Rezension zu Normalungetüme (PDF-E-Book)

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Rezension von Jos Schnurer

Markus Brunner, Jan Lohl(Hrsg.): Normalungetüme. School Shootings aus psychoanalytisch-sozialpsychologischer Perspektive

Pathologie und Normalität sind keine Gegensätze
Die Fragen nach den Gründen und Ursachen von Amoktaten in den unterschiedlichen individuellen und gesellschaftlichen Zusammenhängen werden spätestens seit den spektakulären und verheerenden Amokläufen in den USA und in Europa gestellt. Die wissenschaftlichen Analysen und Erklärungsversuche fokussieren sich dabei auf psychologische (Ines Geipel, Der Amok-Komplex oder die Schule des Tötens, 2012, www.socialnet.de/rezensionen/13427.php) und gesellschaftspolitische Aspekte (Robert Brumme, School Shootings. Soziologische Analysen, 2010, www.socialnet.de/rezensionen/10717.php). Es ist nicht selten ein eher hilfloses Suchen nach den Gründen und Hintergründen von Amokläufen, die in der öffentlichen Diskussion auch Bezeichnungen erhalten, wie Massaker, Massenmord, Serienmord. Deutlich wird dabei, dass die jeweilige Gesellschaft, in deren Mitte sich die Taten vollziehen, wie gelähmt darauf reagiert und eher nicht bereit sind zu erkennen, dass Amokläufe sich im Muster von »Gut« und »Böse« vollziehen und sich als »das Gewöhnliche, das Alltägliche und Normale und nicht (als) das Besondere , das Auffällige, das Pathologische« zeigen.

Entstehungshintergrund und Herausgeber
Bei der 37. Jahrestagung des Arbeitskreises »Politische Psychologie« (DVPW) und der Arbeitsgruppe »Psychoanalyse, Gesellschaft, Kultur« des Frankfurter Sigmund-Freud-Instituts setzten sich die Teilnehmerinnen und Teilnehmer vom 5. – 6. Mai 2012 damit auseinander, welche Gründe für Amokläufe vorliegen und wie die Wege von »Normal«- und Gewaltfantasien hin zum Amoklauf erkennbar werden (Peter Langman, Amok im Kopf, 2009, www.socialnet.de/rezensionen/7996.php). Der Titel der Tagung »Normalungetüme« will dabei deutlich machen, dass es notwendig ist, danach zu fragen, welche »gesamtgesellschaftliche Anforderungen nach Erfolg und Selbstverwirklichung, vorherrschende(n) Männlichkeitskonzepte(n) und die Psychoanalytiken in der Institution Schule als Rahmenbedingungen der Sozialisation junger Täter« betrachtet werden müssen, um eine Tür wenigstens einen Spalt breit zu öffnen, die von der Gesellschaft meist sorgsam verschlossen und mit einem Öffnungsverbot belegt wird.

Der Koordinator der Arbeitsgemeinschaft Politische Psychologie und Lehrbeauftragter an der Sigmund-Freud-Universität in Wien, Markus Brunner, und der Frankfurter Sozialwissenschaftler und Coach Jan Lohl geben den Tagungsband heraus.

Aufbau und Inhalt
Die einzelnen Beiträge fokussieren ihre Aussagen und Reflexionen vornehmlich nicht auf Theoriebildungen und Konzeptargumentationen; sie wollen vielmehr einen »kontextualisierten Blick« auf ausgewählte Amoktaten werfen, indem sie – vermittelt über Selbstzeugnisse und vorfindbare Artikulationen der Täter – deren Motivationslagen, Selbst- und Weltbilder zu ergründen versuchen.

Der Sozialwissenschaftler und Publizist Götz Eisenberg, der als Gefängnispsychologe im Erwachsenenstrafvollzug tätig ist, beginnt mit dem Beitrag »Amok in Erfurt«, indem er über das Massaker vom 26. 4. 2002 im Gutenberg-Gymnasium reflektiert und insbesondere nach den Folgen und Auswirkungen der Tat rund 10 Jahre danach fragt. Wie ist die städtische und sonstige Öffentlichkeit mit der Tat umgegangen? Welche Fehler und Versäumnisse wurden gemacht? Wie hätte es anders, besser gehen können? Dabei wird deutlich, dass Schuldzuweisungen und oberflächliche Ursachensuche keine adäquate Antwort auf School Shootings sein kann; vielmehr käme es darauf an, soziale Prävention gegen eskalierende Gewalt einzusetzen und »ein von Empathie und Vertrauen getragenes Klima der Aufmerksamkeit und wechselseitigen Sorge« herzustellen.

Nadja Meisterhans von der Justus-Liebig-Universität in Gießen, Sprecherin des Arbeitskreises »Politik und Geschlecht« der Deutschen Vereinigung für Politikwissenschaft, stellt mit ihrem Beitrag »Der Amoklauf als entfremdeter und androzentrischer Anerkennungswunsch« Überlegungen zum Verhältnis von neoliberaler Ideologie und verstümmelter Subjektivität an. Sie verdeutlicht, »dass der Amoklauf als Ausdruck einer sozial vermittelten, pathogenen Reaktionsweise gefasst werden kann«. Sie ordnet das Phänomen »einer entfremdeten insbesondere androzentrisch verzerrten Anerkennungsbegierde« zu. Es sind also die neoliberalen, anonymisierten und entgrenzten Vergesellschaftungsprozesse, die den Amoklauf als Ausdruck und Ergebnis von nicht aufgenommenen und unbearbeiteten individuellen und gesellschaftlichen Konflikten erkennen lässt.

