Rezension zu 100 Jahre Totem und Tabu / Totem und Tabu
literaturkritik.de, Nr. 9, September 2013
Rezension von Dominik Rose
Ein ungeliebtes Stiefkind
Eberhard Th. Haas belebt die Diskussion um Sigmund Freuds »Totem
und Tabu«
Von Dominik Rose
Hundert Jahre ist Sigmund Freuds kulturtheoretische Abhandlung
»Totem und Tabu« inzwischen alt, die 1912/13 als Artikelfolge in
der Zeitschrift »Imago« erstmals erschien. Und noch immer heftig
umstritten. Ihre Rezeptionsgeschichte, resümiert der
Psychoanalytiker Eberhard Th. Haas, besteht vor allem aus
Ablehnung. Viele Thesen Freuds gelten inzwischen als überholt, etwa
zum Totemismus, der in der Ethnologie heute keine Rolle mehr
spielt. Die größte Angriffsfläche bot Freud sicherlich mit der
spekulativen Kernthese seiner Arbeit, die für die meisten Leser
eine ungeheure Provokation dargestellt haben muss: Den Ursprung von
Religion und Gesellschaft markiert für Freud ein Mord, begangen von
einem urzeitlichen Brüderclan an seinem despotischen Vater, in
dessen Folge der gemordete Vater auf der Basis von Schuldgefühlen
seiner Mörder zu einem Gott erhöht und fortan in rituellen
Opferfesten geehrt wird. »Im Anfang«, schließt Freud, »war die
Tat.«
In seinem Vorwort zur Taschenbuchausgabe von »Totem und Tabu«
plädiert Mario Erdheim für eine Neuinterpretation des Werks, die
über den »rätselhaften Exotismus« hinausgeht und einen
Erkenntnisgewinn über die unbewussten Strukturen unserer Kultur
verspricht. Einen wichtigen Beitrag hierzu leisten die in »100
Jahre Totem und Tabu« versammelten Aufsätze, die Freuds Werk aus
verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen beleuchten und zum
Teil erstmals in deutscher Übersetzung vorliegen. Um einen Eindruck
davon zu bekommen, wie Freuds Zeitgenossen auf die Veröffentlichung
reagiert haben, empfiehlt sich der Aufsatz des Anthropologen Alfred
Kroeber. 1920 hatte Kroeber einen vernichtenden Artikel für die
Fachzeitschrift American Anthropologist verfasst, den er einige
Jahre später jedoch deutlich abmilderte. Dieser spätere, in
versöhnlichem Tonfall geschriebene Text ist im Band abgedruckt. Es
wäre sicher interessant gewesen, auch Kroebers harsche frühere
Abrechnung mit Freud zu lesen, die auf die Rezeption des Buchs
entscheidenden Einfluss hatte, aber der vorliegende Aufsatz
offenbart ebenfalls deutlich, was die Anthropologen etwa von der
Vatermord-These hielten: Freud habe hier offensichtlich Fantasie
mit historischer Wahrheit verwechselt.
Neben der inhaltlich motivierten Kritik konstatiert Elizabeth Bott
Spillius, Psychoanalytikern und Anthropologen, aber auch
methodische Einwände seitens einer sich wandelnden Wissenschaft, in
der sich empirische Detailforschung gegenüber interdisziplinären,
großen Entwürfen durchgesetzt hatte. Freuds verallgemeinernder
Ansatz und seine Motivation, den Ursprung kultureller Entwicklung
zu rekonstruieren, galten bereits bei Erscheinen seiner Arbeit als
veraltet und wissenschaftlich unkorrekt. Der Aufsatz von Bott
Spillius ist auch deshalb lesenswert, da sie Freuds Text
rekapitulierend zusammenfasst und auf seine zentralen Punkte
verdichtet. Ein historischer Beitrag kommt von der bekannten
Ethnologin Margaret Mead, die Freuds Ausführungen zum Tabu der
Toten mit ihrem eigenen Forschungsmaterial abgleicht. Nach Freud
treten im Verhältnis zu den Toten ambivalente Gefühle auf, neben
Zuneigung auch Feindseligkeit, wobei letztere unbewusst bleibt. Ist
dieser Gefühlskonflikt stark ausgeprägt, kann das zu neurotischen
Symptomen führen. Welche der miteinander streitenden Gefühle
ausgelebt und welche unterdrückt werden, ist kulturell vorgegeben.
Mead veranschaulicht ihre Thesen am Beispiel einiger Naturvölker,
die sich in ihrer Trauerpraxis deutlich von unserem Kulturkreis
unterscheiden, und plädiert für eine Gesellschaft, die dem
Trauernden institutionelle Äußerungsformen für beide
Gefühlseinstellungen ermöglicht. Faszinierend ist hierbei die
Erkenntnis, dass sich der moderne Mensch im Umgang mit dem Tod
nicht wesentlich von den Naturvölkern und den Zwangsneurotikern
unterscheidet, die Freud in seinem Text beschreibt. Oder anders
ausgedrückt: Tabus sind nach wie vor höchst wirksam.
