Rezension zu Traum(a) Migration (PDF-E-Book)
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Rezension von Mehmet Sekeroglu
Robert E. Feldmann, Günter H. Seidler: Traum(a) Migration
Thema
Der gewählte Titel des vorzustellenden Buchs »Traum(a) Migration.
Aktuelle Konzepte zur Therapie traumatisierter Flüchtlinge und
Folteropfer« stimmt mit dem Inhalt des Buches treffend überein,
denn die Migration, die für viele Menschen vor der Einwanderung als
eine Traumvorstellung existiert, kann im Einwanderungsland zu einem
schweren Trauma werden, bzw. eine bereits erlittene Traumatisierung
verstärken. Auch der Untertitel des Buches »Aktuelle Konzepte zur
Therapie traumatisierter Flüchtlinge und Folteropfer«, in dem
mehrere Experten ihren Beitrag zum Thema leisten, repräsentiert das
Anliegen des Buches.
Das Selbstverständnis dieses Buches kann man sich vor allem mit der
Berücksichtigung einer »ärgerlichen Tatsache« klar machen: In
Deutschland leben Menschen mit Migrationshintergrund bzw.
Flüchtlinge, die zusammen etwa 18% der Gesamtbevölkerung ausmachen
und nahezu die Hälfte von ihnen leidet unter psychischen
Störungen.
Sowohl die Gründe als auch die Konsequenzen dieser Tatsache werden
in dem vorliegenden Buch von mehreren Fachleuten überzeugend
dargestellt und diskutiert. Zu den im Buch erwähnten Tatsachen
gehören vor allem die folgenden:
Aus verschiedenen Ländern strömen Migranten nach Europa, weil in
ihren Heimatländern Kriege, Naturkatastrophen bzw. Armut herrschen.
Aus diesen und ähnlichen Gründen verlassen sie ihre Heimat und
versuchen, in einem ihnen fremden Land eine bessere Zukunft für
sich und für ihre Familienangehörigen zu erreichen. Diese Menschen,
die ihre Heimat verlassen, machen vor und während der Flucht
verschiedene schmerzhaften Erfahrungen wie Vertreibung, Verfolgung,
Haft, Folter oder Vergewaltigung. Die Flüchtlinge leiden unter
proportional deutlich erhöhten Traumafolgestörungen oder anderen
psychischen Erkrankungen. Etwa 40 % der in Deutschland lebenden
Flüchtlinge und Asylbewerber erkranken an einer posttraumatischen
Belastungsstörung. Nach dem oft traumatischen Verlassen der Heimat
kommen weitere Probleme wie sozial- und wirtschaftlich bedingte
Stressbelastungen wegen Chancenungleichheit, Diskriminierung und
Hoffnungslosigkeit im Aufnahmeland hinzu. Diese Probleme können nur
mit professioneller Hilfe der zusammenarbeitenden Therapeuten,
Psychologen, Sozialarbeiter und Dolmetscher gemeistert werden.
Viele Autoren des Buches stellen fest, dass nicht nur Flüchtlinge
von diesen Problemen betroffen sind, sondern ganz allgemein auch
Einwanderer, die nach einer gründlichen Gesundheitsuntersuchung
nach Deutschland geholt wurden, um hier zu arbeiten. Hier kommt
noch hinzu, dass oft auch deren Kinder und Kindeskinder, die in
Deutschland geboren sind, betroffen sind. Menschen mit
Migrationshintergrund haben oft Schwierigkeiten bei der Integration
in die Aufnahmegesellschaft. Es bestehen Defizite in puncto
Bildungserwerb, Berufsausübung und Gesundheitsversorgung.
Ausgewählte Inhalte
Aus den durchweg lesenswerten Beiträgen soll hier eine kleine
Auswahl kurz vorgestellt werden.
Barbara Preitler (Österreich) schreibt über die Psychotherapie mit
schwer traumatisierten tschetschenischen Flüchtlingen in der
»Festung Europa«. Zitat: »Menschen, die wegen Bürgerkrieg,
ethnischen Säuberungen und Folter ihr Heimatland fluchtartig
verlassen mussten, leiden sehr oft unter den traumatischen
Spätfolgen, die durch unsichere Asyl- und Aufnahmebedingungen, wie
sie derzeit in Europa gelten, massiv verstärkt werden und immer
wieder zu Retraumatisierungen führen« (S. 167). An dieser Gruppe,
so Preitler, zeige sich, dass psychotherapeutische Arbeit mit
traumatisierten Menschen nur im Kontext von unterstützenden
politischen und sozialen Rahmenbedingungen stattfinden könne.
Dimitrios Kalaitzidis beschäftigt sich mit der strukturellen
Gewalterfahrung eines Jungen mit Migrationshintergrund und einer
Erkrankung aus dem Autismusspektrum. Er vertritt die These, dass
die Gewalterfahrung durch Sprache bzw. die strukturelle Gewalt auch
ohne physische Gewalt auskommen kann, weil sie, so Kalaitzidis,
ihre Zustimmung und Akzeptanz von allen Beteiligten erhält, die
fraglos ihre habitualisierten Verhaltensmuster in ihren
Wiederholungen akzeptieren.
