Rezension zu Architektur des psychischen Raumes
Psychoanalyse im Widerspruch, 25. Jahrgang, 2013 Heft 50
Rezension von Mathias Hirsch
Psychoanalyse im Widerspruch, 25. Jahrgang, 2013 Heft 50, S.
127–134
Grieser, Jürgen: Architektur des psychischen Raumes. Die Funktion
des Dritten. Psychosozial-Verlag, Gießen, 2011, 394 S.
Der Autor legt ein umfassendes Werk über die Funktion des Dritten
vor, die wir heute leicht mit dem Begriff Triangulierung schon
meinen bewältigt zu haben, während nach der Lektüre des Buches
klar ist, daß die Dreidimensionalität Grundlage und Voraussetzung
menschlicher Entwicklung, aller Symbolisierung und der Kultur ist.
Der Leser hat den Eindruck, der Autor sei zehn Jahre mit dem Thema
Triangulierung schwanger gegangen, und habe nun ein Buch geboren
über – nein, nicht über Dreiecke, sondern über die
Dreidimensionalität des Dreieckraums: Ein Dreieck allein kann
keinen Raum bilden, und so tritt zur Konstruktion des psychischen
Raumes ein Viertes hinzu, damit, um mit der Bildhaftigkeit der
Geometrie zu sprechen, ein Tetraeder entstehen kann. Der Autor
»stellt eine Psychologie des Dritten und des dreidimensionalen
psychischen Raumes vor« (S. 11), er »erweitert die bekannten
Triangulierungskonzepte um eine Dimension [...]. Dieses Vierte ist
so etwas wie der Bauplan für den psychischen Raum, die Dimension
des Symbolischen, ohne die es [...] kein psychisches Leben geben
kann« (S. 12).
Schon Lacan, in dem doch einer der Pioniere des triadischen zu
Ungunsten des dyadischen Denkens zu sehen ist, forderte eine
Viererstruktur, dieses Vierte nannte Lacan »Quaternio«; Grieser
versteht »das Symbolsystem der Kultur als dieses Vierte, dem [...]
die symbolischen Strukturen entstammen, die als kulturelle Matrix
die soziale Struktur der Familie präformieren und die psychische
Welt als einen dreidimensionalen Raum gestalten« (S. 80).
Sorgfältig werden die Begriffe voneinander differenziert: Eine
angeborene »triadische Kompetenz bezeichnet die Fähigkeit [...],
zu mehr als einer Person gleichzeitig eine Beziehung zu haben« (S.
16). Eine Triade ist die Dreiecksbeziehung dreier real anwesender
Personen, Triadifizierung bezeichnet die Beziehungsregulation in
einem solchen Dreieck. »Werden solche triadischen
Beziehungserfahrungen verinnerlicht, spricht man von
Triangulierung« (S. 17). Es geht also um die innerpsychische
Repräsentanz dieses Beziehungsdreiecks. Sind wir es gewöhnt,
Triangulierung auf die Funktion des väterlichen Dritten (des
realen Vaters, seiner Repräsentanz, oder, mit Lacan weitergehend,
des Gesetzes und der Sprache) als Rettungsmittel aus der allzu
engen, verschlingenden Mutter-Kind-Dyade reduzierend zu verstehen,
wendet Grieser den Begriff auf viele andere Entwicklungsschritte im
Lebenslauf an, nämlich auf eine psychosomatische Triangulierung in
der Säuglingszeit, die ödipale Triangulierung, die sich in der
Adoleszenz wieder aktualisiert, wie auch auf Schwellensituationen
des Erwachsenenalters, auch auf das Altern und sogar das
Sterben.
In der Entwicklung des Kindes finden notwendige Unterscheidungen
statt, Konzepte des »Selbst und der Welt der Objekte« (Jacobson)
werden gebildet auf Grund der Fähigkeit zur Unterscheidung von
zwei oder mehreren Objekten. »Damit der Säugling eine Vorstellung
davon entwickeln kann, was Mutter ist, muß er die Mutter von etwas
abgrenzen, was nicht die Mutter ist, denn wenn alles Mutter ist,
ist Mutter nichts Wahrnehmbares und Abgrenzbares« (S. 24). Das ist
also eine erste »triadische Relation« (ebd.), Kind, Mutter,
Nicht-Mutter. Bezieht man diese Forderung auf die Geschichte der
Psychoanalyse, muß man eine Entwicklung von einer
Ein-Personen-Psychologie (Freud) zu einer Zwei-Personen-Psychologie
(Ferenczi, Balint, Winnicott) hin zu einer
Drei-Personen-Psychologie konstatieren. Grieser findet die
Erweiterung um diese Dimension bei André Green, der sich auf Lacan
bezieht, denn Green schreibt, »daß es ein solches durch Mutter und
Kind gebildetes Paar [Winnicotts Konzept] ohne Vater nicht gibt.
