Rezension zu »Goldmine und Minenfeld«

Psychoanalyse & Körper Nr. 23 12. Jg. (2013) Heft II

Rezension von Dagmar Hoffmann-Axthelm

Psychoanalyse & Körper Nr. 23 12. Jg. (2013) Heft II

Hirsch, M. (2012): »Goldmine und Minenfeld«. Liebe und sexueller Machtmissbrauch in der analytischen Psychotherapie und anderen Abhängigkeitsbeziehungen.

Mit seinem im Herbst 2012 erschienenen Buch möchte Matthias Hirsch eine Lücke füllen. Es gäbe, wie er im Vorwort schreibt, »erstaunlich wenig Buchveröffentlichungen über Sexualität und sexuelle Grenzüberschreitungen in der Psychotherapie oder Psychoanalyse«. Neben einigen anderen Veröffentlichungen nennt er ein Buch, mit dem die beiden Psychoanalytiker Sebastian Krutzenbichler und Hans Essers die Fachwelt 1991 überrascht hatten und das den süffigen Titel »Muss denn Liebe Sünde sein? Über das Begehren des Analytikers« trägt. Dieser Titel war einem Lied nachempfunden, in dem Zarah Leander in den späten 30er Jahren des letzten Jahrhunderts frech und hocherotisch die rhetorische Frage gestellt hatte: »Kann denn Liebe Sünde sein?« Entsprechend liest sich Krutzenbichlers und Essers’ Buch über längere Strecken kurzweilig. Denn obwohl die Autoren ohne Wenn und Aber für ein therapeutisches Klima plädieren, das von Empathie und Intimität bei gleichzeitig strikt waltender Abstinenz geprägt ist, meint man als Leserin vonseiten der Autoren doch immer mal wieder ein leises Augenzwinkern zu spüren. So berichteten die beiden Autoren recht locker nicht nur von den Schwierigkeiten Sigmund Freuds und Carl Gustav Jungs, mit den Tücken der Übertragungsliebe zurecht zu kommen. Auch die Söhne und Töchter der analytischen »Urhorde« hätten es bunt miteinander getrieben, wobei berühmte Namen genannt wurden: Margaret Mahler hatte eine Liebesbeziehung zu ihrem Lehranalytiker August Aichhorn, Wilhelm Reich verliebte sich immer mal wieder in eine seiner Patientinnen und brach dann die Therapie zu Gunsten einer realen Liebesbeziehung ab, und später heiratete er ebenso wie Sandor Ferenczi, Sandor Rado und Harald Schultz-Hencke eine seiner Patientinnen, während Frieda Reichmann ihren Analysanden Erich Fromm ehelichte.

Solcherlei Augenzwinkern sucht man in Hirschs Buch vergeblich – der Ton ist durchweg ernsthaft und eindringlich. Den recht martialischen Titel »Goldmine und Minenfeld« hat er dem Artikel »The erotic transference in women and in men: Differences and consequences« der amerikanischen Psychoanalytikerin Ethel Person aus dem Jahre 1985 entnommen. Person verweist mit diesen Metaphern auf das zweischneidige Potenzial der Übertragungsliebe. Die »Goldmine«: Die Zuneigung zur Therapeutin ermöglicht es dem Klienten, frühkindliche Traumata nochmals zu durchleben und aufgrund des positiven, vertrauensvollen therapeutischen Klimas korrigierende Erfahrungen mit ihnen zu machen. Das »Minenfeld«: Die aufkeimende Verschmelzungsliebe der Klientin wird vom Therapeuten nicht als solche, sondern als genital gesteuerte echte Verliebtheit verstanden und aus eigenen charakterlichen Defiziten heraus ggf. im Sinne sexueller Übergriffe ausgenutzt.