Die Autorengruppe Scott Stock Gissendanner, Iris Tatjana Calliess,
Gerhard Schmid-Ott & Katharina Behrens befasst sich mit dem Thema
»Trauma und Bewältigung unter dem Aspekt der Migrationssoziologie
bzw. interkulturellen Psychotherapie«. Dabei analysieren sie die
Identität der Betroffenen und deren Abgrenzung gegenüber eines
neuen sozialen Umfeldes. Ihr Fazit hierbei ist, dass eine
differenzierte und ausführliche Anamnese sowohl die kulturellen
Unterschiede zwischen Herkunftsland und Aufnahmeland als auch den
Prozess der Migrationsbiografie und die Akkulturation
mitberücksichtigen sollte.
Astrid Pabst, Udo Gerigk, Sukran Erdag & Gunnar Paulsen belegen
überzeugend, dass der Bedarf an umfassenden Behandlungskonzepten
und Fortbildungsmöglichkeiten für Psychiater und Psychologen
steigt. Diese Feststellung hat ihrer Ansicht nach einige
Konsequenzen, die in diese Diskussion einbezogen werden müssen: Es
sollen nämlich neue und effektive Therapie- und Behandlungskonzepte
erarbeitet werden. Das wiederum mache die Fortbildung der Fachleute
(Psychologen und Psychotherapeuten) notwendig.
Eva van Keuk, Hans-Wolfgang Gierlichs & Ljiljana Joksimovic weisen
auf die Schwierigkeiten in der diagnostischen Einordnung hin. Sie
schreiben: »Studien im Bereich der transkulturellen Psychiatrie
erheben meist Symptomausprägungen oder Störungsverläufe in
Abhängigkeit zu einer ethnischen Zugehörigkeit, die in der Regel
entweder an realer Zuwanderungserfahrung (erste, zweite, dritte
Generation) festgemacht wird oder aber schlicht an der
Pigmentierung der Haut. Ein stärkeres Augenmerk auf das soziale
Milieu, dem Patienten angehören, wäre unserer Ansicht nach sicher
zielführender – sowohl in der Diagnostik als auch in der Behandlung
und in der wissenschaftlichen Untersuchung. Diese Paradigmen haben
sich aber in der klinischen Forschung (bisher) nicht durchsetzen
können, sodass wir auf die vorhandenen Daten zurückgreifen müssen.«
(S. 244).
Meryam Schouler-Ocak stellt in ihrem Beitrag die kulturspezifischen
bzw. interkulturellen Faktoren dar, die die Therapie von Menschen
mit Migrationshintergrund in entscheidender Form beeinflussen
können. Daher, so Scholer-Ocak, müsse ein professioneller Kultur-
und Sprachvermittler in den Therapieprozess einbezogen werden.
Ibrahim Özkan & Maria Belz untersuchen die besonders prekäre
Situation von psychiatrischen Patienten mit Migrationshintergrund
in Deutschland und stellen fest, dass die Ursachen der
Traumafolgestörungen im Verlust wichtiger Bezugspersonen und
kultureller Identität zu suchen sind. Die Ereignisse vor der
Migration wie Misshandlung, Krieg, sexualisierter Gewalt usw.
beeinträchtigten ihr Leben im neuen Land weiterhin. Es komme daher
darauf an, dass Therapeuten und andere Fachkräfte versuchen
sollten, die biografischen und traumatischen Hintergründe der
Patienten zu erkennen. Sie schreiben in diesem Zusammenhang:
»Behandlung und Betreuung stellen hohe Anforderungen wie
transkulturelle und traumaspezifische Kompetenz, Diagnostik und
Fähigkeit zur achtsamen Empathie« (S. 193).
Barbara Abdallah-Steinkopff & Jürgen Soyer leisten in dem
vorliegenden Buch nicht nur einen sozialpsychologischen, sondern
auch einen allgemein sozialwissenschaftlichen Beitrag. Sie stellen
sich u. a. die politische Frage nach den globalen wirtschaftlichen
Ursachen der Migration und kommen zu dem Schluss, dass ohne die
Einbeziehung dieser weltpolitischen Aspekte eine dauerhafte Lösung
der Probleme der Flüchtlinge nicht erreicht werden kann. Ein Zitat
»Kriegerische Auseinandersetzungen sind weltweit keine lokalen
Ereignisse, sondern haben immer eine internationale Dimension. Denn
durch die Verstrickung und Einmischung anderer Nationen,
insbesondere der großen Industrienationen, werden die bewaffneten
Kämpfe überhaupt erst auf längere Zeit finanziell möglich, wenn
dies durch bedeutende Länder dieser Erde aus bestimmten Interesse
heraus geduldet oder gar unterstützt wird. Auch die Deutsche
Politik verfolgt in jedem dieser Konflikte eine eigene Linie, die
von Stillschweigen bis Kriegseinsatz alle Nuancen kennt« (S.
