Rezension zu »Ich schrieb mich selbst auf Schindlers Liste«
Fachbuch Journal. Fach- und Sachinformationen für den Bucheinkauf, 5. Jahrgang, Ausgabe 5, Oktober 2013
Rezension von Dieter Schmidmaier
Unbekannte Judenretter
Die drei Judenretter Berthold Beitz, Berthold Storfer und Siegfried
Jägendorf stehen in einer Reihe mit den viel bekannteren wie Oskar
Schindler und Raoul Wallenberg. Sie und viele andere haben in der
Zeit des Nationalsozialismus von 1938 bis 1945 jüdische Mitmenschen
vor der Deportation bewahrt.
In den Nachrufen für den am 30. Juli 2013 verstorbenen Berthold
Beitz (geb. 1913) wird an herausragender Stelle vermerkt, dass er
mit dem Ehrentitel »Gerechter unter den Völkern, Yad Vashem« geehrt
wurde. Diese Auszeichnung verleiht der Staat Israel nichtjüdischen
Einzelpersonen, die ihr Leben während des Zweiten Weltkrieges im
nationalsozialistischen Herrschaftsraum eingesetzt haben, um das
Leben von Juden zu retten.
Nach dem Überfall auf die Sowjetunion wird Beitz im Juli l941 zum
kaufmännischen Leiter der Karpathen-Ölgesellschaft in Boryslaw
berufen. Bis 1944 bewahrt er zahlreiche Juden vor dem Transport in
Vernichtungslager, indem er sie als unabkömmlich für die Produktion
erklärt, so auch Hilde Berger (1914–2011), die Tochter eines aus
Polen stammenden jüdischen Schneiders. Sie »hat Zeit ihres Lebens
nur eines gewollt: vorbehaltlos, nüchtern, selbstkritisch, ohne
Anleitung oder Beschränkungen selbst zu denken und danach zu
handeln.« (S. 11) Die Stationen ihres Denken und Handelns: Vom
orthodoxen Glauben ihres Vaters zum Zionismus, zum sozialistischen
Zionismus, zum Kommunismus, zum Trotzkismus und schließlich zur
Idee der Demokratie und des freien Denkens. Als Mitglied der
Nachfolgeorganisation der trotzkistischen Linken Opposition der KPD
wird sie 1938 verhaftet und nach Abbüßen der Strafe in die Nähe von
Boryslaw deportiert. Nach dem Ausscheiden von Beitz aus der
Karpathen-Ölgesellschaft kommt Hilde Berger in das Arbeitslager
Plaszów bei Krakow und wird von Oskar Schindler als Sekretärin für
die Emaille- und Munitionsfabrik Zablowice herausgeholt. Dort
schreibt sie die Liste der kriegswichtigen Arbeiter. Nach dem Ende
des Zweiten Weltkrieges geht sie in die USA und heiratet den
Trotzkisten Alex Olsen (1911–2001).
Beitz wird im März 1944 eingezogen, nach dem Krieg wird er
Generalbevollmächtigter des Krupp–Konzerns.
Hildes Schwester Rose (1918–2005) flieht 1938 zu ihrem deutschen
Freund und späteren Ehemann Arthur Reetz nach Frankreich, nach 1945
gehen sie in die USA.
»Beide haben gewusst, worauf sie sich einließen, als sie den Kampf
aufnahmen – Hilde, die vier Jahre ältere und politisch aktivere
sicher mehr als Rose.« (S. 9) Sie sind die beiden einzigen
Überlebenden der Familie Berger.
Reinhard Hesse hat viele Zeitzeugenberichte gesammelt und in diesem
Band veröffentlicht. Hilde Bergers Geschichte wird in drei Texten
beschrieben: ein von Hilde zusammenhängend verfasster Bericht über
ihr Leben bis zum Zweiten Weltkrieg, ein Interview des New Yorker
Journalisten Mark Smith sowie die Niederschrift der Tonbandaufnahme
eines Gesprächs mit einem Verwandten, dem Professor für Astronomie
Harold Zirin und seiner Frau Mary, an dem auch Rose teilnimmt. Rose
Bergers Geschichte wird in zwei Texten erzählt: ein Interview mit
Mary Zirin und ein Interview mit der Journalistin Clarence
McClymonds.
Die Texte werden ergänzt durch ein Geleit von Beitz und eine
Einleitung des Herausgebers sowie einen Anhang mit zahlreichen
Abbildungen.
Eine wichtige dokumentarische Ergänzung zum Leben von Hilde Berger,
die inzwischen zum Gegenstand wissenschaftlichen, literarischen und
filmischen Interesses geworden ist, so durch Steven Spielbergs Film
»Schindlers Liste«, biographische Skizzen über Berthold Beitz, das
Buch »Trotzkisten gegen Hitler« von Peter Berens (2007) und den
biographischen Roman über ihre Cousine Gerda Schrage von Knut
Elstermann (»Gerdas Schweigen. Die Geschichte einer Überlebenden«.
2005).