Rezension zu Die Erweiterung der psychoanalytischen Behandlungstechnik
Feedback (Zeitschrift der ÖAGG - Österr. Arbeitskreis für Gruppentherapie und Gruppendynamik) 3&4/2013
Rezension von Günter Dietrich
Die Erweiterung der psychoanalytischen Behandlungstechnik
Vamik Volkan ist in Österreich in erster Linie durch seine
gruppenanalytischen Arbeiten präsent, besonders durch sein Konzept
des ›chosen trauma‹, das unser Verständnis nationaler Konflikte
entscheidend bereichert. Im vorliegenden Werk wird der zweite
Schwerpunkt der Arbeit Volkans deutlich. In »Die Erweiterung der
psychoanalytischen Behandlungstechnik bei neurotischen,
traumatisierten, narzisstischen und
Borderline-Persönlichkeitsorganisationen« beweist der Autor seine
jahrzehntelange Erfahrung und sein umfassendes Wissens in der
psychoanalytischen Einzelpsychotherapie.
Der Schwerpunkt des Bandes betrifft die analytische Psychotherapie
mit Personen mit Persönlichkeitsstörungen, ein Bereich zu dem
Volkan schon wichtige Beiträge geleistet hat. Der besondere Reiz
dieses Buches liegt darin, dass der Autor bemüht ist, einen
möglichst breiten LeserInnenkreis anzusprechen. Da kaum
psychoanalytische Vorkenntnisse vorausgesetzt werden, ist das Werk
für StudentInnen und AusbildungskandidatInnen gut zugänglich.
Zugleich ist es durch seine Differenziertheit, die neuen
theoretischen Konzepte und die eingearbeitete Fülle an
Fallmaterial zum Teil langjähriger psychoanalytischer Behandlungen
und damit verbundener Entwicklungsprozesse auch für erfahrene
PsychotherapeutInnen spannend zu lesen.
Im ersten Teil bringt Volkan einen Abriss der psychoanalytischen
Behandlungstechnik. Er beschreibt das therapeutische
Behandlungssetting, den Beginn der Psychotherapie und die wohl für
alle EinsteigerInnen schwierige Aufgabe von der deskriptiven Sicht
auf die Symptome zu einer psychodynamischen Blickweise auf den
behandelten Menschen zu gelangen. Gut nachvollziehbar sind die
Erklärungen zum besonderen Setting mit der Couch und zum zentralen
Begriff der Deutung in der Psychoanalyse.
Der zweite Teil führt in das Feld der Traumatherapie, das Volkan
auch im Hinblick auf die generationsübergreifende Weitergabe von
Traumata darstellt. Mit zahlreichen Fallgeschichten illustriert,
greift der Autor zu einer exemplarischen, aber weiten Auswahl von
Konzepten, die von Freud, Ferenczi und Klein bis in die Gegenwart
reichen. Dabei findet die enge Verknüpfung von ethnischen,
nationalen und religiösen Geschichten und der Entwicklung der
inneren Welt im Selbst Beachtung. In einer für ein
psychoanalytisches Werk ungewöhnlichen Offenheit findet auch die
Selbstbeobachtung Volkans Raum. Volkan berichtet von eigenen
traumatischen Lebenserinnerungen, etwa der Bombardierung Nikosias
in der Zeit seiner Kindheit auf Zypern im zweiten Weltkrieg, die er
in seinem Erleben schildert und einem psychoanalytischen
Verständnis zugänglich macht.
Der dritte Teil des Werks ist dem Thema der narzisstischen
Persönlichkeit gewidmet. Volkan eröffnet diesen Abschnitt mit dem
Mechanismus der Spaltung, den er anschaulich mit einer
Fallgeschichte illustriert. In der Beschreibung der Psychotherapie
der narzisstischen Persönlichkeitsorganisation führt der Autor
einen neuen Begriff zu einer Sonderform der Übertragungsneurose
ein. Er spricht von der »narzisstisch-pischmischen Übertragung«.
Das türkische Wort »pismis« (ausgesprochen »pischmisch«)
beschreibt etwas, was lange genug gekocht hat und nun verdaubar
ist. In diesem Sinne ist es ein Therapieziel, den Patienten in der
Therapie zu halten, um ein »Durcharbeiten« zu ermöglichen.
Im vierten Teil »Wen können wir sonst noch auf der Couch
behandeln« bringt der Autor einen Überblick zu Theorie und Praxis
der analytischen Borderline-Psychotherapie. Mit einer detaillierten
Fallgeschichte aus der »Analyse einer Südstaatenschönheit«
erläutert Volkan seine spezifische Sicht des Begriffes der
Borderline-Persönlichkeitsorganisation in einem
psycho-strukturellen Verständnis der internaliserten Bilder des
Patienten vom Selbst. Besonders lesenswert ist dieser Abschnitt
durch die vielen praxisbezogenen Überlegungen zur
Behandlungstechnik: Vom Finden einer gemeinsamen Realitätsbasis
mit dem Patienten, über die Frage der Grenzsetzung in der
therapeutischen Beziehung, über die Methode des »selektiven
Zuhörens« bis hin zur Beendigung der Therapie. Am Ende des Buches
steht eine Fallvignette, die eine »entscheidende Zusammenfügung«
beschreibt. Volkan beschreibt damit einen Wendepunkt einer
stagnierenden Therapie bei einem Mann mit einer schweren
Persönlichkeitsstörung, die schließlich zum Gesundwerden führt.
Abgerundet wird das Werk durch einen Glossar für neuere, weniger
geläufige psychoanalytische Fachbegriffe und solche, die der Autor
selbst einführt.
Insgesamt gelingt es Volkan mit diesem Werk sehr gut seiner im
Vorwort selbst gewählten Zielsetzung »sowohl Lernenden als auch
Lehrenden auf dem Gebiet der psychoanalytischen Behandlung als
Handwerkszeug [zu] dienen« zu entsprechen.
In seiner Mischung aus umfassender Theoriekenntnis, langjähriger
Praxis und autobiographischer Offenheit ist es ein Alterswerk, in
dem der Autor aus der Literatur selektiv und anwendungsorientiert
zusammenfasst und mit eigenen Konzepten am Stand der Zeit ergänzt.
Für alle an der psychoanalytischen Behandlung von PatientInnen mit
Persönlichkeitsstörungen Interessierten kann ein klare
Leseempfehlung ausgesprochen werden.
Günter Dietrich