Rezension zu Der Besen, mit dem die Hexe fliegt

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Rezension von Lothar Eder

Günter Gödde & Michael B. Buchholz (Hrsg.): Der Besen, mit dem die Hexe fliegt

Mit diesem zweibändigen Werk legen die Herausgeber Günter Gödde und Michael B. Buchholz nach dem dreibändigen Opus »Das Unbewusste« (2005) eine weitere umfangreiche programmatische Textsammlung vor.

Worum geht es? Als Ausgangspunkt dient Goethes Gedicht vom Zauberlehrling; dieser bedient den Besen (in der Analogie der Herausgeber: die Psychotherapie), da ihm aber Worte und Einsicht fehlen, gerät er außer Kontrolle. Erst die Worte des Meisters (»In die Ecke, Besen, Besen …«) können ihn zähmen. In Fortführung dieser Analogie führen Gödde und Buchholz aus, dass erst eine Art »hexischer Fähigkeit« – Fantasieren im Sinne Freuds, eine Metapsychologie, die sich dem Spekulieren, dem Ahnen und der Intuition verpflichtet – dem Besen das verleiht, was er (also die Psychotherapie) braucht, um nützlich zu sein. Ohne dieses hexische Element bleibt der Besen nichts als ein Instrument zum Reinemachen, will sagen: phantasie- und intuitionslose, mechanische Anwendung von Manualen oder vorgegebenen Behandlungsschritten in der Psychotherapie. Eine Überbetonung des »Hexischen« unter Ausblendung von empirischen Befunden andererseits führe ins Chaos, in die Verwüstung.

Beide Seiten, Empirie und Intuition, eine naturwissenschaftlich-technische und eine geisteswissenschaftlich-humanistische Kultur, zwei Flügel also seien zum Fliegen notwendig. Mit der Überbetonung der empirischen Seite und einer technisch fokussierten Therapeutik, die sich an störungsspezifischen Aspekten orientiere, mache sich die Psychotherapie, um im Bild zu bleiben, flugunfähig.

Dies führt zur Kernthese des Werkes: Psychologie (implizit als Grundlagenwissenschaft der Psychotherapie vorausgesetzt) sei als Wissenschaft der Komplementarität zu verstehen. Komplementarität sei (explizit im Sinne Batesons) die verbindende und übergreifende Sichtweise des harten (naturwissenschaftlich-empirischen) und des weichen (Interpretation, Deutung und Intuition betonenden) Denkstils. Als Wurzel dieser komplementären Denkweise nennen die Herausgeber in ihrer Einleitung die Quantenphysik Bohrs der 1930er Jahre. Ein Phänomen (Licht) kann aus 2 Perspektiven betrachtet werden, als Teilchen oder Welle. Erst beide Sichtweisen zusammen machen eine vollständige Erfassung des Gegenstandes möglich. Damit sind Gödde und Buchholz bei einem für Systemiker vertrauten Sowohl-als-auch statt eines Entweder-oder angekommen. Auch sind naturwissenschaftlichen Analogien einer systemischen Leserschaft aus der eigenen Domäne vertraut.

Ebenso und wohl eher überraschend vertraut dürfte systemischen Leserinnen und Lesern die psychoanalytische Kritik am Störungsbegriff sein (S. 28-29, Band 1): der gebräuchliche Störungsbegriff fingiere die Erreichbarkeit einer »ungestörten Normalität«. Schon Freud aber habe betont, durch seine Behandlung geschehe lediglich, dass neurotisches Elend in »gemeines Unglück» eingetauscht werde. Hier fühlt man sich doch in recht erstaunlicher Weise an systemische Erörterungen des Glücks (z.B. bei Arnold Retzer) erinnert.

