierten
Kapitalismus, in dem Identitätsauflösung und -findung,
narzisstische Kränkung und kollektiver Narzissmus, soziale Aus- und
Einschlusspraxen sich schneiden und zusammen fallen, ist der
Fußball bzw. Fußballpatriotismus, den Dagmar Schediwy scharfsinnig
analysiert.
Der Text von Bernd Nitschke schließlich ist eine luzide
historiografische Analyse ȟber Machtstrukturen und
Machtverhältnisse in psychoanalytischen Institutionen«. Anhand der
Geschichte der »Deutschen psychoanalytischen Gesellschaft« und
deren Transformation in der NS-Zeit zum sog. »Göring-Institut« kann
nicht nur die Beteiligung führender Psychoanalytiker am
Gleichschaltungsprozess nachgezeichnet werden, sondern auch die
Geschichtsklitterungen nach dem zweiten Weltkrieg, die die eigene
Institutsgeschichte entweder als »Liquidierung« der Psychoanalyse
durch das NS-Regime oder als »Rettung« vor Hitler ausgaben. Wenn
der Beitrag auch keinen direkten Bezug zu Peter Brückner zu haben
scheint (und Nitzschke diesen explizit auch nicht herstellt), so
wirft er gerade einen Blick auf die westdeutsche
Nachkriegsgesellschaft mit ihren spezifischen
Aufarbeitungshemmungen, die ja auch ein Treibstoff für die
Politisierung Peter Brückners und seiner Generation gewesen
ist.
Der einzige nichtdeutsche oder die westdeutschen Verhältnisse
betreffende Beitrag stammt von einem albanischen Kollegen, der
plastisch Auskunft über die subjektive Verarbeitung einer
Übergansgesellschaft zwischen Kommunismus und Kapitalismus (am
Beispiel Albaniens) gibt.
Zu 2 »Überflüssige Bevölkerung – Rassismus der Eliten«
Unter der Überschrift: »Überflüssige Bevölkerung – Rassismus der
Eliten« werden im zweiten Cluster vor allem einzelne Phänomene
besprochen bzw. rekonstruiert, die als Abweichung, Des-Integration,
Devianz, Extremismus etc., als Formen des »rohen«
Nicht-Sozialisierten einer bürgerlichen Normalität erscheinen.
Dieser Abschnitt ist insofern der Ergiebigste, da sich hier anhand
»fehlgeleiteter« Subjektivität eine psychologische und
gesellschaftskritische (soziologische) Analyse analytisch plastisch
verschränken. Hier kann immer wieder produktiv auf Brückner
zurückgegriffen werden, dessen Grundkonzepte der »Integration« oder
»Aneignung« unter kapitalistischen Herrschaftsverhältnissen an den
aktuellen Anforderungen und Zumutungen einer postfordistischen
Subjektkonstitution fortgeschrieben werden. So werden etwa School
Shooting (Amok – der Beitrag von Sebastian Winter) und Gehorsam wie
Verweigerung (in der geschlossenen Unterbringung – der Beitrag von
Siegie Piwowar und Benjamin Lemke) als subjektive und biografisch
sinnfällige Verarbeitung gesellschaftlicher
Handlungs-(un-)möglichkeiten und aber auch als Ausdruck eines
narzisstisch aufgestachelten, im Aktivierungsmodus rotierenden und
überforderten Subjekts sicht- und lesbar.
Der hier einleitende Beitrag von Martin Kronauer schärft dabei den
Begriff der »Inklusion« als einen kritischen Begriff zur
exkludierenden Gesellschaft, der nicht auf eine Totalaufhebung der
kapitalistischen Produktionsweise setzt, aber auch Integration in
die Gesellschaft nicht einfach als platte Anpassung an diese
diskreditiert; er ist kritisch und »konformistisch« zugleich als er
den notwendigen »Selbstschutz der Gesellschaft«, als Schutz vor
sozialer Ausgrenzung und Marginalisierung, betreibe und
aktiviere.