Denn das Kind repräsentiert die Vereinigung von Mutter und Vater«
(S. 38).
Schlicht und treffend konstatiert Grieser, daß die psychische Welt
aus der Interaktion des Subjekts mit seiner Umwelt, das heißt, aus
dem Beziehungserfahrungen mit seinen primären Bezugspersonen
entsteht (S. 47). Das Kind lernt, eine exzentrische Position
dadurch einzunehmen, daß es sich mit dem Dritten – zuerst dem Vater
– und seinem Blick auf die Dyade mit der Mutter identifiziert. Das
Kind lernt, Symbole zu verwenden – Symbolisierung enthält immer
das Dreieck von Individuum, Symbolisiertem und Symbol. Grieser
schreitet nun voran von der zweiten zur dritten Dimension: »Das
Vierte, das die dritte Dimension eröffnet und somit rechtfertigt,
von einem triangulären oder psychischen Raum zu sprechen, ist das
Symbolische, das die Kultur zur Verfügung stellt, und das in das
Beziehungsdreieck Kind – Mutter – Vater eingearbeitet wird« (S.
57). Das Symbolsystem der Kultur macht also aus dem Dreieck ein
Tetraeder, erweitert die ursprüngliche Mutter-Kind-Dyade zu einer
sozialen Gruppe, auch über den Vater noch hinaus. Nicht nur
Symbole der Kultur, auch ganz konkrete Gesetze definieren
Elternschaft, auch wenn es nicht die leiblichen Eltern sind,
sondern zum Beispiel homosexuelle Elternpaare oder
Adoptionsverhältnisse. Auch die Generationengrenze und die
Geschlechterdifferenzierung fungieren neben kulturellen Symbolen
als dritte Dimension.
Den weitaus größten Teil des Buches beansprucht das Kapitel
Triangulierungen in der Entwicklung.
»Man kann die ganze Lebensgeschichte eines Menschen als eine
Abfolge von Triangulierungssituationen betrachten, wobei auf einen
Schritt von dyadischzentripetaler Abschließung und Verschmelzung
immer ein Schritt hin zu triangulierender zentrifugaler Öffnung
folgt [...]. Die Geburt, die Differenzierung von kindlichem und
mütterlichem Selbst, die Ablösung des Kindes von der Familie in
der Adoleszenz sind Beispiele für solche Triangulierungsschritte.
Im Erwachsenenleben setzt sich dies mit der Paarbeziehung der
Eltern hin zum ersten Kind und den verschiedenen Entwicklungs- und
Ablösungsschritten, in denen sich ihr Kind dann verselbständigt,
fort – bis hin zur Trennung vom Leben im Tod« (S. 100).
Bereits das imaginäre Kind in der Phantasie des Paares ist eine
Triangulierungssituation; Ist das Kind erst geboren, entsteht die
vielleicht schwierigste Aufgabe, aus den dyadischen Beziehungen zum
Kind zurückzufinden in die – auch sexuelle – Beziehung des Paares,
um so eine wirkliche Triade zu schaffen. Was die Entwicklung des
Säuglings betrifft, betrachtet Grieser Konzepte wie das
Übergangsobjekt, die depressive Position, Winnicotts Umwelt-Mutter
und Objektmutter unter dem Gesichtspunkt der Triangulierung, ebenso
das Containing Bions und die neueren Vorstellungen Fonagys von der
ersten Symbolisierung im mütterlichen Container.
Besonders wichtig für das Verständnis psychosomatischer und
hypochondrischer Pathologie ist die Weiterentwicklung des Konzepts
der psychosomatischen Triangulierung (Kutter): Ein mangelhaftes
Containing führt zu einem Rückzug des Kindes in seinen Körper,
das seinen Körper selbst zum Objekt nimmt, oder aber die Mutter
bemächtigt sich des Körper des Kindes, dadurch werden bestimmte
Körperbereiche nicht integriert und gehören sozusagen weiter der
Mutter. »In beiden Fällen können die Affekte nicht mentalisiert
und symbolisiert werden, sondern bleiben in Form von reinen
›Körper-Affekt- Kernen‹ dem Zugriff des Ichs entzogen« (S.
130).