Interessant zu lesen in der allgemeinen Einführung zu den 2 Bänden sind die Seiten 29-33, auf denen Buchholz und Gödde die beiden aus ihrer Sicht existierenden Modelle von Psychotherapie skizzieren und diskutieren. Sie nennen es das »medizinische« (i.e. abgrenzbare Störungsbilder i.S. eindeutiger Diagnosen und daraus folgend die Anwendung von indikativ ableitbaren und aus empirischer Forschung gewonnenen Interventionen) vs. eines »sozialwissenschaftlichen« Modells, welches die therapeutische Beziehung und das sich in ihr vollziehende Geschehen als zentrale veränderungsstiftende Variable ansieht. Etwas verwunderlich ist an dieser Stelle, dass die Herausgeber durchblicken lassen, beide Modelle seien unvereinbar. Für den Wissenschaftler, so könnte man einwenden, mag das gelten. Der Praktiker, die Praktikerin aber mag – da er bzw. sie ja von Berufs wegen an das Aushalten von Ambiguitäten gewohnt ist – beiden »Geistern« Sitz und Stimme im inneren Parlament einräumen. In Abwandlung eines Bonmots von Fritz B. Simon könnte man auch fragen: in der Theorie funktioniert es nicht, aber funktioniert es deshalb auch in der Praxis nicht?

Die insgesamt ca. 1330 Seiten der beiden Bände (inkl. Literaturverzeichnisse) gliedern sich in acht Abschnitte, deren Titel jeweils die übergeordnete Metaphorik des Fliegens variiert (»Flugrouten«, »Fluglotsen«, »Rundflug und Landung« etc.). Man merkt auch hier die konzeptuell-ordnende Handschrift der Herausgeber: es werden nicht einfach Texte verschiedener Autoren (18 an der Zahl) kompiliert, vielmehr wird jeder dieser Abschnitte mit einer profunden Einführung der Herausgeber ins Themengebiet eingeleitet und die einzelnen Artikel somit in ein Gesamtes eingebunden.

Das Konzept des Unbewussten – gewissermaßen der Heilige Gral aller psychodynamischen Theorien – steht in zwei der vier Kapitel des ersten Bandes im Mittelpunkt. Buchholz und Gödde haben diesen Theoriekern der Psychoanalyse, der Analytischen Psychologie C.G. Jungs und der Tiefenpsychologie als Herausgeber des dreibändigen (!) Werkes »Das Unbewusste« bereits 2005 einer eingehenden Ergründung und Beleuchtung unterzogen bzw. unterziehen lassen (»Das Unbewusste – Ein Projekt in drei Bänden I-III«, Psychosozial Verlag 2005). Systemisch orientierte Therapeutinnen und Therapeuten mögen an dieser Stelle einwenden, dass sich die Lektüre für sie damit bereits erledigt habe – gilt ihnen doch das Unbewusste als nichts anderes denn ein willkürliches Konstrukt, für das sich keinerlei (schon gar keine empirischen) Belege und auch keinerlei »Nützlichkeit« finden lasse! Systemischen Praktikern (und auch Theoretikern) scheint – so könnte man einwenden – oft wenig bewusst zu sein, dass sie sehr wohl auf Ideen vom Unbewussten zurückgreifen. Dies gilt allemal für Konzepte wie »unsichtbare Bindungen« in Familien, das Delegationsmodell von Helm Stierlin oder auch der Annahme von organisierenden Mustern für individuelle oder kollektive Verhaltensweisen, Stile und Wertorientierungen. Ähnliches gilt für die Verhaltenstherapie: bereits die sog. »kognitive Wende« zielt auf nicht mehr direkt beobachtbare Aspekte wie »Selbstverbalisationen« und »kognitive Strukturierungen« ab; der Patient liest diese seine Gedanken im therapeutischen Prozess ja nicht von der Innenseite seiner Stirn ab (und dem Therapeuten vor), sondern sie werden gemeinsam, aus der Analyse von aktuellen oder vergangenen situativen Performanzen erschlossen. Denkt man an neuere Entwicklungen der VT wie die »Schematherapie«, die u.a. bei Persönlichkeitsstörungen eingesetzt wird, so werden die Bezüge und damit die geistige Herkunft aus den psychodynamischen Theorien (z.B. dem Komplex-Modell C.G. Jungs) leicht deutlich. Jenseits des derzeit geltenden systemischen Mainstreams lassen sich hier also durchaus fruchtbare Anschlussmöglichkeiten denken.