Dass solche kritischen Konzepte als Denken über die Verhältnisse
auch eine handlungsermächtigende Praxis in den Verhältnissen
verheißen können, zeigt der Beitrag von Kerstin Sischka. Auf der
Ebene eines konkreten Modellprojekts (gegen Rechtsextremismus)
ergänzt sie die allgemeine gesellschaftsanalytische und
demokratiekritische Perspektive durch die konkreten Möglichkeiten
und Herausforderungen einer Regionalforschung vor Ort.
Zu 3 »Selbstsozialisation – Unterdrückung in eigener Regie«
Das nächste Cluster unter der Überschrift »Selbstsozialisation –
Unterdrückung in eigener Regie« kehrt im gewissen Sinn die
Perspektive des zweiten um oder treibt diese weiter. Er fragt nach
den subjektiven Kosten und Voraussetzungen des angepassten Lebens
zwischen verdinglichter Selbstverwirklichung (der Beitrag von Bernd
Ternes) und den Möglichkeiten das eigene Leben zwischen Macht und
Ethos zu finden (der Beitrag von Timo Werkhofer). Oder es
reflektiert, im Beitrag von Gerd Dembowski, wie Identitätssuche als
»organisierte Selbstfreigabe« sich in der imaginierten Gemeinschaft
einer Fußballfangruppe verlieren kann.
Die beiden Beiträge von Uwe Findeisen und Josef Berghold loten noch
einmal aus, welcher subjektiven Konstruktionen resp.
»Denknotwendigkeiten« die kapitalistische Produktionsweise auch
heute noch bedarf, damit sie sich als scheinbare
Selbstverständlichkeit vor den Augen der Beteiligten vollziehen
kann. Die Autoren machen deutlich, welcher Formen des falschen
Bewusstseins oder des »Aberglaubens« es bedarf, um sich
»selbstverständlich« an ihr zu beteiligen, um die Dynamik zwischen
»objektivem Zwang und subjektivem Wahn in der kapitalistischen
Geldvermehrungsspirale« (Berghold) in Gang zu halten.
Zu 4 Quellen der »Empörung« und »Selbstfreisetzung«, des
Widerstandes und der Veränderung
Schließlich scheint alles auf die Frage zuzulaufen, wo denn
jenseits von Massenloyalitäten, jenseits der egalisierenden Formen
der medialisierten Massenlenkung, des sich autonom dünkenden
Subjekts überhaupt noch Quellen der »Empörung« und
»Selbstfreisetzung«, des Widerstandes und der Veränderung liegen –
so das Thema des letzen Themenclusters.
Es ist die klassische linke Frage nach der Entstehung von
kritischem Bewusstsein: Inwieweit über einen bloßen Leidbefund
(etwa das »erschöpfte Selbst«) hinaus Selbstaufklärung entstehen
kann und sich diese wiederum mit der Aufklärung über die
Verhältnisse paart, wie ein Aufgeklärtsein wiederum in ein Movens
(Empörung) zur Veränderung selbst mündet, was das für den Einzelnen
heißt und welche kollektive Formen dazu notwendig sind etc.
Hier würde eine Sozialpsychologie des Kapitalismus zu einer
»Befreiungspsychologie« werden (der Beitrag von Peter Weber), die
auch die Rolle von (kritischer) Wissenschaft und die Rolle des
(kritischen) Wissenschaftlers und Intellektuellen thematisiert.
Dies wird von mehreren Beiträgen, immer wieder in Bezug zu Peter
Brückner als »organischem Intellektuellem« im Sinne Gramscis,
aufgenommen. Die Frage ist, wie sich Wissenschaft (die
Wissenschaftler) zwischen Affirmation und /oder der Teilnahme an
Widerstandsformen positionieren und »im Handgemenge mit der
Wirklichkeit bleiben« (der Beitrag von Christoph Jünke).