Eberhard Th. Haas befasst sich, in Anlehnung an einen eher
schwierig zu lesenden Aufsatz von René Girard, mit den bei Freud
beschriebenen sakralen Opferriten und verdeutlicht, welche
gesellschaftliche Bedeutung diese Riten vor dem Aufkommen der
Schrift hatten. In krisenhaften Situationen einer Gemeinschaft
konnte sich die aufgestaute Gewalt in der Opferung eines
Sündenbocks entladen, auf den alle negativen Gefühle der Gruppe
projiziert wurden. Im Anschluss an Chaos und Gewalt folgte, nachdem
die Krise mit dem blutigen Opfer getilgt war, eine neue Ordnung.
Gerade in Phänomenen wie dem Sündenbock-Prinzip kann man als Leser
leicht eine kulturgeschichtliche Konstante entdecken, die sich
nicht auf das beschriebene sakrale Zeitalter beschränkt, sondern in
der Menschheitsgeschichte immer wieder anzutreffen ist. Dass am
Anfang einer sozialen Ordnung die Gewalt steht, deckt sich mit
Freuds Ursprungsthese.
An diesem pessimistischen Befund setzt der Theologe Wolfgang
Palaver an und plädiert für eine Hinwendung zum biblischen »Gott
der Gewaltfreiheit«, um die »zwischenmenschlichen Gewaltpotentiale«
zu überwinden. Zugleich kritisiert er Freud dafür, in seiner
Vatermord-These verkannt zu haben, dass ein Schuldbewusstsein, wie
Freud es dem Brüderclan nach dem begangenen Mord zuspricht, in der
vorbiblischen Zeit gar nicht existiert haben könne. Damals sei jede
Schuld, wie in den griechischen Mythen ersichtlich, immer auf das
Opfer verschoben worden. Palavers Aufsatz liest sich leider
mitunter wie eine Predigt, insbesondere wenn er zum Ende vor einer
»apokalyptischen Katastrophe« warnt, werde der »wahre Gott« nicht
erkannt. Verbunden ist dieses Plädoyer mit dem ideologischen
Vorwurf an den Atheisten Freud, sich nicht auf die Bibel besonnen
zu haben.
Sehr lesenswert hingegen ist der Beitrag der
Kulturwissenschaftlerin Ulrike Brunotte, die »Totem und Tabu« in
seinem zeithistorischen Kontext analysiert. So deutet die Autorin
Freuds Konzept des Brüderclans, das auch in späteren Texten des
Autors immer wieder auftaucht, als Reaktion auf die im
deutschsprachigen Raum ab etwa 1900 aufkommenden, völkischen,
latent homoerotischen Männerbünde und weist richtigerweise darauf
hin, dass in Freuds Kulturtheorie die Frauen keine nennenswerte
Rolle spielen. Das bürgerliche Männlichkeitsbild jener Zeit
bezeichnet Brunotte als Referenzkategorie dafür, wer zur völkischen
Gemeinschaft gehören darf und wer nicht. Verblüffend ist hierbei,
wie schwer sich Freud damit tut, sich von den Idealen der zunehmend
antisemitisch geprägten Männerbünde zu emanzipieren. Brunottes
Aufsatz zeigt auf, wie wichtig es ist, Freuds Text im Zusammenhang
mit der Zeit seiner Entstehung zu lesen.
Überhaupt lohnt es sich, Freud zu lesen. Diese Botschaft vermittelt
der in manchen Beiträgen nicht immer leicht nachzuvollziehende,
aber an originellen Einblicken reiche Band. In »Totem und Tabu«
steckt weitaus mehr als jene »erstrangige Kuriosität« (René
Girard), der am Ursprung der Kulturentwicklung verortete Mord. Die
Relevanz von Freuds Text zeigt sich in den unbewussten psychischen
Prozessen, die auch in unserer heutigen Gesellschaft, etwa in
unserem Verhältnis zum Tod, wirksam sind, und in der Erkenntnis,
dass die Anfänge unserer hehren Kultur eng mit Gewalt verknüpft
sind. Oder, wie Haas es in seinem Aufsatz pointiert formuliert:
»Wenn wir von Kultur sprechen, nehmen wir die Paläste und Dome
wahr, nicht aber die Gräber, auf denen sie errichtet wurden.«
Eberhard Th. Haas (Hg.): 100 Jahre Totem und Tabu. Freud und die
Fundamente der Kultur.
Psychosozial-Verlag, Gießen 2012.
300 Seiten, 29,90 EUR.
ISBN-13: 9783837920925
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