In ihrer Einführung zum ersten Kapitel »Flughafen: Orientierung am Magnetfeld des ›Unbewussten‹« führen die Herausgeber entsprechend aus, in welch großem Maße z.B. in Sozialpsychologie und Verhaltenstherapie Konzepte des Unbewussten implizit enthalten sind. Zudem betonen sie die Begrenztheit von Aussagen der Neurowissenschaften: ohne eine psychoanalytische Theorie (man müsste hier korrigierend erweitern: ohne eine psychologische Theorie) lassen sich bewusste und unbewusste Vorgänge nicht erklären. Vor Jahren wurde in einem Artikel über Neurobiologie in der FAS ausgeführt, dass man mit den sog. bildgebenden Verfahren zwar sich verändernde Reaktionsmuster im Gehirn bei einer Person messen könne, die gerade einen Schokoriegel isst, um aber zu wissen, wie ein Schokoriegel schmeckt, braucht es auskunftsfähige Subjekte und somit psychologische Kategorien. Schön ist an dieser Stelle das Zitat eines Buchtitels von Peter Fuchs aus dem Jahre 2005: »Das Gehirn ist genauso doof wie die Milz«.

In diesem Abschnitt nehmen Gödde und Buchholz auch ein gewissermaßen chronisches Konfliktthema auf: dass und wie nämlich andere Therapieschulen, allen voran die Verhaltenstherapie (gewissermaßen der »Lieblingsfeind« der psychodynamischen Therapien) sich implizit und teilweise explizit Theorieaspekte vom Unbewussten aneignen bzw. ohne diese Aspekte keine hinreichenden Konsistenzen in ihren Theorien herstellen können.

In dieser Einführung werden auch Bezüge zu den Neurowissenschaften angeschnitten, die bedauerlicherweise ausgerechnet in jenem Artikel des Kapitels (Autor: Gerald Poscheschnik), der sich den empirischen Befunden zur Psychoanalyse widmet, nicht zur Sprache kommen. Ein schöner, facettenreicher Beitrag ist dies, der auch einen Überblick über Studien zum Wirksamkeitsnachweis psychodynamischer Therapien gibt. Kaum zu glauben allerdings, dass die intensive neurowissenschaftliche Forschung, welche die Wirksamkeit der Psychoanalyse seit Ende der Nuller Jahre des Jahrtausends anhand neurobiologischer Parameter belegt, hier keinen Niederschlag findet (vgl. beispielsweise Buchheim, Kächele, Cierpka et al. in Nervenheilkunde 5/2008). Gerade hierin liegt ja doch angesichts der aktuellen »Neurogläubigkeit« im Diskurs von Wissenschaft und Kostenträgern eine entscheidende Schlagkraft.

Bezüge zu den Neurowissenschaften werden im 3. Kapitel des 2. Bandes aufgenommen (»Pro und Contra neuer Flugtechniken: Soziale Kognition und neurowissenschaftliche Forschung«). Konkordant mit bereits (z.B. von Gerald Hüther) bekannten Positionen stellt der Heidelberger Arzt und Philosoph Thomas Fuchs in seinem Beitrag »Das Gehirn als Beziehungsorgan in verkörperten Interaktionen« her: Bezugnehmend auf das Embodiment-Konzept entwirft er eine Kritik des »Zerebrozentrismus« und leitet daraus zentrale Thesen ab, u. a.: »Die erlebte Welt ist nicht im Kopf«, »Das Selbst ist nicht im Gehirn« und (zentrale Bestands- und Überlebensthese der Psychotherapie) »Psychische Krankheiten sind mehr als Gehirnkrankheiten«.

Auch Adnan Sattar folgt in seinem engagierten und facettenreichen Beitrag »Entsteht die Welt im Kopf? Was die Hirnforschung derzeit beschränkt« dieser Argumentationslinie; dabei fokussiert er die Natur von Wahrnehmungsphänomenen und liefert Belege für die wechselseitige Beeinflussung von Gehirn und Geist. Allerdings muss man dem Beitrag doch einige logische und stilistische Mängel attestieren. Formulierungen wie »Auch […] Gerald Hüther spricht von der Wechselwirkung von Körper und Psyche. Dies würde nun bedeuten, dass der Geist auf das Gehirn kausal wirkt« (S. 463, Band 2) oder »Wir leben in einer Welt der Ursache und Wirkung. Zu jeder Wirkung wird nach einer Ursache gesucht« (S. 465) liegen nicht unbedingt auf dem hohen Niveau des Gesamtwerkes.

