Rezension zu Geschlechter- und Sexualitätsentwürfe in der SS-Zeitung Das Schwarze Korps
www.querelles-net.de, Rezensionszeitschrift für Frauen- und Geschlechterforschung Jg. 14, Nr. 3 (2013)
Rezension von Heinz-Jürgen Voß
Nazi-Zeit, Geschlecht und Sexualität: Für die Aufnahme
psychoanalytischer Perspektiven
Sebastian Winter: Geschlechter- und Sexualitätsentwürfe in der
SS-Zeitung ›Das Schwarze Korps‹. Eine
psychoanalytisch-sozialpsychologische Studie.
Abstract: Sebastian Winter unternimmt in seiner Studie den Versuch,
geschichtswissenschaftliche und
psychoanalytisch-sozialpsychologische Perspektiven für die
Auseinandersetzung mit den Geschlechter- und
Sexualitätsvorstellungen der Nazi-Zeit produktiv zusammenzuführen.
Dafür gibt er beachtenswerte Anregungen, die weitere
Forschungsarbeiten inspirieren sollten. Die ertragreiche Lektüre
wird allerdings dadurch erschwert, dass der bisherige
geschichtswissenschaftliche Forschungsstand sehr knapp und zuweilen
erst spät – noch am Ende des Buches – vorgestellt wird.
Der Bielefelder Sozialpsychologe und Soziologe Sebastian Winter
bietet in seiner Publikation »Geschlechter- und Sexualitätsentwürfe
in der SS-Zeitung ›Das Schwarze Korps‹: Eine
psychoanalytisch-sozialpsychologische Studie«, die zugleich seine
verteidigte Dissertationsschrift darstellt, zahlreiche
beachtenswerte und gründlich erarbeitete Perspektiven für das
Verständnis der Geschlechter- und Sexualitätsvorstellungen im
Nationalsozialismus an. Seiner Untersuchung legte der Autor die
SS-Zeitschrift »Das Schwarze Korps: Zeitung der Schutzstaffeln der
NSDAP« zu Grunde, die er im zweiten Teil der Untersuchung
diskursanalytisch und auf Basis eines weitreichenden
geschichtswissenschaftlichen Verständnisses auswertet. Die Auswahl
der Quelle folgte der Notwendigkeit der Beschränkung auf eine
auswertbare Fülle von Material und orientierte sich an der weiten
Verbreitung der Zeitschrift – 1939: 1.080.000 Exemplare (S. 142) –
und ihres ›sinnstiftenden‹ und großen Einflusses in der NS- Zeit:
»Das Hausblatt der Elite-, Vorbild- und Terrororganisation SS
verstand sich als Leitorgan der nationalsozialistischen
Weltanschauungsproduktion, weshalb sich in ihm besonders
ausführliche und ausgearbeitete programmatische
Positionsbestimmungen finden.« (S. 26) Vor dem Hintergrund der
weitreichenden Bedeutung der Zeitschrift sei es ein Desiderat, dass
sich die Geschichtswissenschaft bisher »überraschend wenig« mit der
Zeitschrift beschäftigt habe (S. 142).
Psychoanalytisch orientierte Geschichtswissenschaft
Der sinnstiftende Charakter der Zeitschrift interessiert Winter
aber auch auf andere Weise: Er hält eine rein diskursanalytische
Betrachtung – etwa von Schriften – für ein Verständnis der
Anziehungskraft bzw. Wirkungsmacht von Vorstellungen für
unzureichend. Vielmehr müsse auch die Rückkopplung zum Individuum
verstanden werden. Auf welche Weise wirkte »Das Schwarze Korps«
sinnstiftend, konnte also an Vorstellungen von Menschen anknüpfen
und diese überzeugen? Hier schlägt der Autor eine psychoanalytische
Fundierung geschichtswissenschaftlicher Ausarbeitungen vor. Gerade
bei den Geschlechter- und Sexualitätsvorstellungen in der NS-Zeit
seien nicht nur Inhalte, Positionen oder Theorien bedeutsam,
vielmehr entfalteten sie ihre Wirkung über Emotion, Glauben und
Fühlen. Auch »Das Schwarze Korps« musste die Rezipienten ›ködern‹.