So fällt der Blick auch auf aktuelle und neue Formen des Protestes,
welche Individualisierung und Solidarität zusammen zu bringen
scheinen, etwa in der Occupy-Bewegung, die weniger der klassischen
Form (revolutionärer) Bewegungen sondern einer »Multitude«
entspricht (der Beitrag von Juliko Lefelmann und Tom Uhlig). Es
geht aber auch jenseits der großen revolutionären Perspektive
darum, die subversive und kritische Aus-Nutzung demokratischer
Möglichkeiten – etwa Beteilungsformen direkter Demokratie – zu
nutzen (Thomas Rudek).
Zudem ist die Frage nicht allein, welche Widerstandsformen sich
etwa »gegen« konsumistische Vereinnahmungen sondern welche
alternativen Lebensformen sich finden und praktizieren lassen, die
an der klassischen Trias von Freiheit, Gleichheit und
Brüderlichkeit ansetzen und diese in eine »Ethik der Zuwendung«
transformieren oder den Konsumenten zu einen Citoyen werden lassen
könnten (der Beitrag von Burkhard Bierhoff).
Dahinter gilt es aber noch Grundsätzlicheres zu klären, ob die
kapitalistische Lebensform trotz ihrer subjektiven Kosten (des
produzierten Leids) nicht auf ideale wie ausweglose Weise das
Subjekt produziert und voraussetzt, das diese Lebensform am Laufen
hält. Ist die menschliche Natur nicht eigentlich kapitalismus-,
wettbewerbs-, konkurrenz-, eigennutzaffin? Morus Markard pointiert
dies, indem er fragt, ob Sozialismus mit »›real existierenden
Menschen‹ möglich ist?«. Die Antwort fiele negativ aus, so Markard,
wenn man dem »anti-utopischen Gehalt psychologischer Konzepte«
glauben würde.
Dieser Abschnitt ist freilich der heikelste des gesamten Buches,
weil Utopie, das dürfte oder sollte eine bittere wie heilende
Erfahrung der Linken sein, entweder schnell in Illusion oder in
Bevormundung und auch Diskreditierung verfällt. Nicht unkritisch in
diesem Zusammenhang sind die paternalistischen Impulse etwa im
Beitrag von Thomas Rudek, einen »sozialpsychologischen
Schutzschirm« über die Bevölkerung aufzuspannen, der diese vor
»rassistisch elitären Feldzügen (bewahrt)« (S. 328).
Hier könnten die selbstkritischen Auslassungen von Christoph Jünke
heilsam sein, dass »an der Vergangenheit der Neuen Linken« nicht
bruchlos anzuknüpfen sei, weil z.B. anzuerkennen ist, dass »die
alten politischen Strategien des antiautoritären
Radikaldemokratismus und eines emanzipativen Neo-Sozialismus … in
einer nachhaltigen Krise (stecken)« (S. 418/419). Das hieße, zu
sehen, dass sich einige heilige Kühe der Linken indessen auch in
ihrem ideologischen Gehalt gezeigt haben und/oder entmystifiziert
werden müssen. So gälte es vielmehr die »Dialektik von Demokratie
und Sozialismus« neu zu erfinden.
Diskussion
Der Band ist der lesbare Beweis dafür, dass es einer Psychologie
bedarf, die den »gesellschaftlichen Gesamtzusammenhang von
Ökonomie, Politik, Kultur, Sozialem und Psyche« (Vorwort S. 10)
denkt bzw. zusammen denkt. Die Befürchtung von Klaus Weber, dass es
das oder die »Art und Weise«, wie Peter Brückner dies tat, nicht
mehr gäbe, scheint mit dem Band ein wenig relativiert, gleichwohl
ist sie weniger gegeben als aufgegeben. Dabei wäre Brückner gewiss
zu folgen, wenn es darum geht, eine gesellschaftswissenschaftlich
(soziologisch) »geläuterte« Sozialpsychologie des Subjekts im
Kapitalismus zu betreiben. Offen bleibt freilich – und da lassen
die Beiträge bis auf Ausnahmen eine merkwürdige Leerstelle im
Diskurs – , mit welcher Art von Psychologie das geschehen soll.