Zu den Filetstücken gehört gewiss der Beitrag »Psychoanalyse und ›social cognition‹« (S. 349-408, Band 2) des Mitherausgebers Michael B. Buchholz. Er nimmt einleitend die Neuro-Debatte auf und verlässt sie mit einem kritischen Seitenhieb gleich wieder: klinische Erfahrung müsse sich selbstbewusst einbringen und nicht auf neurowissenschaftliche Validierungen warten. Man mag an dieser Stelle auch an die im systemischen Feld offensiv eingebrachte »Neuroinitiative« von Schiepek (u.a. 2012) denken, deren grundlegende und zweifelhafte These lautet, (nur) mit neurowissenschaftlichem Werkzeug lasse Psychotherapie sich optimieren.

Seit vielen Jahren entwirft Buchholz gewissermaßen eine eigene Ausdifferenzierung psychoanalytischer Theorie und Therapeutik. Mit seiner Fokussierung von sprachlichem und interaktivem Geschehen (erwähnt sei eines der Hauptwerke, »Metaphern der Kur«, 2003) bereichert er die Psychoanalyse um eine systemische Dimension und macht sie damit für die »Nachbarn« hervorragend anschlussfähig. Der vorliegende Text greift bisherige Gedanken und Theoreme auf, variiert und erweitert sie. Besonders gewinnbringend ist dabei die Einbettung in ausführliche Fallbeispiele; dies entspricht dem weiter oben genannten Freudschen Postulat der Einheit von Heilen und Forschen. Buchholz greift in seinem Beitrag drei Aspekte der neueren Kognitionsforschung auf: Embodiment (der Körper als fortwährende, gewissermaßen unbewusst mitlaufende Referenz kognitiver Prozesse; vgl. die Arbeiten von Lakoff und Johnson); Embedding (kognitive Prozesse beziehen Umwelten mit ein) und Extension (kognitive Prozesse gehen über die individuellen Grenzen hinaus). In diesem Verständnis ist Psychoanalyse im Wesentlichen ein sozialer Vorgang. »Bewusstwerdung« beinhaltet dann nicht mehr nur eine »vertikale« (unbewusste Aspekte werden ins Bewusstsein geholt), sondern eine »horizontale Dimension«: Beziehungsgestaltung, Aufmerksamkeit für interaktive Vorgänge und Sensibilisierung für Tonlagen geraten in den Fokus.

Zurück zu Band 1: In seinem Beitrag »Offene Fragen in der Wissenschaft vom Unbewussten und ihre Beziehungen zur Therapeutik« (S. 57-88, Band 1) gibt Günter Gödde zum einen eine gut lesbare Einführung in philosophische Entwicklungslinien des Begriffs des Unbewussten; zum anderen finden wir hier einen kompakten Überblick, wie der Begriff in der Psychoanalyse – von den Freudschen Grundlegungen hin zu seinen späteren Ausdifferenzierungen – seine Wandlungen und Erweiterungen erfahren hat. Interessant auch die Polarität von »aufklärerischen« vs. »romantischen« Positionen, nach denen Gödde tiefenpsychologische Theorien und Theoretiker klassifiziert: Adler als »Vertreter der Aufklärung«, Jung als derjenige der »romantischen Position«. Bemerkenswert ist an dieser Stelle eben auch das Nichtgesagte oder besser: Nichtgeschriebene. Denn Jungianer würden Freud aufgrund seiner – in Jungscher Terminologie – »extrovertierten Denkfunktion« und seiner Skepsis gegenüber spirituellen Aspekten (man denke an die an Jung gerichtete Mahnung »die Schlammflut des Okkulten« abzuwehren) wohl auf dem Pol der Aufklärung verorten.

