Rezension zu Lektüren eines Psychoanalytikers
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Rezension von Klaus Fröhlich-Gildhoff
Tilmann Moser: Lektüren eines Psychoanalytikers
Thema
Tilmann Moser greift mit seinem 120 Seiten umfassenden Buch eine
Tradition der Psychoanalyse als Kulturwissenschaft auf: Die
Psychoanalyse beschränkt sich nicht nur auf das Verstehen und
Behandeln von PatientInnen mit psychischen Störungen, sondern sie
versucht auch gesellschaftliche Phänomene zu verstehen und zu
erklären. Dies geschieht in dem Buch auf zweifache Weise: Zum einen
werden Romane und Romanfiguren in ihren zeitgeschichtlichen
Zusammenhängen interpretiert, zum anderen werden
tiefenpsychologische Deutungsmuster an die Hauptfiguren dieser
Romane angelegt.
Aufbau
Moser untersucht in sechs Kapiteln die Persönlichkeitsstruktur von
Roman- bzw. Theaterhauptfiguren und versucht deren seelische
Entwicklungsgeschichte nachzuzeichnen. Dabei geht es ihm nicht
darum »Rückschlüsse auf die Persönlichkeitsmerkmale der Autoren (zu
ziehen), sondern …« er betont seinen »Respekt vor der unglaublich
einfühlsamen Sensibilität mit der sie ihre Helden charakterisiert
haben« (S. 7).
Besonders wertvoll ist dabei, dass immer wieder Bezüge zu den
jeweiligen historischen Rahmenbedingungen hergestellt werden. »Die
Verstörung der geschilderten ›Helden‹ oder ›Anti-Helden‹ bei den
untersuchten Autoren stellen in ihrer Radikalität in jedem Fall
Bausteine einer tiefenpsychologischen Diagnostik der Moderne dar,
die in einem so gewaltsamen Widerspruch steht zu den Schaubildern
gelungenen Lebens, wie sie Werbung, politische Propaganda und
gängige Wunschbilder von Zufriedenheit und Glück an die Wand malen«
(S. 8). Daneben verdeutlicht der Autor, dass das Verstehen der
Romanfiguren an sich auch eine Hilfe für den oder die
PsychotherapeutIn sein kann, um die eigenen PatientInnen in ihren
Lebensbewegungen tiefer oder klarer verstehen zu können.
Inhalt
Nach einer kurzen Einleitung werden in sechs Kapiteln die
Hauptfiguren von verschiedenen Romanen bzw. Theaterstücken zu
verstehen und zum Teil einer diagnostischen Kategorisierung
zuzuführen versucht. Moser schildert dabei jeweils mehr oder
weniger intensiv die jeweiligen Persönlichkeiten und
Rahmenhandlungen z.T. setzt er seine Analysen in Bezug zu den
Untersuchungen anderer Analytikerinnen:
• In Fred Uhlmans Erzählung »Der wiedergefundene Freund« arbeitet
Moser konsequent die zentralen Themen der Freundschaft zweier
Pubertierender auf; zugleich werden die Grenzen des Gefangenseins
der beiden Jugendlichen in ihrer Familie und ihrem geschichtlichen
Hintergrund deutlich.
• Im Kapitel »Tödliche Leere und schmerzliche Einsamkeit«
analysiert Moser die Hauptfiguren zweier Romane von Wilhelm
Genazino. Besonders wertvoll sind die Versuche des tiefen
Verstehens des eigenen (Nicht-)Erlebens der Hauptfigur und die
tiefenpsychologischen Erklärungen unter Berücksichtigung der
frühkindlichen Entwicklungen der Hauptfiguren.
• Im Kapitel »Seelische Bodenlosigkeit« befasst sich Moser mit
Samuel Becketts Theaterstück »Warten auf Godot«. Hierbei werden die
kaum benennbaren »verdorrten Sehnsüchte« der Hauptfiguren mit
Kategorien der Traumaforschung reinterpretiert.