Brückner als Psychoanalytiker entwickelte hier naturgemäß einen
spezifischen Blick auf die Genese von Subjektivität und damit, wie
Klaus Weber meint, eine »psychologisierende und personalisierende«
Sicht auf die gesellschaftlichen Verhältnisse, was seinem sonstigen
Blick ja gerade entgegen liefe.
Wie man produktiv aus dem Hiatus zwischen objektiver
(gesellschaftlicher) Bestimmtheit und subjektiver Bestimmung
psychologisch (also mit den diskursiven Mitteln der Psychologie)
herausfinde, kann der Band freilich auch nicht beantworten. Nur:
Diese notwendige Auseinandersetzung wird durch die Beträge eher
hindurch gereicht als wirklich geführt. Warum kann man/sollte man
hier nicht auf Bestände der Mainstream-Sozialpsychologie kritisch
zurückgreifen? Eine Frage, die sich die Kritische Psychologie sonst
(in dem Beitrag von Morus Markard gerade nicht) stellt.
Eine weitere Merkwürdigkeit des Bandes ist m.E. noch anzumerken:
Das Nachdenken über gesellschaftliche Utopien lenkt oder muss den
Blick auch auf das Scheitern lenken, z.B. auf die DDR, als deutsche
Variante einer gescheiterten realsozialistischen Utopie. Sie taucht
entweder unter der nicht falschen, aber groben Diagnose
»Stalinismus« auf oder es wird im Eingangstext von Klaus-Jürgen
Bruder mahnend vor der »Verurteilung der DDR … (als dem) ersten
sozialistischen Staat auf deutschem Boden« gewarnt (S. 19). Dieser
Schutzreflex ist respektabel, kann aber nicht wirklich ernst
genommen werden, weil er vor allem alles analytische und kritische
Selbst-Befragen verhindert und in die problematische Nähe
postsozialistischer Schönrederei gerät. Dass außer dem albanischen
Kollegen keiner anwesend war, der hier aus dem gelebten Scheitern
einer linken Utopie hätte seine Perspektiven entwickeln können, ist
schade und mag Zufall sein. So sind die Texte (vielleicht nur
diese) ein stückweit auch ein Selbstgespräch einer westdeutschen
(und i.W. männlichen) Linken, die sich eines ihrer wichtigen
Protagonisten besinnt und erinnert hat.
Fazit
Trotz einiger Einwände: Das Buch ist durch-lesenswert, weil alle
Beiträge anregende, wieder-erinnernde und verstörende Impulse
setzen, sich immer wieder die eigene Verfangenheit in den
Selbstverständlichkeiten real-kapitalistischer Wirklichkeit klar zu
machen, sich als Wissenschaftler die Selbstbezüglichkeit seines
(auch kritischen) Denkens zu vergegenwärtigen und/oder der Frage
nach der eigenen Position im »Handgemenge der Wirklichkeit« zu
stellen und als Psychologe nicht nur auf das gesellschaftslose
Subjekt zu starren.
Rezensent
Prof. Dr. Stefan Busse
Dipl. Psychologe, Fakultät Soziale Arbeit der Hochschule Mittweida,
Studiengangsleiter des Zertifikatsstudienganges »Supervision und
Coaching« und »Training für Kommunikation und Lernen in Gruppen« an
der Hochschule Mittweida, Direktor des Institutes für Soziale
Kompetenz, Kommunikation und Wissen (KOMMIT)
Zitiervorschlag
Stefan Busse. Rezension vom 18.11.2013 zu: Klaus-Jürgen Bruder,
Christoph Bialluch, Benjamin Lemke: Sozialpsychologie des
Kapitalismus – heute. Psychosozial-Verlag (Gießen) 2013. 400
Seiten. ISBN 978-3-8379-2226-4. In: socialnet Rezensionen, ISSN
2190-9245, http://www.socialnet.de/rezensionen/14836.php, Datum des
Zugriffs 18.11.2013.
http://www.socialnet.de