Rezension zu Rechtsextremismus der Mitte (PDF-E-Book)
SaarKurier Online
Rezension von Klaus Ludwig Helf
Eine sozialpsychologische Gegenwartsdiagnose
Nicht nur die z.Z. laufenden Prozesse in der rassistisch
motivierten Mordserie des so genannten »Nationalsozialistischen
Untergrunds« (NSU), auch die ständig wiederkehrenden gewaltsamen
oder tödlichen Ausfälle und Übergriffe oder auch die verbalen
Abfälligkeiten mit rassistischem, fremdenfeindlichen oder
homophobem Hintergrund machen klar, dass der Satz Brechts aus dem
Epilog des Dramas »Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui« noch
gilt: »Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch«. Zu wenig
Beachtung in der Öffentlichkeit gibt es für die Erkenntnis, dass
menschenfeindliches Denken und Rassismus im Alltag den
Resonanzboden für das Entstehen von organisiertem, gewalttätigem
Rechtsextremismus bilden. So steht im Vorwort der Studie der
Friedrich-Ebert-Stiftung (siehe unten): »Gewöhnung und Abstumpfung
vergiften schleichend das gesellschaftliche Klima: Die ›Abwertung
der Anderen‹ beginnt ganz unspektakulär, unterhalb der Schwelle
breiter öffentlicher Wahrnehmung«. Es wird immer noch in Teilen der
Gesellschaft bestritten, dass Rechtsextremismus auf der
Einstellungsebene kein Randproblem, sondern eines der Mitte der
Gesellschaft ist, dass rechtsextremes Denken in allen Teilen der
Gesellschaft in erheblichem Maße verbreitet ist:
In Deutschland lag 2010 der Prozentsatz derer, die über ein
geschlossenes rechtsextremes Weltbild verfügen, bei 9 Prozent. Hier
setzt der vorliegende Band aus dem Psychosozial-Verlag an als eine
sozialpsychologische Gegenwartsdiagnose; der Titel
»Rechtextremismus der Mitte« verweist auf die die Theorie des
US-Soziologen Seymour Lipset vom »Extremismus der Mitte« (1958);
die antidemokratischen extremistischen Einstellungen und Bewegungen
aus der Mitte der Gesellschaft seien maßgeblich für den Aufstieg
der NSDAP verantwortlich gewesen. Seit 2002 untersucht an der
Universität Leipzig die Forschungsgruppe um Elmar Bähler und Oliver
Decker die rechtsextremen Einstellungen in Deutschland; sie
realisiert im Rahmen der »Mitte-Studien« im Zwei-Jahres-Rhythmus
repräsentative quantitative Erhebungen; den Forschern geht es dabei
nicht nur um rechtsextreme Einstellungen einzelner
Gruppenmitglieder: »Das eigentliche Erkenntnisinteresse liegt für
uns jedoch auf den gesellschaftlichen Bedingungen dieser
Einstellung… ein Verständnis des sozialen und historischen Rahmens
liefern, in dem rechtsextreme und antidemokratische Einstellungen
und Bewegungen gedeihen. Hierfür wird der Begriff ›Umbruch‹ … in
Beziehung zur Moderne gesetzt … eine auf Dauer eingestellte
Umwälzung der Lebensverhältnisse- und sie damit genauso in der
Tradition einer christlichen Heilserwartung wie die kapitalistische
Ökonomie steht« (S.14).
Der Umbruch sei nicht nur beständig, sondern auch expansiv, so dass
die gesellschaftlichen Verhältnisse einem immer schnelleren Wandel
unterliegen. Die regelmäßig erhobenen quantitativen Erhebungen
wurden im Jahr 2008 durch eine Gruppendiskussion ergänzt; die
zentralen Ergebnisse dieser Untersuchungen finden wir in einer
Veröffentlichung, die von Ralf Melzer herausgegeben wurde (Leiter
des Projekts »Gegen Rechtsextremismus« im Forum Berlin der
Friedrich-Ebert-Stiftung); sie stehen hier zum kostenlosen Download
zur Verfügung:
http://www.fes-gegen-rechtsextremismus.de/pdf_12/mitte-im-umbruch_www.pdf
[2]. Der vorliegende Band knüpft an diese Veröffentlichung an und
liefert den ausführlich dargestellten theoretischen Rahmen des
Erkenntnisinteresses und des Untersuchungsdesigns und weitere
Befunde.