Die Psychologin und Kulturwissenschaftlerin von der International Psychoanalytic University in Berlin (IPU), Christine Kirchhoff, unternimmt mit ihrem Beitrag »Todestrieb und Amoklauf« einen Übersetzungsversuch. Das »Normalungetüm«, als Monstrum und Täter, wird in der Literatur und Geisteswissenschaft, etwa bei Adorno, als »triebhaft« dargestellt. Die Autorin leitet den (Freudschen) Todestrieb »als Normalungetüm unter den Trieben« her, und sie schlägt den Bogen vom Amoklauf zum Todestrieb: »Damit steht der Todestrieb mit seiner Unheimlichkeit dafür ein, auch konzeptionell das Unplausible wie individuell nicht zu Bewältigende zu fassen zu versuchen«.

Achim Würker, der an einem Darmstädter Gymnasium unterrichtet und Mitglied des Frankfurter Arbeitskreises für Tiefenhermeneutik ist, zeigt mit seinem Vortrag »Scham und Gewalt in der Schule« an mehreren konkreten Fallbeispielen aus unterrichtlichen Zusammenhängen Szenen auf, die sich am Konzept »Szenischen Verstehens« (Alfred Lorenzer) orientieren. Er identifiziert denkbares und konkretes School Shooting als Ergebnis von Schamreaktionen und macht darauf aufmerksam, dass es in schulischen Bildungs- und Lernprozessen darauf ankommt, den Blick hin zu den szenischen Zusammenhängen zu lenken, »in die diese (School Shootings, JS) eingebunden sind«.

Sebastian Winter von der Universität Hannover, Mitglied im dortigen Koordinierungskreis der AG Politische Psychologie, formuliert mit seinem Beitrag »School Shootings als männliche ›Lösung‹ der narzisstischen Spannung zwischen Selbstverwirklichung und Anpassung im Postfordismus« die These, dass School Shootings als die Bewältigung gesellschaftlich induzierter psychosozialer Krisen gedeutet werden könne, die einem »kulturellen« Skript folge und dabei auf die psychischen Strukturen von Normalmännlichkeit aufbaue. Am Fallbeispiel des Amoktäters Sebastian Bosse aus Emsdetten zeigt der Autor die Entstehungs-, Phantasieverläufe und Ausführungen der Tat durch mediale Vor-Bilder, wie der »RebVodlution« auf, das sich für den Täter als Sinnstiftungs-, Ausdrucks- und Tatmuster entwickelt. Die sich daraus entwickelnden paranoiden Formen mischen sich zum Gift-Gebräu von angereiztem Narzissmus und Versagenserfahrungen: »School Shooter sind konformistische Rebellen«.

Der Sozialpsychologe Rolf Pohl vom Institut für Soziologie der Leibnitz Universität Hannover analysiert mit seinem Beitrag »Paranoide Abwehr-Kampf-Haltung und männliche Adoleszenz«, indem er die Entwicklungen, Einstellungen und Taten von School Shootern und Amoktätern (Sebastian Bosse, Tim Kretschmer, Anders Behring Breivik) vergleicht. Er zieht dabei sowohl männliche Abhängigkeits-Autonomie-Konflikte, identitätsverhindernde und fremdenfeindliche Einstellungen und Verlierererfahrungen, als auch Weiblichkeitsabwehr und paranoide Abwehr-Kampfmuster heran, um Entwicklungen zu verdeutlichen, die sich in Hass- und Gewaltpotentiale aufbauen.

Der Soziologe und an einer Frankfurter Integrierten Gesamtschule tätige Sozialarbeiter Benjamin Faust (vgl. dazu auch: Benjamin Faust, School-Shooting, 2010, www.socialnet.de/rezensionen/9353.php) thematisiert den »Amoklauf von Winnenden als mediales Ereignis«. Obwohl Amokläufe an Schulen, im Vergleich zu anderen Gewalttaten, als eine extrem seltene Form sozialen Handelns angesehen werden müssen, erhält die mediale (Sensations-)Berichterstattung ein Gewicht, das für die Verhinderung, vor allem aber für die Prävention von Amoktaten in Schulen wenig hilfreich ist: »Wem … ernsthaft an einer Verhinderung von School Shootings gelegen ist, sollte sich des schädlichen Einflusses seiner Berichterstattung bewusst sein und fortan sachlich und mit viel Geduld diese Taten aufzuarbeiten suchen«.

Fazit
Die Autorinnen und Autoren der Jahrestagung (2012) des Arbeitskreises »Politische Psychologie« und der Arbeitsgruppe »Psychoanalyse, Gesellschaft, Kultur« am Frankfurter Sigmund-Freud-Institut präsentieren mit ihren Beiträgen im wesentlichen keine neuen Erkenntnisse auf dem Forschungsfeld »School Shooting«. Indem sie jedoch die überwiegend auf Erfahrungs- und Praxisdaten fokussierten »Normal«- und pathologischen Situationen diskutieren, zeigen sie auf, dass es im allgemeinen »das Gewöhnliche, das Alltägliche und Normale und nicht das Besondere, das Auffällige, das Pathologische (ist, aus dem die) amokartige Gewalt entspringt«.

Rezensent
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim

Zitiervorschlag
Jos Schnurer. Rezension vom 30.09.2013 zu: Markus Brunner, Jan Lohl (Hrsg.): Normalungetüme. School Shootings [...]. Psychosozial-Verlag (Gießen) 2013. 200 Seiten. ISBN 978-3-8379-2228-8. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, http://www.socialnet.de/rezensionen/15543.php, Datum des Zugriffs 11.10.2013.





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