Rezension zu Der anatomische Akt
Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft (58/2) 2013
Rezension von Joachim Harst
Hartmut Böhme: Der anatomische Akt – Zur Bildgeschichte und
Psychohistorie der frühneuzeitlichen Anatomie
In seinem Buch »Fetischismus und Kultur« von 2006 hat Harmut Böhme
das Verhältnis zwischen Mensch und Dingwelt in der Moderne
untersucht.1 Dabei hatte er unter dem Begriff »Fetischismus« all
jene Objektbeziehungen gefasst, die eine rigorose Unterscheidung
zwischen Subjekt und Gegenstand unterlaufen, in denen also dem
Gegenstand selbst z.T. menschliche, z.T. übermenschliche
Qualitäten zukommen. These des als »andere Theorie der Moderne«
untertitelten Buches war es, dass die angeblich säkularisierte und
rationalisierte moderne Gesellschaft, in der Mensch und Dingwelt
kategorisch geschiedenen erscheinen, in vielen Bereichen von
»vormodernen« Objektbeziehungen geprägt sei: »Die Fetisch-, Idol-
und Kultformen heute – in Politik, im Sport, im Film, im Konsum, in
der Mode etc. – belehren [...] darüber, dass die Entzauberung im
Namen der Rationalität zu einem schwer kontrollierbaren, deswegen
umso wirkungsvolleren Schub von Energien der Wiederverzauberung
geführt hat.«2 Dabei ging es Böhme nicht vorrangig um die
Identifikation und Denunziation »fetischistischer« Praktiken,
sondern um die Analyse von deren kultureller Bedeutung in der
Moderne; Böhme sieht in ihnen eine Vorbedingung für
»überalltägliches Erleben von Gemeinschaft« sowie eine
»unverzichtbare Ressource an ästhetischer Kreativität und
erotischer Lust.«3 Vormoderne Dingmagie soll also nicht
ausgetrieben, sondern als soziale Energie in der modernen
Gesellschaft nutzbar gemacht werden.4 In Böhmes aktuellen Studien
zur Entstehung der Anatomie – zu ihnen zählt unter anderem das
hier besprochene Buch5 – kann man ein anschauliches Beispiel für
die kulturelle und wissenschaftliche Produktivität
fetischisierender Praktiken verstehen: Auf der einen Seite ist es
Voraussetzung jedes anatomischen Wissens, den menschlichen Körper
als Gegenstand aufzufassen, der sich wie jedes andere Objekt auch
einer analytischen Zerteilung unterziehen lässt – ihn also zu
verdinglichen. Auf der anderen Seite kann gerade durch eine solche
Verdinglichung der Körper Träger erotischer und religiöser Energien
werden, die ihn gewissermaßen neu (und anders) beleben. Der
»anatomische Akt«, den Böhme thematisiert, begreift bereits
wörtlich beide genannten Seiten ein, insofern er sowohl die
Verdinglichung des Körpers auf dem Sezierbrett (Akt als Handlung)
als auch seine gleichsam künstlerische Ausstellung (die sezierte
Leiche als Akt-Sujet) benennt; letztere kann sich durch
kunsthistorische Parallelen in den Raum sakraler Malerei stellen.
So kann eine Art von Fetischismus am Ursprung der Anatomie gesehen
werden.6
Mit dieser Ausgangsposition unterscheidet sich Böhme von den
zahlreichen Neuerscheinungen der letzten Jahre zur Bild- und
Kulturgeschichte der Anatomie. Unter ihnen wäre in diesem
Zusammenhang v.a. die Monographie von Markus Buschhaus zu nennen,
die den Schwerpunkt allerdings auf das Verhältnis von Bild und
Wissen legt, indem sie einerseits nach der spezifischen Medialität
anatomischen Wissens fragt und andererseits ein besonderes
»Bildwissen« – gemeint ist ein Wissen um die Produktion und
Reproduktion von Bildern – der Anatomie herausarbeitet.7 Näher an
Böhmes Ansatz, dem es weniger um konkret anatomisches Wissen als um
die Motivation und Selbstdarstellung der Anatomie im
kulturgeschichtlichen Zusammenhang geht, liegt die Dissertation von
Folker Fichtel, die allerdings die »anatomische Illustration«
vergleichsweise einsinnig als Versuch versteht, »sich der
chthonischen Dimension des Körpers auf neue Weise zu bemächtigen«8;
demgegenüber streicht Böhme deutlicher die Ambivalenzen einer
derartigen Rationalisierungsstrategie heraus.