Frühe Triangulierung, ödipale und die Triangulierung der
Adoleszenz werden auch unter Verwendung von Beispielen aus der
belletristischen Literatur abgehandelt, wie überhaupt Autoren wie
Robert Walser, Rilke, Kafka, Orhan Pamuk herangezogen werden,
ebenso Philosophen wie Heidegger, Bloch, Cioran, Sartre. In der
Adoleszenz findet die eigentliche Triangulierungsbewegung im
Dreieck Jugendlicher – Eltern/Familie – Kultur statt (S. 71), es
kommt auch zu einer zweiten psychosomatischen Triangulierung, in
der die Jugendlichen auf ihren Körper als Objekt zurückgreifen,
ein Dreieck von Ich – Körper – Jugendkultur entsteht, und der
Körper im positiven oder destruktiven Sinne verwendet wird
(gutartige Körpermodifikationen und Selbstbeschädigungs- und
Eß-Störungspathologie). Schließlich finden Triangulierungen im
Erwachsenenalter statt, die Midlife-crisis fordert das Einnehmen
eines exzentrischen Standpunkts: das bisherige Leben betrachten,
sich das zukünftige vorstellen – während im Alter die
Zukunftsvorstellungen zugunsten der Vergangenheitsbetrachtung
zurücktreten und im Tod schließlich Triangulierung und Symbol ihre
Auflösung erfahren.
Störungen der Triangulierung lassen sich im Prinzip immer auf das
Ausschließen des Dritten zugunsten einer Dyade zurückführen –
Mutter-Kind-Dyade, Vater-Kind-Dyade; aber auch das Elternpaar kann
sich gegen das Kind abschließen, die Triade gegen die Umwelt
(inzestuöse, paranoide Festungsfamilie), und die
»Borderline-Triade« (S. 236) lebt von der Spaltung in nur gute/nur
böse Teilobjekte. Psychosomatische Erkrankung wird nun auf die
»psychosomatische Triangulierung als Notlösung« (S. 251f.)
zurückgeführt, Angststörungen und Depression im Lichte
mangelnder Triangulierung untersucht.
»Das Dritte in der Praxis« versteht Psychotherapie als
Triangulierungsfunktion, das Vierte ist die Therapiemethode bzw.
Theoriebildung, auch der Rahmen. Die Aufgabe des Therapeuten ist
nicht so sehr die Deutung dessen, was im Patienten vor sich geht
(Ein-Personen bzw. dyadische Beziehung), vielmehr einen Raum zu
schaffen und zu eröffnen, an dem an die Stelle der Symptomatik neu
gewonnene Symbolisierung entstehen kann. Grieser betrachtet
schließlich auch die Institution (einer Klinik) als psychischen
Raum, untersucht Paar- und Familientherapie sowie Supervision und
Coaching unter dem Blickwinkel der Triangulierung, leider nimmt er
nicht Bezug auf die triangulierenden Funktionen der
Gruppenpsychotherapie – seit langem gibt es doch das
»Familienmodell« (Walter Schindler): Die Gruppe als Mutterfigur,
der Leiter als väterliche Instanz und die Teilnehmer als Kinder,
bzw. Geschwister.
Aber das sind geringe kritische Einwände, im Ganzen eröffnet
Grieser vom Standpunkt der Triangulierung bzw. seiner originellen
Erweiterung in den psychischen Raum dem Leser einen zum Teil
überraschend neuen Blick auf bekannte Phänomene, auch die
kulturelle Dimension kommt nicht zu kurz (allerdings wird die
christliche Religion und ihre weltweit erfolgreiche Verbreitung
nicht erwähnt, die ja von der Triangulierung lebt: Anbetung der
Kleinfamilie, Dreieinigkeit). Bemerkenswert auch das dialektische
Denken des Autors – er schildert nicht einfach kontinuierlich
ablaufende Entwicklungsprozesse von der Dyade zur Triade, betont
dagegen immer wieder Rückgriffe auf dyadische Beziehungen im
gesamten Lebenslauf (schon Kohut meinte in diesem Sinne, daß
Selbstobjekte im gesamten Lebenslauf notwendig seien), aus denen
wieder andere trianguläre Beziehungen folgen, man denke z. B. an
die erneute Aneignung des eigenen Körpers als trianguläres Objekt
in der Adoleszenz oder an das immer wieder neue Entstehen von
dyadischen Beziehungsqualitäten im gesamten Lebenslauf. Die
intensive Lektüre des umfangreichen Buches wird also immer ein
Gewinn sein.