Winter verdeutlicht dies mit einem Zitat des Germanisten Mario
Zeck: »Es geht um die Mobilisierung und Bestätigung der Rezipienten
[…], um das Erwecken von Freude und Begeisterung«, es müssten
»Hass«, »Dankbarkeit«, »Stolz«, »Trauer«, »Zorn«, »Häme«, »Ekel und
Abscheu« geweckt werden (Zeck, nach: S. 17), damit Menschen sich
angesprochen fühlten und Inhalte annehmen würden.
Diese Dynamik reizt Winter, und er stellt im ersten Kapitel
ausführlich psychoanalytisch orientierte Theorien vor, die einen
Zugang zu dieser Perspektive mit Fokus auf den Hitlerfaschismus
ermöglichten – Ansätze von Sigmund Freud, Zygmunt Baumann, Theodor
W. Adorno und Max Horkheimer sowie von Klaus Theweleit und
Margarete Mitscherlich. Den Ansätzen gemeinsam sei, dass sie die
»psychodynamische Bewältigung sehr basaler Konflikterlebnisse« von
Menschen über die »Kombination der Abwehrmechanismen der Spaltung,
der Projektion und der Verschiebung« (S. 135) erklärten. Das
bedeutet, dass die eigene Wahrnehmung eines Menschen,
beispielsweise Geschlechter- und Sexualitätsvorstellungen nicht zu
entsprechen (nicht entsprechen zu können), aus der
Selbstwahrnehmung exkludiert wird. Das eigene ›Defizit‹ werde in
der Nazi-Zeit durch die ›mehrheitsdeutsche‹ Bevölkerung
insbesondere antisemitisch verhandelt – Juden würden wahlweise als
»weibisch-lüstern« oder »patriarchal« (ebd.) konstruiert. Sie seien
für Ambiguität und postulierte gesellschaftliche und individuelle
Unzulänglichkeiten verantwortlich gemacht worden.
Kein einfaches Bild der Geschlechter- und Sexualitätsvorstellungen
im NS
Die bisher existierenden geschichtswissenschaftlichen Perspektiven
auf die Geschlechter- und Sexualitätsvorstellungen der NS-Zeit
erwiesen sich für Winter als zu einfach. Weder der Perspektive, den
Nationalsozialismus als »Extremform des Patriarchats« (S. 9 f.),
noch derjenigen, ihn als eine »Verwischung der Geschlechtergrenzen«
(ebd.) anzusehen, sei zuzustimmen, vielmehr zeigten sich die
Geschlechter- und Sexualitätsvorstellungen bei der Analyse der
Zeitschrift als sehr heterogen, gingen Vorstellungen
»›disziplinierter‹ Erotik« (S. 14) und teilweiser Bejahung
sexuellen Vergnügens zusammen, würde gleichzeitig einige sexuelle
Vergnügen als problematisch beschrieben und ›als jüdisch‹
abgelehnt. Schließlich zeigten sich auch Veränderungen im
zeitlichen Verlauf der Herausgabe der Zeitschrift. So sei etwa die
Berufstätigkeit von Frauen, die kriegsbedingt stieg, keineswegs nur
als Zustand während des Krieges beschrieben, sondern auch als
darüber hinausgehend anzustrebender Zustand klassifiziert worden.
Winter zitiert aus dem Schwarzen Korps: »Der Einsatz der fraulichen
Kräfte im Berufsleben wird daher immer mehr gefördert werden
müssen, aber selbstverständlich unter Bedingungen, die die
Gesundheit der Frau im Hinblick auf die Mutterschaft und
Familienaufgaben nicht gefährden« (nach: S. 207).