• Die Betrachtung von Philip Roths Roman »Empörung« zeigt die
Verbindung individueller Entwicklungsschicksale mit
gesellschaftlichen Veränderungen und einer entsprechenden
Beschleunigung biografischer Prozesse durch gesellschaftliche
Rahmenbedingungen.
• Der Roman »Die Klavierspielerin« von Elfriede Jelinek wird
gleichfalls mit Verstehenskategorien der modernen
Säuglingsforschung – bis hin zu frühkindlichen Körperprozessen –
analysiert; dabei geht Moser explizit über vorherige
triebpsychologische Deutungen hinaus.
• Abschließend erfolgt eine »psychoanalytische Deutung« der Romane
»Feuchtgebiete« und »Schoßgebete« von Charlotte Roche. Moser stellt
– auch unter Bezugnahme der Erkenntnisse von Kohut – die Diagnose
einer Borderlinestörung der beiden Hauptfiguren der Romane, belegt
dies durch zahlreiche Beispiele und stellt auch hier Bezüge zu
frühesten Beziehungserfahrungen der Hauptfiguren dar.
Diskussion
Moser beschreibt in seiner Einleitung den Anspruch des Buches, es
sei »ein Versuch, die diagnostische Kompetenz der Psychoanalyse zu
bewähren und durch eine tiefenpsychologische Deutung von Romanen
und eines weltweit viel gespielten Theaterstücks … zu erweitern«
(S. 10). Dieser Anspruch wird durch den Autor eingelöst. Dabei ist
es beeindruckend, wie Moser nicht nur auf einem
tiefenpsychologischen Hintergrund die Hauptfiguren der Romane bzw.
des Theaterstücks zu verstehen versucht. Er wendet konsequent
aktuelle Erkenntnisse der neueren Säuglingsforschung bzw.
Bindungsforschung und frühen Interaktionsforschung für die
Interpretation an. Dadurch wird ein Einfühlen in kaum aushaltbare
Zustände von Leere oder Verachtung bzw. Verachtet-Werden möglich
und verstehbar. Moser geht deutlich über eindimensionale
Trieberklärungen orthodoxer psychoanalytischer Ansätze hinaus und
bezieht sich insbesondere in den letzten beiden Kapiteln explizit
auf weiter- und tiefergehende Erklärungszusammenhänge. Einziger
(kleiner) Kritikpunkt ist, dass zwar die Symptomatiken als »oft
sinnlose, skurrile oder pathologische Selbsthilfeprogramme zum
auskömmlichen Überleben« (S. 8) der Romanhauptfiguren betrachtet
werden – es fehlen Betrachtungen der Ressourcen und der Kraft, die
auch in diesen Selbstheilungsversuchen steckt.
Fazit
Das Buch ist gleichermaßen empfehlenswert für psychotherapeutisch
Tätige, als auch für Literatur-Liebende.
Rezensent
Prof. Dr. Klaus Fröhlich-Gildhoff
Hauptamtlicher Dozent für
Klinische Psychologie und Entwicklungspsychologie an der EH
Freiburg. Approbation als Psychologischer Psychotherapeut und
Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut. Abgeschlossene
Ausbildungen in Psychoanalyse (DGIP, DGPT), Personzentrierter
Psychotherapie mit Kindern und Jugendlichen (GwG),
Gesprächspsychotherapie (GwG). 20 Jahre Tätigkeit als
niedergelassener Psychotherapeut und als Geschäftsführer eines
Jugendhilfeträgers (AKGG). Supervisor bzw. Dozent/Ausbilder bei
verschiedenen Psychotherapie-Ausbildungsstätten. Gemeinsam mit
Prof. Dr. Dörte Weltzien Leiter des Zentrums für Kinder- und
Jugendforschung an der EH Freiburg; Forschung im Bereich
Jugendhilfe, Pädagogik der Kindheit, Psychotherapie mit Kindern und
Jugendlichen.
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