Rezension zu Versuch über die moderne Seele Chinas
RUIZHONG – Magazin der Gesellschaft Schweiz-China 1/2013
Rezension von Nathalie Bao-Götsch
Verwerfungen, Verlust und Therapie
Von Nathalie Bao-Götsch
Drei neuere Publikationen setzen sich mit dem psychischen Zustand
der chinesischen Gesellschaft und möglicher Therapiemethoden
auseinander
Die tiefgreifenden Umwälzungen der chinesischen Gesellschaft in
den letzten Jahrzehnten sind auch im Westen in Unmengen von
Berichten, Reportagen und Filmen dokumentiert worden. Sie bieten
meist auch Einblick in die Lebensgeschichten ganzer Familien und
einzelner Individuen, die aus westlicher Sicht allzu oft
ungewöhnlich tragisch und hart erscheinen. Selten hatte man aber
bisher die Gelegenheit, dies aus einer
psychologisch-wissenschaftlichen Sicht dargestellt zu bekommen.
Dies ändert sich für deutschsprachige Leserinnen und Leser mit
drei neueren, sehr lesenswerten Publikationen. Im Zentrum steht
dabei zunächst der Aufbau der psychotherapeutischen Versorgung der
chinesischen Bevölkerung seit Ende der 1980er Jahre, als die
chinesische Regierung den grossen Bedarf anerkannte und wieder
Kontakte mit dem Ausland zuliess. Massgeblich beteiligt war dabei
eine Gruppe deutscher Psychologen und Psychiater, die zunächst auf
informeller Ebene Konferenzen in China durchführte. Daraus
entstand die Deutsch-Chinesische Akademie für Psychotherapie, in
deren Rahmen ein Ausbildungsprogramm für psychoanalytische
Psychotherapie, Verhaltenstherapie und Familientherapie aufgebaut
wurde. Bis heute konnten so über tausend chinesische Psychiater
und Psychologen ausgebildet werden, denn eine eigenständige
psychotherapeutische Ausbildung gibt es in China nach wie vor
nicht. Wie diese Initiative genau entstand, wie sie sich bis heute
entwickelte, was die Herausforderungen und Resultate waren, das
lässt sich alles im Buch »›Zhong De Ban‹ oder: Wie die
Psychotherapie nach China kam« der drei Begründer bzw. Teilnehmer
des Projekts nachlesen. Das Engagement der Beteiligten, aber auch
die unzähligen Gesprächsausschnitte mit Teilnehmern beeindrucken
sehr. Natürlich wirft ein solches Unterfangen auch viele Fragen
auf. Wie lassen sich zutiefst vom westlichen Menschenbild geprägte
Therapiemethoden in eine Kultur und Gesellschaft einführen, die
ganz anders geprägt wurde und wo teilweise fundamental andere
Vorstellungen zum Selbst, zu Gesundheit und Krankheit bestehen?
Inwiefern konnten die in westlich-chinesischen interkulturellen
Projekten häufigen oder typischen Fallstricke gelöst oder
umgangen werden? Wie liess sich die naturgemäss hierarchische
Beziehung zwischen den westlichen »Lehrern« und ihren chinesischen
»Schülern« ohne nennenswerte kulturelle Ressentiments gestalten?
Die Autoren sind sich dieser Fragen durchaus bewusst, auch wenn ihr
Buch nicht zu allen eine Antwort bieten kann. Trotz des
chinesischen Koautors bleibt die chinesische Wahrnehmung des
Projekts letztlich aber schwer fassbar.
Die Psychoanalytikerin Antje Haag, die seit den Anfängen Teil des
Projekts war, hat diese Fragen in ihrem eigenen Buch »Versuch über
die moderne Seele Chinas« ebenfalls thematisiert. Sie berichtet
darin über ihre Erfahrungen als deutsche Psychoanalytikerin, die
während rund zwanzig Jahren jedes Jahr einige Monate an einem
Krankenhaus in Shanghai als Dozentin und Supervisorin für
psychoanalytisch orientierte Psychotherapie tätig war. Schlichtweg
ergreifend sind die ausgewählten Fälle, mittels welcher Haag
aufzeigt, mit welchen Formen von psychischen Krankheiten und
Störungen Menschen in China heute konfrontiert sind. Die Folgen
der traumatischen Erlebnisse während der Kulturrevolution bilden
dabei einen nicht unwichtigen Teil, zumal sie bis heute einen
nachhaltigen Einfluss auch auf die jüngere Generation
aufweisen.
Die von Tomas Plänkers editierte Publikation »Chinesische
Seelenlandschaften – Die Gegenwart der Kulturrevolution« legt den
Fokus genau darauf und zeigt einmal mehr, wie ein kollektives
Trauma, das nicht oder nur ungenügend aufgearbeitet werden kann,
auch nachfolgende Generationen nachhaltig beeinflusst und deren
psychische Gesundheit beeinträchtigt.
Haag zeigt in ihrem Band aber auch, was für Auswirkungen die
enormen Umwälzungen von einer zutiefst von der maoistischen
Ideologie geprägten zu einer marktorientierten,
quasi-kapitalistischen, zunehmend individualisierten und doch nach
wie vor kollektivistischen Gesellschaft bedeuten. Sie macht aber
auch deutlich, wo sie als deutsche Therapeutin sowohl gegenüber
chinesischen Patienten als auch Kollegen an Grenzen stösst und
stellt selber zuweilen ein grosses Fragezeichen hinter die
Übertragbarkeit westlicher Therapiemethoden auf China. Sie
schliesst ihren Band denn auch mit einem kritischen Blick auf die
moderne Idealisierung von Autonomie. Autonomes Denken und Handeln
stelle grundsätzlich immer das Ziel einer Therapie dar. In der
westlichen Kultur, stellt sie nachdenklich fest, ist aber die
Fähigkeit, abhängig zu sein, ohne dass das Selbstwertgefühl
darunter leidet, weitgehend verloren gegangen. Aber gehört sie
nicht auch zur psychischen Gesundheit?
Sammelrezension zu:
- Simon, Fritz B., Haaß-Wiesegart, Margarete und Zhao, Xudong.
›Zhong De Ban‹ oder: Wie die Psychotherapie nach China kam.
Geschichte und Analyse eines kulturellen Abenteuers. Heidelberg:
Carl-Auer Verlag, 2011, ISBN 978-3-89670- 791-8. 250 Seiten, €
24,95/ SFr. 35,50
- Haag, Antje. Versuch über die moderne Seele Chinas. Eindrücke
einer Psychoanalytikerin. Giessen: Psychosozial-Verlag, 2011, ISBN
978-3-8379-2147-2. 155 Seiten, € 19,90 / SFr. 39.90
- Plänkers, Tomas (Hg.). Chinesische Seelenlandschaften. Die
Gegenwart der Kulturrevolution (1966-1976). Göttingen: Vandenhoeck
& Ruprecht, 2010, ISBN 978-3-525-45415-2. 258 Seiten mit 11 Abb.,
34,99 € / SFr. 28.40
Hier finden Sie das gesamte Magazin:
www.schweiz-china.ch