Winter arbeitet facettenreich in neun Unterkapiteln heraus, wie
sich das im Schwarzen Korps zeigende nationalsozialistische
Verständnis von Geschlecht und Sexualität zwar
»misogyn-männerbündischer« und »völkisch-frauenbewegter« Positionen
bediente, sich aber nicht darauf beschränkte, sondern daraus etwas
Neues entwickelte. Bereits die Anlage der Zeitschrift, in der in
der Regel ausschließlich Männer schrieben, weise auf eine klare
Verteilung von gesellschaftlichen Aufgaben zwischen den
Geschlechtern in der nationalsozialistischen Ideologie hin (S. 191
ff.). Die Aufgaben der Frauen wurden in ›Mutterschaft‹,
›Häuslichkeit‹ und ›Familienbetreuung‹ gesehen – allerdings konnte
diese begrenzte Sphäre auch geöffnet werden, sei etwa
Berufstätigkeit thematisiert worden. Jungen und Männer sollten in
bündischen Strukturen ›gestählt‹ werden, gleichwohl sollten diese
Männerbünde nicht zu eng werden, um gerade in der Pubertät – aber
auch anschließend – nicht die ›Abkehr der Jungen und Männer von den
Mädchen und Frauen‹ zu bewirken. Winter hält fest, dass »im
Gegensatz zum Antifeminismus die ›Misogynie kein wesentlicher
Bestandteil der NS-Weltanschauung‹ war« (S. 250) und auch in der
Ehe die Frau nicht »Dienerin des Mannes« sein sollte. Damit
unterstreicht der Autor die seit den 1990er Jahren aufgekommene
Perspektive, dass Frauen nicht pauschal als Opfer des NS betrachtet
werden könnten, sondern dass sie meist Täterinnen und
Nutznießerinnen im NS waren, genau wie die meisten deutschen Männer
Täter waren.
Ein ähnlich ambivalentes Verhältnis stellt der Autor auch für den
Umgang im NS mit sexuellem Vergnügen und mit Nacktheit heraus. Hier
seien von den Autoren des Schwarzen Korps einige Verhaltensweisen
protegiert, andere abgelehnt wurden; man habe versucht, sich sowohl
gegen vermeintliche ›bürgerliche Prüderie‹ wie gegen ›bürgerliche
Lüsternheit‹ – oft und abwertender jedoch schrieben die Nazis
Jüd-/innen diese Eigenschaft zu – abzugrenzen.
Widersprüche im NS bezüglich Homosexualität
Auch für die Debatten um Homosexualität in der NS-Zeit legt Winter
wichtige weitere Materialien vor und belegt, dass Homosexuelle eben
nicht vergleichbar zu Jüdinnen und Juden verfolgt wurden, wie es in
den 1980er Jahren Teile der Schwulenbewegung im Kampf gegen den in
der Bundesrepublik fortbestehenden §175 mit der These des
›Homocaust‹ – begrifflich als analog zu Holocaust/Shoa –
postulierten. Vielmehr arbeitet der Autor schon für die Zeit vor
1933 die teilweise Kollaboration von einigen homosexuellen Männern
mit den Nazis heraus und erwähnt selbstverständlich auch, dass die
These des ›schwulen Nazis‹ genauso falsch ist. Er schreibt: »›Den
bizarren Höhepunkt des Kampfes um Anerkennung in [der
Schwulen-Zeitschrift, Anm. HV] ›Der Eigene‹ bildete seine
Verurteilung der Weimarer Toleranz – eben jener Toleranz, aufgrund
derer die Zeitschrift es zu solch einem Erfolg gebracht hatte. ›Der
Eigene‹ unterstützte die nationalistische Rechte‹ […]. ›Der Eigene‹
konnte nach 1933 nicht weiter erscheinen. Sein Herausgeber Adolf
Brand (1874–1945) war allerdings keinen weiteren Repressionen
ausgesetzt« (S. 219; Zitat im Zitat: Mosse 1985). Brand erlitt als
bekennender Homosexueller offenbar in der Nazi-Zeit keine
»Repressionen«.
Insofern ist auch hier die Vielschichtigkeit zu beachten:
Homosexualität wurde in der Nazi-Zeit zwar als äußerst
problematisch angesehen, etwa 50.000 Männer wurden wegen
Homosexualität verurteilt, 6.000 wurden in Konzentrationslager
verschleppt, zwei Drittel von ihnen wurden dort bestialisch
ermordet. Gleichzeitig ist festzustellen, dass in der NS-Zeit das
Ziel nicht die grundlegende Ermordung der homosexuellen Männer war,
sondern »erzieherische Bemühungen«. Winter zitiert »Das Schwarze
Korps« vom 4.3.1937: »Hält man sie [die homosexuellen Männer, Anm.
