Rezension zu Jugend heute (PDF-E-Book)
www.socialnet.de
Rezension von Prof. Dr. Dirk Plickat
Sabine Trautmann-Voigt, Bernd Voigt: Jugend heute. Zwischen
Leistungsdruck und virtueller Freiheit
Herausgeberin / Herausgeber und Thema
Die Herausgeber, Sabine Trautmann-Voigt ist als Gymnasiallehrerin
und Therapeutin tätig und Bernd Voigt arbeitet als Mediziner und
Therapeut , greifen mit einem Kreis renommierter medizinischer und
therapeutischer Kolleginnen und Kollegen die Problematik der
hilflosen Helfer auf. In Standortbestimmungen wird mit klinischen
Blicken, exemplarischen Konkretisierungen und Interviews
vergegenwärtigt, welche Belastungen Jugendliche heute erkranken
lassen. Professionelle Hilfen bei Ängsten, Depressionen,
Überlastungen, Verunsicherungen, Orientierungsproblemen und
Leistungsdruck sind längst fester Bestandteil jugendlichen Alltags
bürgerlicher Kreise. Dort, wo beispielsweise
Schulleistungsvergleichsstudien mit Bezugnahme auf die soziale
Herkunft öfter auf elterliche Unterstützungsleistungen als
Wirkfaktor für Schulerfolg verweisen, setzen die
Standortbestimmungen an und bieten Einblicke in Lebenswelten, deren
Funktionstüchtigkeit von therapeutischen Angeboten im Sinne
zusätzlicher Ressourcen abhängt. Therapeutische Hilfen entwickeln
sich voranschreitend von Ausnahmeangeboten für wenige zu
unverzichtbaren Regelangeboten im Prozess des Aufwachsens, was
weitreichende Fragen aufwirft.
Aufbau und Inhalt
Mit klarer Struktur und einer für therapeutische Laien leicht
verständlich gehaltenen Sprache bietet die Darstellung eine Art von
Reisebericht durch die Landschaft zentraler Problemlagen heutigen
Aufwachsens und zeigt zugleich anhand von Beispielen auf, welche
therapeutischen Instrumentarien zum rekonstruktiven Verstehen, für
ein Ermutigen, Stabilisieren und Befähigung Anwendung finden.
Im Editorial bieten die Herausgeber Einführungs- und
Verständnishilfen zu den Feldern der Betrachtungen unter
therapeutischen Blickwinkeln und konfrontieren mit grundlegenden
Fragen zu Rahmensetzungen, Sinn und Funktion therapeutischer Hilfen
für Jugendliche heute. In elf pointierten Einzelaufrissen, die
jeweils eigenständige Darstellungen sind und sich daher auch
einzeln lesen lassen, werden Zeitsignaturen von Jugend heute
phänomenologisch entwickelt.
So umreißt Heiner Keupp die »Un(-)möglichkeit erwachsen zu werden«.
Jürgen Junglas thematisiert zum Thema Partizipation Jugendlicher
den Wechsel vom Objekt zum Zukunft gestaltenden Subjekt. Klaus
Fröhlich-Gildhoff sieht Resilienzstärkung als zentrales
Förderpotential für Selbstkonzepte jugendlicher Lebensbewältigung,
Oliver Birke-Hentsch lenkt den Blick auf pathologische Formen von
Netzkonsum und Abhängigkeiten. Diese kritischen
Auseinandersetzungen mit den neuen Medien werden durch die Beiträge
von Uwe Labatzki »Events Occur in Real Time« und Michael Borg zur
Selbstmanagementtherapie und Web 2.0 vertieft. Sabine
Trautmann-Voigt lenkt den Blick auf jugendliche Mütter. Das
Verstehen und Erreichen traumatisierter Jugendlicher wird von Silke
Birgitta Gahleitner verhandelt. Marion Schwarz zieht Bilanz
bisheriger Professionalisierungsreformen in der Ausbildung von
Therapeutinnen und Therapeuten. Und schließlich gelingt es Sabine
Trautmann-Voigt mit Interviewauszügen junger Menschen, authentisch
die Sichtweisen Heranwachsender auf Bedrohungen und zu oft nicht zu
bewältigende Herausforderungen zu veranschaulichen.
Diskussion
Die Beiträge eröffnen dem Leser Einblicke in aktuelle Grundlegungen
jugendtherapeutischer Konzepte zu Problemen wie Entgrenzungen und
Entsicherungen, Segmentierungen, Diffusitäten im Erleben und
Teilhaben an realen und virtuellen Welten, Stressoren jugendlicher
Alltags- und Lebensgestaltung sowie Kernfragen von Identität.
