Rezension zu Nähe Verbot Ordnung
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Rezension von Barbara Bräutigam
Irene Berkel (Hrsg.): Nähe, Verbot, Ordnung. »Genealogische
Nachrichten«
Thema
Es handelt sich hier um eine Beitragssammlung zu einem
Themenkomplex von genealogischen Fragen. Die Autoren befassen sich
mit den Kontexten von Genealogie, mit intergenerationellen
Verstrickungen und Konflikten und mit modernen Praktiken im Umgang
mit genealogischen Fragen und Themen. Die Beiträge sind aus
religionswissenschaftlicher, philosophischer, anthropologischer,
medizinischer, psychoanalytischer und ethnologischer Perspektive
verfasst.
Autoren und Entstehungshintergrund
Die Beiträge basieren weitgehend auf Vorträgen, die 2010 im Rahmen
der internationalen und interdisziplinären Konferenz »Nähe Verbot
Ordnung« im Siegfried Freud Museum in der Berggasse 19 in Wien
abgehalten wurde. Die Herausgeberin war wissenschaftliche
Mitarbeiterin am Religionswissenschaftlichen Institut der FU Berlin
und ist als Lektorin für die Universität Innsbruck und die
Universität Wien tätig.
Aufbau
Das Buch besteht abgesehen von der Einleitung der Herausgeberin aus
neun Beiträgen. Im ersten Beitrag wird der Ödipuskomplex unter der
Perspektive der Angst vor der Freiheit und der Sehnsucht nach Liebe
betrachtet, im zweiten und dritten Aufsatz werden neue und
gewandelte Aspekte von Väterlichkeit und der Rolle des Vaters
beschrieben. Der vierte und fünfte Beitrag beleuchten die Rolle der
Reproduktionsmedizin unter genealogischen Gesichtspunkten, während
der sechste Beitrag auf Freuds Beschäftigung mit religiös besetzten
Themen eingeht. Die nächsten beiden Aufsätze beschäftigen sich im
engeren Sinne mit kulturellen und künstlerischen Produkten, so wird
zum einen anhand von John Littells Roman »Die Wohlgesinnten« der
kulturelle Umgang mit destruktiven Fehlentwicklungen thematisiert
und zum anderen die familiären Verstrickungen und missbrauchsnahen
Themen in der Künstlerfamilie von Alberto Giacometti analysiert.
Der letzte Beitrag fokussiert aus ethnologischer Sicht Extrakte aus
Konversationen mit syrischen Gesprächspartnern über deren
unbewussten Sehnsüchte und Wünsche.
Inhalt
Bereits in der Einleitung wird ein Kerngedanke, der auch in vielen
Beiträgen des Buches wieder auftaucht, thematisiert: Aktuelle
gesellschaftliche Entwicklungen und Diskurse lassen sich ohne ein
tieferes Verständnis von dem Bestehen und der Wandlung bestimmter
Phänomene, wie z. B. dem Inzest- oder Tötungstabu nur schwer
greifen. Verwiesen wird auch schon hier auf den Ödipusmythos als
den bekanntesten »Fall einer soziofamilialen Konfusion durch einen
Sohn-Mutter-Inzest, in dessen Folge die Genealogie zerbricht und
letztlich erlischt.« (S. 11). Darin enthalten ist, dass niemand
seiner genealogischen Herkunft entkommen kann, dass er oder sie an
eine patriarchalische genealogische Ordnung gebunden ist und dass
transgenerationale Weitergaben durch Schuld und Verstrickung
gekennzeichnet sind. Doch das Verhältnis zwischen den Generationen
und den Geschlechtern hat sich u. a. mit der zunehmenden
Emanzipation der Frau und den Neuerungen im Bereich der
Reproduktionsmedizin deutlich verändert.
Im Beitrag von Willi Brüggen, der sich mit einem neuen Verständnis
des ödipalen Konfliktes auseinandersetzt und ihn in den Kontext
zwischen Verführung und Freiheit und zwischen Lust und Moral
stellt, wird deutlich, dass wir im Kontext westlicher Zivilisation
zunehmend damit konfrontiert werden, autoritär und über-ich-lastige
Bindungsmodi zugunsten lustbetonterer und offener Beziehungsmodi
aufzugeben. Ohne das Medium der Trauer wird dies aber Brüggen
zufolge nicht möglich sein.
Dieter Thomä macht darauf aufmerksam, dass mit der veränderten
Rolle des Vaters und einem neuen Verständnis von Väterlichkeit
nicht nur Befreiung sondern auch schwer zu füllende Leerstellen
auftreten, in der die Generationenspannung z. T. geleugnet
wird.
Aus den Beiträgen Johannes C. Huber und Michi Knecht geht hervor,
dass Reproduktionstechnologien zu einer Vervielfältigung von
Familienformen und genealogischen Verbindungen beitragen und dass
somit genealogische Prozesse deutlich erweitert verstanden werden
müssen.
Im Beitrag von Laurie Wilson wird Alberto Giacomettis Umgang mit
seinem familiären Vermächtnis, das durch die Erfahrungen mit einem
liebevoll aber übergriffigen Vaters und einer sehr strengen und
dominanten Mutter geprägt ist, in der Verarbeitung exemplarisch an
einigen künstlerischen Produkten beschrieben.
Der Beitrag von John Bornemann, der sich u. a. mit den
Nähebeziehungen in der Feldforschung zwischen den Ethnografen und
Erforschten beschäftigt und sich mit den Aspekten von den eventuell
daraus neu entstehenden engen Bindungen auseinandersetzt, schließt
den bunten Kreis der hier versammelten Sichtweisen auf
genealogische Themen ab.
Diskussion
Das Buch beleuchtet viele relevante Stränge moderner
gesellschaftlicher Entwicklungen und versucht sie unter dem
Blickwinkel genealogischer Fragestellungen zu bündeln. Dabei ist
ein Band mit ausgesprochen vielfältigen und heterogenen Beiträgen
entstanden, die von gesamtgesellschaftlichen Betrachtungen über die
konkrete Beschreibung genealogischer Praktiken bis hin zu einzelnen
Fallvignetten und Beispielen aus unterschiedlichen Themengebieten
reichen. Der Charme dieses Buches besteht genau in der
Heterogenität der Perspektiven, wobei hier auch die Schwäche des
Bandes liegt; der verbindende genealogische Faden zwischen den
Beiträgen ist z. T. sehr dünn, sehr subtil und manchmal nicht recht
erkennbar.
Fazit
Ein sehr komplexes und transdisziplinär hoch interessantes Buch.
Vor allem für wissenschaftlich interessierte Menschen aus dem
Bereich der Familienforschung sehr zu empfehlen!
Rezensentin
Prof. Dr. phil. habil. Barbara Bräutigam
Zitiervorschlag
Barbara Bräutigam. Rezension vom 17.10.2013 zu: Irene Berkel
(Hrsg.): Nähe, Verbot, Ordnung. "Genealogische Nachrichten".
Psychosozial-Verlag (Gießen) 2012. 232 Seiten. ISBN
978-3-8379-2129-8. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245,
http://www.socialnet.de/rezensionen/14582.php, Datum des Zugriffs
06.11.2013.
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