HV] dann zu systematischer Arbeitsleistung an – was den meisten
unter ihnen zum erstenmal in ihrem Dasein widerfährt –, schließt
man sie von ›normalen‹ Menschen unter strenger Bewachung ab,
hindert man sie daran, anderen die selbstgefällige Rolle ihres
Krankseins vorzuspielen, zwingt man sie, im Mitgenossen stets den
Spiegel der eigenen Unmöglichkeit zu sehen, so tritt mit
erstaunlicher Pünktlichkeit die Wandlung ein. Der ›Kranke‹ wird
gesund. Der ›Anomale‹ erweist sich als durchaus normal. Er macht
lediglich eine Entwicklungsphase durch, die durchzumachen er in der
Jugend versäumt hat. Und übrig bleiben lediglich die zwei Prozent
der wirklich Anormalen, die, ebenso wie sie draußen im Leben die
Seuchenherde bildeten, nun zu Kristallisationspunkten des Ekels
werden, der die Spreu vom immer noch brauchbaren Weizen scheidet«
(nach: S. 223). Als ursächlich für Homosexualität wurden dabei auch
›Männerbünde‹ und der ›Männerstaat‹ ausgemacht – der Nazi Heinrich
Himmler schrieb in der SS-Zeitschrift: »Ich sehe in der gesamten
Bewegung eine zu starke Vermännlichung und in dieser übertriebenen
Vermännlichung das Saatbeet für die Homosexualität« (nach: S. 219).
Hingegen mussten für die Begründung der verbleibenden zwei Prozent
wiederum Jüd-/innen als ›Schuldige‹ herhalten und wurde
insbesondere Magnus Hirschfeld und sein sexualreformerisches Wirken
im Schwarzen Korps diskreditiert.
Beunruhigendes Bild der Geschlechterdifferenz im NS
Winter zeigt umfassend für »Das Schwarze Korps«, wie die
Geschlechter- und Sexualitätsbetrachtungen in ein Gesamtverständnis
von ›Volk‹ und ›Staat‹ eingebunden waren und wie jede und jeder
›Mehrheitsdeutsche‹ sich als Teil des Ganzen verstehen sollte.
Bezüglich Geschlecht und Sexualität sei die stärkere Betonung von
›weiblichen‹ und ›männlichen Geschlechtscharakteren‹ bedeutsam
gewesen, bei Auslöschung von ›Verwischungen‹ bzw. eines
›Dazwischen‹ (die als jüdisch markiert und diskreditiert wurden),
allerdings bei durchaus vollzogener Aktualisierung von
Geschlechtervorstellungen (etwa zum oben beschriebenen Berufsleben
von Frauen).
In einem abschließenden dritten Kapitel verarbeitet Winter seine
gewonnenen Erkenntnisse aus der Analyse der Zeitschrift für eine
psychoanalytische Perspektive – hier schlägt er eine partielle
Korrektur und Ergänzung der im ersten Kapitel vorgestellten Ansätze
vor. Dabei folgt er Barbara Rendtorff in der Einschätzung, dass in
den NS-Geschlechter- und Sexualitätsvorstellungen, verwoben mit
Antisemitismus, nicht »Misogynie […] in erster Linie zu beobachten«
sei (S. 394), sondern dass vor allem die Geschlechterdifferenz an
sich als beunruhigend wahrgenommen wurde. In diesem Sinne zielten
die Verfasser des Schwarzen Korps auf die ›Versöhnung‹ von
›Männlichkeit‹ und ›Weiblichkeit‹ im ›Volk‹, während die Spannungen
in Bezug auf Geschlecht und Begehren auf Jüd-/innen projiziert
wurden. Grundlegend sei dabei auch ein Verständnis gewesen, dass
bestimmte Verbote zu Verlangen und Erotik führten, hingegen ein
›selbstverständlicher‹ Umgang mit dem jeweils eigenen Körper und
›selbstverständliche‹ Nacktheit ihnen vorbeugten. Winter zitiert
weiter »Das Schwarze Korps«: »[D]ie geschlechtlichen Vorgänge
müssen der moralischen Bewertung entzogen werden und vollkommen
unter eugenischer und rassenhygienischer Bewertung verstanden
werden« (nach: S. 402).
Diskussion und Fazit
Sebastian Winter macht es den Lesenden nicht immer ganz leicht.