Gödde schneidet in seinem Beitrag einen grundlegenden Punkt an: wie und als was ist Therapeutik zu verstehen und zu betreiben? Fast unausgesprochen hat sich ja, in der VT ohnehin, jedoch ebenso in der Systemischen Therapie eine Therapeutik herausgebildet, die sich als Anwendung von aus störungsspezifischen Indikationen abgeleiteten Methoden versteht. Am Anfang der Freudschen Psychotherapie, und dies macht Gödde noch einmal klar, steht ein grundlegend anderes (und im Vergleich zum derzeitigen Mainstream gleichsam revolutionäres) Verständnis: die bereits erwähnte Einheit von Heilen und Forschen. Damit ist, kurz gesagt, der Therapeut (die Therapeutin) nicht einfach ein Anwender von in wissenschaftlichen Labors entwickelten (psychotherapeutischen) »Salben«, er oder sie ist vielmehr zusammen mit dem Patienten Generator von Wahrheit, welcher wissenschaftliche Qualität zukommt. Deshalb stehen weniger Techniken, sondern vielmehr das »kommunikative Können« und das »dritte Ohr« der Intuition im Vordergrund. Auch an dieser Stelle scheint doch eine signifikante Anschlussfähigkeit zu systemischen Positionen zu bestehen.

Dem eingangs erwähnten Prinzip der Komplementarität ist ein eigenes Kapitel gewidmet (»Gegensätzliche Flugrichtungen: Komplementarität in Psychologie und Psychotherapie«, S. 183-328, Band 1). Lesenswert ist der Beitrag von Jochen Fahrenberg, der sich Wilhelm Wundt, dem aus Mannheim-Neckarau stammenden Begründers der neuzeitlichen wissenschaftlichen Psychologie widmet. Der Titel lautet »Wilhelm Wundt erneut gelesen – Psychologie als ›empirische Geisteswissenschaft‹«. Fahrenberg bringt uns also Wundt als Geisteswissenschaftler nahe, der er neben seiner Grundlegung einer experimentellen Psychologie war. Wundt kann in diesem Sinne, folgt man dem Autor, als ein Vorreiter der Position der Komplementarität gelten.

Interessant zu lesen ist auch der Beitrag »Nietzsches Vermittlung von Geist und Natur – Interpretieren am Leitfaden des Geistes« von Helmut Heit und Nikolaos Loukidelis. Fast meint man in Nietzsche hier einen Vorreiter des Embodiment-Konzeptes zu erkennen, in dessen Werk auch vorgezogene Aspekte von späteren phänomenologischen Positionen (z.B. Merleau-Ponty) anklingen.

Lobenswert sind die beiden ersten Kapitel des 2. Bandes, die sich den »philosophischen Fluglotsen« und der »Flugsteuerung« vermittels der Anthropologie widmen. Lobenswert unter anderem deshalb, weil die insgesamt 8 Beiträge der beiden Kapitel in manchmal fast meditativer Weise ein weites Terrain ausschreiten; die sich hieraus ergebenden langen Blicke und weiten Blickwinkel ermöglichen es, Therapeutik als eingebunden in lange Traditionen des Denkens und Verstehens zu begreifen. Zudem: in Zeiten, da immer mehr Fußballvereine sich brüsten, eine »Philosophie« zu besitzen, während ebendiese Disziplin der »Freundschaft mit der Weisheit« innerhalb der Therapeutik zunehmend geringere Beachtung findet, ist dieser Rekurs auf die philosophischen Wurzeln und Bezüge wohltuend. So überschreiben die Herausgeber das entsprechende Kapitel unmissverständlich mit »Keine Wissenschaft und Therapeutik ohne philosophische Fluglotsen«.

Neben den Beiträgen, die »Nietzsches und Gadamers Philosophie der Medizin« (Michael Steinmann) und Kants Anthropologie (Jörg Zirfas) aufgreifen, ist derjenige von Johannes Oberthür hervorzuheben; dies deshalb, weil der Autor in seinem Artikel »Goethe und die Natur der Wissenschaft« künstlerisch-poetische Blickwinkel einflicht. Aus Goethescher Sicht (und Oberthürs Perspektive) wird ein Blick auf den Menschen entworfen, der von der Romantik (als Gegenpol zur Aufklärung) inspiriert scheint und an manchen Stellen an traditionell asiatische Sichtweisen erinnert: der Mensch als von Natur umgeben und eingebunden in ihre Kreisläufe, unvermögend, aus diesem Tanze herauszutreten. Das Studium der Phänomene offenbart in diesem Denken immer auch das Geheimnisvolle, es lässt Tieferes erkennen als nur die oberflächliche Erscheinung.

