Rezension zu Der 11. September
Gruppenpsychotherapie und Gruppendynamik 3/2005
Rezension von Andrea Eckert
Während ich diese Rezension schreibe, erlebt London einen
Terroranschlag im öffentlichen Nahverkehr und die ganze Welt
erinnert sich an September, 11, wie auch an Madrid. Dieses Buch, so
ist zu befürchten, wird lange aktuell bleiben.
26 Autoren befassen sich auf über vierhundert Seiten mit dem Thema.
Die Beiträge wurden gruppiert nach den Kapiteln »Terrorismus, Krieg
und Tod«, »Terrorismus und Terrorist«, »Der Terror und seine
traumatischen Folgen« sowie »Nationale und internationale Folgen
und Folgerungen aus dem 11. September«. Das Buch ist insgesamt eine
Empfehlung für alle, die sich für die Zusammenhänge zwischen
Individuum und Gesellschaft, zwischen Psychologie und Politik,
zwischen kollektiven und individuellen Dynamiken interessieren. Es
wirft viele Fragen auf, gibt Antworten und ist wichtig für alle,
die sich mit Gruppen beschäftigen, da es um die Spannung von
Individuum und Gesellschaft geht. Der Anschlag erfolgte durch ein
Kollektiv und bewirkte ein kollektives Trauma. Der Terrorist ist
nur zu verstehen durch eine Zusammenschau von individueller
Psychodynamik und politisch-sozialen Bedingungen. Wir finden viele
anschauliche Beschreibungen, wie Kinder zu Terroristen gemacht
werden. Die Autoren unterscheiden sich darin, wie viel Gewicht sie
den verschiedenen Faktoren beimessen: Der frühkindlichen
Deprivation, der gezielten Schulung, das heißt der gezielten
Demütigung in Gruppen, der Struktur der Gesellschaft. Janus will
noch die Häufigkeit der Kaiserschnitte und der Beschneidungen in
die Wirkfaktoren miteinbeziehen.
Die Beiträge unterscheiden sich im Gehalt, in der Originalität und
in der Klarheit der Gedankenführung. Zum Teil gibt es Redundanzen,
eine Fallvignette ist mehrfach verwendet. Sehr erhellend
argumentiert Wirth, dem es gelingt, über die Analyse des Fanatismus
zu einer Antwort auf die Frage, wie man Terrorist werden kann, zu
kommen. Wirth analysiert das Doppelgespann von Terror und Reinheit.
Der Fundamentalismus verspricht narzisstische Vervollkommnung durch
die Aufhebung des Körperlichen schlechthin. Um das Reinheitsideal
zu verwirklichen wird alles, was nicht rein ist, auf Feinde
projiziert und an diesen im »Heiligen Krieg« bekämpft. Terroristen
sind weder triebgesteuert, noch handeln sie gewissenlos, sie
verpflichten sich vielmehr im Namen der eigenen Grandiosität, der
Verschmelzung von Ich und Ich-Ideal, dem unmenschlichen Ideal einer
entsubjektivierten Gemeinschaft. Wirth schlägt zusammen mit anderen
Autoren vor, den 11. September als Aufforderung an die
Weltöffentlichkeit zu sehen, sich der Notwendigkeit einer globalen
Ethik zu stellen. Ökonomisch und militärisch mächtige
Gesellschaften sollten ein Interesse daran haben, was in der Psyche
der Abhängigen, Schwachen, Benachteiligten vor sich geht. Er warnt
noch vor der Gefahr der Ansteckung durch die Logik und Paranoia des
Terrorismus, als sei sie nicht schon längst Realität.
Altmeyer stellt fest, dass »die frei flottierende Aggressivität und
Selbstdestruktivität, die ubiquitäre Gewalttätigkeit ... eine
allgemeine Bereitschaft zu Attacke und Gegenattacke, hinter der man
die bösartige Dynamik narzisstischer Kränkbarkeit und Wut vermuten
kann ... weder aus den triebhaften Tiefen des Innenlebens noch vom
Außen der Frustration (kommen), sondern aus dem Zwischen des
menschlichen Zusammenlebens.« Besonders gewaltfördernd ist ein
Zusammenkommen von Selbstzweifel, Kränkung und kompensatorischen
Größenwahn mit zugefügter Demütigung und Schändung. Erlich, der
sich mit dem Zusammenhang von Träumen, Terror und Identitätsbildung
befasst, also eine entwicklungspsychologische Perspektive einnimmt,
spricht vom Wunsch jugendlicher Terroristen, mit etwas Größerem zu
verschmelzen. Sich selbst in neuer Form und in Verbindung mit
Idealen zu befinden, ist an sich ein für die Adoleszenz typisches
und progressives Bedürfnis. Volkan sieht die Ausbildung von
Selbstmordattentätern als gezielte Ersetzung individueller
Identität durch eine nationalistische und religiöse
Großgruppenidentität.
Bohleber (»Kollektive Phantasmen, Destruktivität und Terrorismus«)
meint, die Bedeutung des ideologisch-religiösen Faktors zur
Entstehung von Terrorismus sei heruntergespielt worden. Er ist
nicht bereit, der inzwischen üblichen Unterscheidung von Islam und
Islamismus bzw. von Religion und Fundamentalismus zu folgen, für
ihn ist jede Religion Ideologie, jeder Glaube unausweichlich mit
Gewalt verbunden. Piven (»Terrorismus als Religionsersatz«) stimmt
dem unter Vorbehalt zu – jede Religion biete Rechtfertigungen für
Gewalt; es sei aber nicht einfach zu verwerfen, dass führende Imame
und andere Religionsführer darauf verweisen, dass der Islam keine
Religion der Gewalt sei, ebenso wenig wie das Christentum. Bei
Pivens sehr materialreichem und absolut überzeugendem Versuch, die
Psychopathologie der arabischen Terroristen aus der
Psychopathologie der arabischen Kultur, insbesondere der
Frauenfeindlichkeit herzuleiten, wird greifbar, wie schnell ein
solcher Zugriff mit der Verurteilung ganzer Völker verbunden ist:
»Die Frau, die es schafft, ohne psychische Narben und ohne eigene
feindselige Konflikte aus einer derartigen Brutalität (der
Lebensbedingungen von Frauen in arabischen Ländern, A.E.)
herauszukommen und ihr zu entfliehen, ist so selten wie der Junge,
der inmitten dieser frauenfeindlichen, feindseligen Gesellschaft
aufwächst, ohne ein gewalttätiger Aggressor zu werden« (S. 193).
Man beginnt sich zu wundern, warum nicht jeder Araber ein Terrorist
wird.
Sehr spannend und bewusstseinserweiternd für Therapeuten, die in
Zeiten des Friedens arbeiten, ist der Bericht von Shmuel Erlich
über die »Arbeit des Psychoanalytikers in Zeiten des Terrors«.
Ausgangspunkt seiner Überlegungen zum psychoanalytischen Raum ist
die Frage, ob der Therapeut im Moment der Katastrophe (bzw. des
Alarms davor) bei seinem Patienten oder bei seiner Familie bleiben
soll.
Eine Zusammenfassung? Ernest Becker stellte fest, dass die meisten
Gewalttaten in der Geschichte begangen wurden, um das Böse
auszumerzen. Das besprochene Buch handelt von der Anstrengung der
Alternative dazu: sich mit dem Bösen zu beschäftigen.