Rezension zu Lektüren eines Psychoanalytikers

Gießener Anzeiger vom 12. September 2013

Rezension von Stephan Scholz

»Diagnostisches Urteil: Schwere Borderliene-Störung«
Psychosozial-Verlag: Dr. Tilman Moser beleuchtet »Feuchtgebiete« von fachlicher Seite

»Diagnostisches Urteil: eine schwere Borderline-Störung der Heldin. Persönliches Urteil: ein menschliches Ekel«, schreibt Dr. Tilmann Moser über Helen Memel, Hauptfigur in Charlotte Roches Roman »Feuchtgebiete«. In seinem soeben im heimischen Psychosozial-Verlag erschienenen Band »Lektüren eines Psychoanalytikers. Romane als Krankengeschichten« nimmt der Analytiker den Text und den Nachfolger »Schoßgebete« unter psychoanalytischen Gesichtspunkten genau unter die Lupe.

Doch Moser, der seit 1978 in eigener Praxis in Freiburg im Breisgau arbeitet und bereits zahlreiche Publikationen etwa zu seelischen Nachwirkungen der NS-Zeit veröffentlicht hat, befasst sich in dem neuen Buch nicht nur mit Roches Werken. Auf gut 130 Seiten interpretiert er zahlreiche bekannte literarische Texte wie »Warten auf Godot« von Samuel Beckett, »Empörung« von Philip Roth oder Elfriede Jelineks »Die Klavierspielerin«. Eingeweihten ist natürlich bekannt, dass der Freiburger damit in guter psychoanalytischer Tradition steht. Denn bereits Gründervater Sigmund Freud widmete sich Sprachkunstwerken mit Blick aufs seelische Geschehen der Protagonisten, unter anderem in William Shakespeares »Hamlet«.

Seit den Tagen des österreichischen Pioniers hat sich eine Vielfalt psychoanalytischer Ansätze der Literaturinterpretation entwickelt, darunter Strömungen, die vom gedruckten Wort Rückschlüsse auf die Psyche des Autors ziehen wollen. Genau diesen Weg geht Moser nicht. Er betrachtet ausschließlich das Verhalten der Protagonisten, vor allem auch in der Interaktion mit anderen, und nutzt dazu die so genannte »Gegenübertragung«. Für alle Nicht-Eingeweihten: Die Psychoanalyse als Behandlungsmethode basiert ganz wesentlich auf der »Übertragung«. Das bedeutet, dass durch die therapeutische Arbeit beim Patienten ein bis dahin unbewusstes Konfliktgeschehen aktiviert wird, in dem dem Analytiker vom Analysanden eine Rolle übertragen wird. Die Gegenübertragung ist quasi die seelische Reaktion des Behandelnden auf das vom Behandelten ausagierte Material.

Genau diesen Mechanismus macht Moser sich zunutze, um in den Texten den Fokus vor allem auf frühkindliche Störungen zu richten. Damit knüpft er an moderne Entwicklungen der Psychoanalyse an, die die Wurzeln von schweren seelischen Problemen wie der Borderline-Störung – auch dank der Arbeiten von Pionieren wie Melanie Klein oder Otto F. Kernberg – in der frühen Kindheit der ersten Lebensjahre sucht.

Und genau eine solche Borderline-Störung macht der Freiburger bei Helen aus den 2008 erschienenen »Feuchtgebieten« aus. Mit beachtlicher Präzision, textnah und gut verständlich findet er charakteristische Symptome wie innere Leere, korrespondierende Größenfantasien oder übermäßige Sexualisierung und sexuelle Verwahrlosung, und weist sie als Resultate einer fehlgeleiteten frühkindlichen Entwicklung und Erziehung aus. »Schon der Erzählstil, in dem die Heldin ihre mit Absicht provokant und ekelerregend wirkenden Abenteuer berichtet, könnte das erste Kriterium für eine Borderline-Diagnose rechtfertigen, so abgehackt, stolpernd, widersprüchlich, roh, kitschig, wechselnd, gelegentlich einschmeichelnd und doch zuweilen packend ist ihr Stil«, schreibt Moser, der – und das kennzeichnet den ganzen Band – eine stichhaltige und gut nachvollziehbare Interpretation liefert.

Vor allem mit Blick auf die Inhalte, weniger auf die sprachliche Form rückt er den Texten von Roche und Co zu Leibe und liefert ein ums andere Mal anregende Erkenntnisse, die die Lektüre auch des Nicht-Analytikers bereichern. Kurzum, Moser hat einen gelungenen Band veröffentlicht, der allerdings gelegentlich schon eine psychoanalytische Vorbildung verlangt. Doch zum Abschluss die Frage: Warum literarische Texte als Krankengeschichten interpretieren? »Die Verstörungen der geschilderten ›Helden‹ oder ›Antihelden‹ bei den untersuchten Autoren stellen in ihrer Radikalität in jedem Fall Bausteine einer tiefenpsychologischen Diagnostik der Moderne dar, die in einem so gewaltsamen Widerspruch steht zu den Schaubildern gelungenen Lebens, wie sie Werbung, politische Propaganda und gängige Wunschbilder von Zufriedenheit und Glück an die Wand malen«, erklärt Moser.

Um es mit anderen Worten zu sagen: Durchaus gesellschaftskritisch entlarvt der Psychoanalytiker verbreitete Glücksversprechen, etwa beim Kauf des »richtigen« Produkts, indem er den Blick auf die tatsächlich relevante frühkindliche Sozialisation und Erziehung lenkt. Ihr Gelingen ist für echtes Glück unabdingbar, ihr Scheitern kann zu schweren Störungen wie bei Helen Memel führen. Kurz, ein hellsichtiges Buch, das literarische Texte als letztlich sozialkritische Gegenbilder zu verbreiteten Happiness-Rezepten begreift und die Glücksdebatte damit zurück auf den Boden der Tatsachen holt. Hut ab vor dem Band, der für 14,90 Euro im Buchhandel erhältlich ist.

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