Abschließend soll ein weiterer Beitrag des Mitherausgebers Michael B. Buchholz Erwähnung finden: »Formen des Wissens und ihre Entwicklung beim Therapeuten« (Band 1, Kapitel »Flugrouten: Unterschiedliche Erkenntniszugänge zum Unbewussten«). Die seit langem erfolgte Berücksichtigung von Luhmanns Systemtheorie und das gründliche Beackern des Themenfeldes »therapeutische Beziehung« (z.B. in der Verbindung von Konversations-, Narrations- und Metaphernanalyse in Tat-Sachen, Narrative von Straftätern 2008) lassen Buchholz einmal mehr als einen systemisch inspirierten und einen das systemische Feld potentiell inspirierenden Psychoanalytiker in Erscheinung treten.

Auch in diesem Beitrag stellen Luhmanns Darlegungen über die Verschränkung von Seelischem und Kommunikation einen Teil der Ausgangsüberlegungen dar. Theoretisch fundiert und mit zahlreichen praktischen Beispielen versehen, führt Buchholz den Leser in eine kreativ-spielerische Verknüpfung von Luhmann, Balint und Michel Polanyi, dem Theroretiker des »impliziten Wissens«. Er verweist darauf, dass Therapeuten nicht bloße Anwender von wissenschaftlichen Theorien sind. Vielmehr entwickeln und verfügen sie – als professionelle Könner – über ein Wissen, das jenseits des Sichtbaren zu verorten ist: es hat zu tun mit Intuition und dem »Lesen« von Intentionen des Gegenüber (dem Patienten, der Klientin). Als Leser und Psychotherapeut habe ich gerade diese Passage als enorme Bestätigung und Wertschätzung erlebt, da doch die »psychotherapeutische Kunst« sich nachgerade chronisch massiven Abwertungen und Angriffen ausgesetzt sieht (z.B. aus der körpermedizinischen Ärzteschaft, durch Gesundheitspolitiker und manche Kassenvertreter). Ganz im Luhmannschen Sinne bezeichnet Buchholz die therapeutischen Aspekte »Beziehung« und »Technik« als Umwelten füreinander. Ein Gewinn ist der Abschnitt über »Sprechen und Schweigen« (S. 410-14, Band 1, der womöglich absichtlich den Buchtitel »Reden oder Schweigen« von Fuchs und Luhmann aufnimmt): gezeigt wird eindrücklich (und mit empirischen Belegen versehen) nicht nur, welche verschiedenen Arten von Schweigen in therapeutischen Settings unterschieden werden können. Vielmehr legt Buchholz dar, welch enorme Bedeutung produktives Schweigen in Psychotherapien haben kann.

Dies mag technisch-interventionsorientierte Therapeuten (auch manche Systemiker) verstören, welche großen Wert auf das gesprochene (und weniger auf das erahnte und erahnbare) Wort legen. Andererseits mag man dieser Position durchaus positive und produktiv-verstörende Aspekte abgewinnen. Dies gilt für das gesamte Werk. Es ist mit seinen öffnenden Perspektiven und Impulsen keineswegs nur auf eine psychodynamisch verortete Leserschaft zugeschnitten. Für im positiven Sinne »verstörungsbereite« systemische Praktiker und Theoretiker enthält es viele anregende Aspekte, welche nicht nur Neues beinhalten, sondern Vertrautes in neuem Licht erscheinen lassen und womöglich sogar über den eigenen Tellerrand hinausweisen. In diesem Sinne ist das Werk als unbedingt empfehlenswert zu bezeichnen. Sein Umfang und seine Bandbreite machen es (auch für den Rezensenten) nicht zu einer Lektüre, die man sich »am Stück«, sondern eher – im Sinne eines gesteigerten Lesegenusses – »portionsweise« zu Gemüte führt.

Lothar Eder, Mannheim


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