Die Autoren des Bandes sind: Oliver Decker, Vertretungsprofessor
für Sozial- und Organisationspsychologie der Universität Siegen,
Johannes Kiess, Politologe und Mitarbeiter am Institut für
Soziologie der Universität Leipzig und Elmar Brähler, Professor und
Leiter der Abteilung für Medizinische Psychologie und Medizinische
Soziologie der Universität Leipzig; weitere Mitarbeiter und
Mitarbeiterinnen sind Janine Deppe, Immo Fritsche, Norman Geißler,
Andreas Hinz und Roland Imhoff.
Der Band fasst die Forschungs-Ergebnisse der Leipziger
Arbeitsgruppe aus den letzten zehn Jahren zusammen – so werden
getrennt nach Altersgruppen die Entwicklungslinien deutlich: »Die
rechtsextreme Einstellung ist Ausdruck von sozialen Prozessen …
Zugespitzt formuliert, ist die rechtsextreme Einstellung in
Ostdeutschland vor allem ein Jugendproblem, in Westdeutschland
dagegen eines der älteren Jahrgänge. … Die Akzeptanz, die
neo-nazistische Positionen gerade auch bei jungen Menschen in
Westdeutschland finden – mehr als 5% mit einem manifest
rechtsextremen Weltbild in der Altersgruppe der nach 1981 Geborenen
– gibt keinen Anlass zur Entwarnung« (S.124/5).
Sowohl antisemitische als auch islamfeindliche Einstellungen seien
in Deutschland »sehr verbreitet« (S.143). Als sozialpsychologische
Erklärung geben die Forscher an »… dass Menschen dazu neigen, das
Eigene zu stabilisieren und das Fremde abzuwehren, wenn sie den
Bestand ihres kulturellen Referenzsystems als bedroht wahrnehmen«
(S.144). Nach der Einleitung folgen die vier analytischen Kapitel:
Moderne Zeiten / Politik und Leben in Deutschland/ Traditionslinien
der Moderne und die demokratische Gesellschaft und ihre Mitglieder
in einer stets sich überholenden Moderne; das letzte Kapitel
dokumentiert den Fragebogen zur rechtsextremen Einstellung –
Leipziger Form (FR-LF) mit Methoden, Ergebnissen, Validierung und
dem Fazit. Es folgen ein ausführliches Literaturverzeichnis und
Angaben über die Autoren.
Die Studie arbeitet deutlich heraus, wie groß die Bedeutung
ökonomischer Teilhabe und sicherer Arbeitsverhältnisse auf die
Wahrnehmung abwertender Urteile über Juden, Muslime oder Ausländer
ist; dabei spielen auch subjektive Faktoren wie das Gefühl der
Unsicherheit und der mangelnden politischen Kontrolle und des
Handlungsverlusts, ebenso erlebte oder empfundene Ausgrenzung vom
wirtschaftlichen Fortschrittsmythos der Gesellschaft eine
erhebliche Rolle; dadurch wird das Entstehen von autoritären Denk-
und Verhaltensmustern begünstigt wenn nicht gar forciert. Der
vorliegende Band ist eine hervorragende interdisziplinäre,
empirisch und analytisch gesättigte und exemplarisch mit
Fallbeispielen illustrierte Langzeitstudie über rechtsextreme
Einstellungen, Verhaltens- und Handlungsmuster mitten in unserer
Gesellschaft; sie zeigt deren Ursachen, aber auch Auswege zur
Abmilderung der fortschreitenden Rechts-Radikalisierung von Teilen
in unserer Gesellschaft. Die Studie widerlegt eindeutig die
kritischen Stimmen wie z.B. des Politologen Klaus Schroeder, der
die These, rechtsextreme Einstellungen fänden sich bis tief in die
Mitte der Gesellschaft, für nicht haltbar bezeichnete; bereits im
»Tagesspiegel« vom 21. Oktober 2010 schmähte er die Studie »Mitte
in der Krise – Rechtsextreme Einstellungen in Deutschland 2010« der
Friedrich-Ebert-Stiftung als »linke Kampfschrift gegen liberale und
konservative Auffassungen«.
Der vorliegende Band als wissenschaftliche Fundierung und
Erweiterung dieser Studie ist ein ausgezeichnetes Kompendium zur
sozialpsychologischen Diagnose des Rechtsextremismus mitten in
unserer Gesellschaft.
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