138).
Diskussion
Ein sozialwissenschaftliches Buch lese ich u. a. mit einem Blick
auf die Ethik. Das bedeutet für mich: wenn in einem Buch im Namen
der Wissenschaft bzw. im Namen der statistischen Fakten ohne
Einbeziehung der ungerecht behandelten und leidenden Menschen aus
Fleisch und Blut und ohne die Erwähnung der globalen politischen
und wirtschaftlichen Zusammenhänge argumentiert wird, fehlt dort
eine menschliche Ethik, die für das friedliche Zusammenleben der
Menschen auch in der »Festung Europa« von entscheidender Bedeutung
ist. Das besprochene Buch leistet in diesem Bereich auch seinen
ethischen Beitrag. Jeder Leser kann deutlich fühlen, dass die
AutorInnen die »ärgerliche Tatsache« ihrer Gesellschaft, nämlich
die Situation der traumatisierten Flüchtlinge bzw. Migranten, als
ein ethisches und gesellschaftliches Problem wahr und ernst
nehmen.
Als ein Beispiele dieser Intention möchte ich den oben schon kurz
erwähnten Beitrag von Barbara Abdallah-Steinkopff & Jürgen Soyer
hervorheben.Die AutorInnen stellen nicht nur das Leiden der durch
Flucht aus der Heimat traumatisierten Flüchtlinge dar, sondern
beleuchten auch die »eigentlichen« global politisch
wirtschaftlichen Zusammenhänge kritisch. Dazu zwei Zitate: »Bei der
psychotherapeutischen Behandlung von Flüchtlingen in Deutschland
wäre es aus unserer Sicht naiv, die oben genannte politische
Dimension nicht zu berücksichtigen. Ein Leben als Flüchtling in
Deutschland ist ein Leben in einem politischen Spannungsfeld. Mit
dem Flüchtlingsthema lassen sich Wahlkämpfe bestreiten und mithilfe
von Boulevardmedien Stimmungen schüren. Flüchtlinge bilden die
einzige Gruppe von Menschen, denen Politik das Leben in Deutschland
ausdrücklich schwer machen möchte, um andere Flüchtlinge
abzuschrecken« (S. 138). Und: »Die Lösung kann eine gute
Kooperation der Professionen sein: Soziale Arbeit als parteiische
Vertretung nach Außen und Psychotherapie als Ort der inneren
Reflexion. Die Aufgabe der sozialen Arbeit oder vergleichbarer
Helfer ist es also mitzudenken, wie positive Veränderungen der
Lebenssituation erreicht werden könnten. In diesem Rahmen können
auch Psychotherapeuten angefragt werden, ob sie eine fachliche
Stellungnahme abgeben können« (S. 141).
Fazit
Die AutorInnen des Buches thematisieren in ihren Beiträgen die
psychischen Folgen von Traumatisierung und kritisieren, dass diese
Folgen im Asylverfahren oft nur unzulänglich bis gar nicht
berücksichtigt werden. Sie fordern, dass die zuständigen Gutachter
entsprechende Qualifikationen und Fortbildungen z. B. zu
EU-Rechtsprechung und transkultureller Psychotraumatologie
aufweisen, um im Zuge der Prüfung des Asylantrages die
Verschlimmerung oder Chronifizierung bestehender Stress- und
Krankheitssymptome betroffener Flüchtlinge zu vermeiden. Diesen
drohe im Falle einer mangelnden Sachkenntnis und Professionalität
die Ablehnung des Antrages und schließlich die Abschiebung. Die
AutorInnen weisen in ihren Beiträgen auf Defizite in diesem
Versorgungssystem hin. Sie wollen das Problembewusstsein fördern
und auf bestehende und bereits bewährte Konzepte zu deren
Bewältigung hinweisen, aber auch anregen, neue Lösungsstrategien,
Versorgungskonzepte und Therapieformen zu entwickeln, um der
steigenden Zahl traumatisierter Flüchtlinge und Folteropfer im
deutschsprachigen Raum Rechnung tragen zu können. Die erläuterten
psychosozialen und psychotherapeutischen Konzepte und
Interventionen sollen dazu beitragen, den Betroffenen die Kontrolle
und Selbstbestimmung über ihr eigenes Leben und den eigenen Körper
wieder zu ermöglichen.
Rezensent
Dr. Mehmet Sekeroglu
Zitiervorschlag
Mehmet Sekeroglu. Rezension vom 04.10.2013 zu: Robert E. Feldmann,
Günter H. Seidler: Traum(a) Migration. Psychosozial-Verlag (Gießen)
2013. 300 Seiten. ISBN 978-3-8379-2261-5. In: socialnet
Rezensionen, ISSN 2190-9245,
http://www.socialnet.de/rezensionen/14837.php, Datum des Zugriffs
31.10.2013.
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