Das skizzierte Ineinandergreifen von Religion, Kunst und
Wissenschaft bei der Entstehung der Anatomie soll, wie es im Titel
heißt, im vorliegenden Buch im Sinne einer »Psychohistorie« und
»Bildgeschichte« dargestellt werden. Diese zwei (zunächst einander
fern scheinenden) Begriffsfelder können dazu dienen, die konkrete
Argumentation Böhmes zusammenzufassen. Als »Psychohistorie« – der
Begriff wird leider nicht weiter erläutert (27) – ist wohl die
Sublimationsbewegung zu verstehen, die es überhaupt erst möglich
macht, dass das »ekelhafte Leibesinnere« (31) zum Gegenstand
wissenschaftlichen und auch ästhetischen Interesses wurde. Hier
greift Böhme auf psychoanalytische Konzepte wie das Phantasma vom
»zerstückelten Körper« (23f.; 46) zurück, dem er unter Verweis auf
kultische Riten (Sparagmos, Abendmahl) zugleich eine religiöse
Dimension verleiht – wobei offensichtlich vorausgesetzt wird, dass
das Phantasma selbst kaum einer historischen Veränderung
unterworfen ist. In diesem Sinne wäre die frühneuzeitliche Anatomie
von Anfang an in einem wissenschaftlichen Feld anzusiedeln, das von
unbewussten Strukturen vorgeprägt ist. Diese Überlegungen verbindet
Böhme zudem mit Menninghaus’ kunst- und kulturgeschichtlichen
Studien zum Ekel9, so dass die perverse Faszination des Ekelhaften
als Auslöser für die sublimierende Arbeit der Anatomie erscheint
(vgl. 53f.). Als Beleg für eine solche Sublimation dient Böhme eine
Venusplastik, die Clement Susini für die florentinische
Lehrsammlung herstellte (34-44): Die lebensecht gebildete Figur
stellt eine Leiche dar, deren Körper der interessierte Betrachter
stufenweise öffnen kann, um schließlich in der Gebärmutter einen
ebenfalls lebensecht gestalteten Fötus zu erblicken. Doch dient
hier die Kunst nicht nur der Produktion medizinischen
Anschauungsmaterials – der Umstand, dass es sich bei der Plastik um
eine Venus handelt, stellt sie zugleich in den Kontext klassischer
Schönheit und antiker Bildhauerei. Auch an weiteren Beispielen kann
Böhme zeigen, wie die junge Anatomie auf antike Bildtraditionen
zurückgreift, um sich im Bildungskanon zu legitimieren.
Auf diese Weise ist die »Psychohistorie« in Böhmes Darstellung
direkt mit einer »Bildgeschichte« verbunden. Doch ist dieses
Verhältnis nicht einseitig zu verstehen; Böhme zeigt vielmehr auch,
wie der anatomische Blick die sakrale Malerei in ihrer
Bildgestaltung beeinflusst, bevor sich die Anatomie zur
Selbstdarstellung und Legitimation religiöser Bildformeln bedient.
Als Beispiel für ersteres zieht Böhme Hans Holbeins d.J. Der tote
Christus im Grab (1521/22) heran; ein Gemälde, das einen
»realistische[n], ja, experimentelle[n] Blick auf die Leiche« und
damit den »unübersehbaren Zusammenhang von Christologie und
Anatomie« (74) bezeuge.10 Ähnliches gelte für Andrea Mantegnas
Beweinung des toten Christus (um 1500), »dessen verkürzende in
scorcio-Perspektive zum Vorbild wurde für die außerordentliche
Positionierung der Leiche bei der Anatomie-Vorlesung des Dr. Joan
Deyman (1656) von Rembrandt« (74). Bei Rembrandts Bild würde also
der »experimentelle Blick« auf die heilige Leiche von der
Sakralmalerei zur Selbstdarstellung der Anatomie übertragen, die
sich damit ihrerseits in das Feld religiösen Heilsversprechens
stellt: Die zu sezierende Leiche wird damit zum Opfer für die
Menschheit, die sich an ihr bildende Wissenschaft aber »zu einem
fast sakralen Dienst am Heil« erhoben (80).