Ausgewiesen werden Potentiale und Grenzen juveniler
Bewältigungsstrategien, Such- und Orientierungsprozesse sowie
kritisch-konstruktive (Be-)Handlungsansätze . Aufgezeigt wird aber
auch, dass eine Ausweitung und Ausdifferenzierung therapeutischer
Hilfen nicht als Zukunftsperspektive genügen kann. Angesichts von
Reichweite und Intensität angerissener Problemlagen therapeutischen
Handlungsbedarfs ist es erfreulich, dass auch
Professionalisierungsansprüche und Anforderungen der
Qualitätssicherung; hier besonders der Stellenwert hinreichend
berücksichtigter sowie intensiver, kritisch reflektierter
Felderfahrungen im Rahmen standardisierter Hochschulausbildungen
und Praxisphasen eingefordert und bestätigt wird. Als besonders
hilfreich erscheint schließlich vor dem Hintergrund der
vielschichtigen Entfaltung von Herausforderungen an therapeutischen
Ansatzpunkten die Einbindung von Interviews mit Jugendlichen. Mit
diesen Äußerungen gewinnen die Aussagen der Einzelbeiträge an
Schärfe und nachvollziehbarer Relevanz, vor allem wohl auch für den
Leserkreis, derjenigen, die mit Therapeutinnen und Therapeuten
kooperieren, ohne selber über therapeutische Ausbildungen zu
verfügen.
Das Kompendium der Beiträge lenkt Blicke auf bürgerliche Kreise und
damit auf Jugendliche aus Bevölkerungsgruppen, die in Fachdebatten
öfter im Sinne von Gewinnern in Modernisierungsprozessen genannt
werden. Entsicherungen, Entgrenzungen, Ängste und
Herausforderungen, die soweit überfordern , dass eben auch
diejenigen, von denen in besonderer Weise spätere Lenkungs- und
Leistungsfunktionen erwartet werden, diesen Erwartungen nicht
genügen können, sollten nachdenklich stimmen. Denn, wenn die
gesellschaftlichen Kreise, die exponiert gesellschaftliche
Leitideen tragen, an dieser Last zu zerbrechen drohen, sind Sinn-
und Zukunftsfragen offenkundig. Es ist ein Verdienst der
Herausgeber und der einzelnen Autorinnen und Autoren, dass sie
interessierten Laien nachvollziehbar aufzeigen, dass Heranwachsende
aus der»sozialen Mitte« intensiver professioneller Hilfen bei
Übergängen bedürfen. Diese therapeutischen Hilfen sind im Gegensatz
zum Übergangssystem für benachteiligte Heranwachsende (noch?) nicht
Inhalte einer Politik der Maßnahmen, wenngleich sie bei aller
Verschiedenheit nur andere Wege und Instrumente des Unterstützens
nutzen. Professionelle Hilfe und Therapie können Jugendlichen und
damit auch der gesamtgesellschaftlichen Entwicklung letztlich nur
etwas Zeit und einzelne, oft verinselte Ansatzpunkte des
Stabilisierens bieten. Sie können jedoch nicht an die Stelle
politischer Lenkungen treten und die Frage um Weichenstellungen und
Zukunftsperspektiven ersetzen.
Fazit
Eine Publikation, die bei Lektüre weitaus mehr bietet, als Titel
und Klappentext vermuten lassen. Besonders für Nicht-Therapeuten
werden Zugänge für interdisziplinäre Dialoge der dringend und
drängend anstehenden Justierung von Hilfe ermöglicht, denn
Kooperation setzt Verstehen der Kooperationspartner voraus. Die
Individualisierung von Strukturdefiziten prägt heutige Prozesse des
Aufwachsens; dies vielschichtig, fundiert und trotzdem leicht
verständlich für die Seite psychotherapeutischer Hilfen mit
ausgewählten Standortbestimmungen und Hilfen für Jugendliche aus
der »Mitte« aufgezeigt zu haben, ist wohl die prägnanteste Leistung
der Darstellung.
Rezensent
Prof. Dr. Dirk Plickat
Fachhochschule Braunschweig/Wolfenbuettel Fachbereich Fakultät
Handel und Soziale Arbeit. Nach langjähriger eigener pädagogischer
Praxis in Jugendhilfe und Schule als Erziehungswissenschaftler in
Hochschule in Schnittfeldern von Schule, Kinder- und Jugendhilfe
sowie beruflicher Bildung (auch historisch und vergleichend)
tätig
www.socialnet.de