Sind die einzelnen Teile und die Unterkapitel sehr klar, fundiert,
nah an den Quellen, so erschwert deren Abfolge, bei der wichtige
Grundlagen erst zum Abschluss gelegt werden, die Lektüre des
Bandes. So erschließt es sich beispielsweise nicht, dass erst im
Abschlusskapitel (S. 383 ff.) die Vorstellungen der bürgerlichen
›Männerbünde‹ und der ›Völkischen Frauenbewegung‹ in ihren
Grundzügen erläutert werden, wo doch bereits zuvor die teils
deutliche Abgrenzung in der Zeitschrift »Das Schwarze Korps« gegen
diese Strömungen tragende Funktion in der Argumentationskette
hatte. Günstig wäre überdies gewesen, der gründlichen Analyse der
Ausführungen in der SS-Zeitschrift einen ausführlicheren – als dies
in der Einleitung kurz geschieht – Überblick über den
Forschungsstand zu Geschlecht und Sexualität im NS-Staat
voranzustellen, auch wenn sich Winter – wie der Titel zeigt und er
eingangs erläutert – auf die Geschlechter- und
Sexualitätsvorstellungen explizit in der Zeitschrift »Das Schwarze
Korps« beschränkt. Damit wäre eine bessere Einordnung der für die
Zeitschrift dargestellten Vorstellungen möglich. So beschränkt sich
der Autor darauf, die unterschiedlichen Sichtweisen in der
Forschung nur knapp anzureißen. Mit einem solchen Überblick hätten
zusätzlich zur theoretischen Analyse und der
psychoanalytisch-sozialpsychologischen Einordnung auch die konkrete
Verfolgung, insbesondere das Leid von im NS verfolgten Menschen,
expliziter einbezogen werden können.
Seine Anregung zur Zusammenführung diskursanalytischer und
psychoanalytisch-sozialpsychologischer Perspektiven sollte
aufgenommen und weiter verfolgt werden: Welche Rolle spielen
›Überzeugungskraft‹ und emotionale Wirkung bei der Durchsetzung
bestimmter Sichtweisen? Vor welchem gesellschaftlichen Hintergrund
und individuellen Erfahrungen wirken sie? Durch eine solche
Perspektive könnte auch in geschichtswissenschaftlichen
Untersuchungen die Kopplung zwischen Schriften und der direkten –
überzeugenden – Wirkung auf Menschen im Blick behalten werden.
Andererseits greift eine solche Sichtweise die wissenschaftliche
Orientierung an, Jahreszahlen von Ereignissen all zu wichtig zu
nehmen: Die Wirkungen der erzieherischen Vorschläge und der
Emotionalität des NS und explizit der Zeitschrift »Das Schwarze
Korps« – hörten 1945 mit der Befreiung durch die Alliierten noch
nicht einfach auf. Vielmehr musste die deutsche Bevölkerung von
einer ›mordenden Horde‹ zu einer demokratischen Ordnung erzogen
werden. Das wurde vielfach versäumt, schon weil wichtige Positionen
in der Bundesrepublik von NS-Eliten besetzt blieben. Entsprechend
bietet sich ein kombinierter geschichtswissenschaftlicher und
psychoanalytisch-sozialpsychologischer Blick für das NS-Verständnis
von Geschlecht und Sexualität auch für die Jahrzehnte nach 1945 an.
Also: Welche prägende Wirkung hatte etwa eine Schrift wie Kurt
Seelmanns »Kind, Sexualität und Erziehung: Zum Verständnis der
sexuellen Entwicklung und des sexuellen Verhaltens von Kind und
Jugendlichen«, die 1942 erstmals erschien und noch 1973 in der 7.
Auflage in München veröffentlicht werden konnte (auch wenn sich im
Vorwort von 1973 das Buch nun nicht mehr an »HJ- und BDM-Führer«,
sondern leicht abgeändert an »Jugendführer« richtete)?
Winter ist mit seiner Studie eine beachtliche Zusammenschau
verschiedener methodischer Ansätze in Bezug auf Geschlechter- und
Sexualitätsvorstellungen im NS gelungen, die ein neues, ein
mehrdimensionales methodisches Grundgerüst für weitere
Forschungsfragen vorschlagen. Dem sollte Rechnung getragen werden.
Auch inhaltlich – etwa bezüglich Homosexualität und der
Berufstätigkeit von Frauen im NS – zeigt er mit seiner
ausführlichen Auswertung der Zeitschrift »Das Schwarze Korps« den
teilweise widersprüchlich erscheinenden Umgang im NS auf. Diese
›Widersprüche‹ sollten weitere Forschungen mit Blick auf die
Herrschaftsmechanismen in der bürgerlichen Gesellschaft
anregen.
www.querelles-net.de