Hier zeigt sich also Böhmes These aus Fetischismus und Kultur –
dass die »Rationalisierung« der Moderne nur die täuschende
Oberfläche einer sehr viel ambivalenteren Gemengelage ist – an
einem konkreten Beispiel bestätigt: Die Anatomie als »harte«
Wissenschaft kann überhaupt erst durch die Indienstnahme mythischer
und sakraler Bildtraditionen entstehen; ihr Bild vom Menschen ist
demnach von diesen Traditionen ebenso gezeichnet wie von einem
medizinischen Empirismus; und sie wäre weniger als Aufklärung eines
abergläubischen Dunkels denn als dessen indirekter Effekt zu
verstehen. Als interessanten Anhang zu dieser »Psychohistorie«
könnte man vielleicht noch die Rückwirkungen nennen, die der
anatomische Blick auf dem Feld der Religiosität zeitigte: Böhme
selbst deutet eine bildliche Abhängigkeit zwischen anatomischer
Leiche und Märtyrer an, die sich umgekehrt im barocken
Märtyrerspiel zeigt – hier ist die Leiche im vollen Sinn
Demonstrationsobjekt des Heils, nachdem der Märtyrer in der Folter
seinen Glauben einem wahrhaft durchdringend-anatomischen Blick
unter Beweis gestellt hat. Hinsichtlich Theatralität und
Blickregime kommen sich Anatomie und Märtyrerspiel also nahe. Es
wäre mithin nicht nur die entstehende Wissenschaft, die Anleihen
bei der religiösen Tradition macht, sondern umgekehrt wird auch die
zeitgenössische Bearbeitung religiöser Problematiken von der neuen
Wissenschaft beeinflusst.11
Joachim Harst
1 Hartmut Böhme: Fetischismus und Kultur – Eine andere Theorie der
Moderne, Reinbek bei Hamburg 2006.
2 Ebd., 23.
3 Ebd., 30.
4 In diesem Sinn wird Fetischismus im Sammelband Der Code der
Leidenschaften – Fetischismus in den Künsten, hg. von Hartmut
Böhme und Johannes Endres, München 2010 diskutiert; vgl. ferner
Doerte Bischoff: Poetischer Fetischismus – Der Kult der Dinge im
19. Jahrhundert, München 2013. Ich selbst habe ebenfalls einen
Text zum Thema Fetischismus als literarische Strategie (Heidelberg
2007) vorgelegt, der sich von Böhmes und Bischoffs
kulturwissenschaftlichem Ansatz dadurch unterscheidet, dass er
»streng dekonstruktivistisch« (Bischoff) vorgeht.
5 Weitere Aufsätze, die um das Thema Anatomie und Fetischismus
kreisen, sind: Hartmut Böhme: Erotische Anatomie –
Körperfragmentierung als ästhetisches Verfahren in Renaissance und
Barock, in: Körperteile – Eine kulturelle Anatomie, hg. von Claudia
Benthien, Reinbek bei Hamburg 2001, 228-254; ders.: Der Körper als
Bühne – Zur Protogeschichte der Anatomie, in: Spuren der
Avantgarde: Theatrum anatomicum – Frühe Neuzeit und Moderne im
Kulturvergleich, hg. von Helmar Schramm, Berlin [u. a.] 2011,
28-53.
6 Einen weiteren Berührungspunkt zwischen Fetischismus und Anatomie
sieht Böhme im christlichen Reliquienkult; vgl. dazu Böhme: Der
Körper als Bühne [Anm. 5], 33-37 oder, weit- gehend wortgleich,
Fetischismus und Kultur [Anm. 1], 170-178.
7 Vgl. Markus Buschhaus: Über den Körper im Bilde sein – Eine
Medienarchäologie anatomischen Wissens, Bielefeld 2005, 30 f.
8 Folker Fichtel: Die anatomische Illustration in der frühen
Neuzeit, Frankfurt a.M. 2006.
9 Vgl. Winfried Menninghaus: Ekel – Theorie und Geschichte einer
starken Empfindung, Frankfurt a. M. 1999.
10 Vgl. zu Holbeins Gemälde ferner Böhme: Der Körper als Bühne
[Anm. 5], 29-33. Dort auch eine allgemeinere Diskussion des
»Verismus« in der Renaissance-Malerei.