In einem ersten Kapitel beschreibt Hirsch die »Goldmine« – d.h. einen therapeutischen Prozess, wie er dem Ideal nach verlaufen sollte. Der Analytiker würdigt die Liebesgefühle seiner Klientin, kann sich dadurch durchaus emotional berührt fühlen und dies auch zum Ausdruck bringen, aber er denkt nicht im Traum daran, die drei »Bollwerke« Abstinenz, Asymmetrie der therapeutischen Beziehung und Therapeutischer Rahmen ins Wanken zu bringen. Vielmehr wird er die Liebesgefühle zusammen mit seiner Klientin durcharbeiten, und wenn er tatsächlich in Anfechtungen gerät, wird er seine Gegenübertragung studieren, Selbstanalyse betreiben und nicht ins Agieren geraten: »Was tun (im Falle des Verliebtseins)? [...] die Antwort [lautet:] Nichts« (S. 43).

Schleicht sich bereits in diesem ersten Kapitel hier und da Minenfeld-Material ein, so ist der große Rest des Buches eben diesem gewidmet. Im zentralen Kapitel »Sexuelle Grenzüberschreitung – sexueller Missbrauch« beschreibt Hirsch das Fehlverhalten von – in der Regel männlichen – Therapeuten, die aufgrund von narzisstischen Defiziten oder Perversionen die Abhängigkeit ihrer Patientinnen ausnutzen und mit ihnen in den Therapiestunden heimliche Liebesbeziehungen eingehen, für die sie sich in der Regel auch noch bezahlen lassen. Dies geschieht nach Ausführungen des Autors meist, um eigene Größenfantasien aufrecht zu erhalten und das Entstehen von negativer Übertragung zu unterlaufen. Verliebt sich eine Patientin in ihren Analytiker, so geschieht dies laut Hirsch gleichfalls aus narzisstischer Bedürftigkeit: Sie möchte mit dem großen Mann verschmelzen, um so gleichfalls zu – natürlich illusionärer – Bedeutung zu kommen. Oder sie entwickelt eine Verschmelzungsliebe, der die sexuelle Komponente gleichsam aufgepfropft ist, weil sie nicht wirklich den Mann im Analytiker will, sondern weil sie auf der unbewussten Suche nach einer guten Mutter ist (ich würde diese Liebe übrigens nicht als narzisstisch, sondern als oral motiviert einstufen).

Im dritten Kapitel rollt Hirsch nochmals den »Fall Bittner« auf, die bedenkliche Haltung des Würzburger Psychoanalytikers Günther Bittner, der in den Neunzigerjahren des letzten Jahrhunderts die Psychoanalyse als »erotische Gemeinsamkeit« deklarierte und den grenzüberschreitenden Analytiker als durch die Patientin verführtes Opfer hinstellte. Die Liebe der Klientin betrachtete er nicht als regressives, sondern als erwachsen genitales Element, sodass diese zur aktiv agierenden Täterin, der Therapeut zum verführten Opfer mutiert. Hirsch zitiert hier auch ausführlich aus dem Brief eines Kollegen, den dieser ihm nach einem Vortrag über sexuelle Grenzüberschreitungen geschrieben hatte und in dem er dieselbe Haltung wie Bittner vertrat: Die Patientin ist die Verführerin, der Analytiker das Opfer.

Im vierten Kapitel gibt Hirsch wortwörtlich ein eigenes Gutachten aus dem Jahre 1998 wieder, mit dem er einen Rechtsstreit zwischen einer Analytikerin und ihrem Klienten beurteilt hatte, den Fall »Ganter gegen Dr. Sänger«. Die beiden Beteiligten waren nach einer hastig abgebrochenen Analyse eine Liebesbeziehung eingegangen, die im Desaster geendet hatte. Dieses Geschehen hatte den Klienten nach seiner eigenen Auffassung in einer desolaten psychischen Verfassung zurückgelassen, woraufhin er seine ehemalige Ärztin und Partnerin gerichtlich verklagte. Hirsch sah in seinem Gutachten die Verantwortung bei der Analytikerin, während zwei nachfolgende Gutachten den schwarzen Peter dem Klienten zuschoben. Es sei bereits hier angemerkt, dass mir der Grund für die Veröffentlichung gerade in diesem, sich offenkundig an Analytiker und solche in Ausbildung wendenden Buch nicht wirklich ersichtlich ist. Hier werden über etliche Seiten hinweg Philosophie und Setting der Psychoanalyse erklärt, was, gerichtet an die Adresse von Richtern und Anwälten, sinnvoll erscheint. Bei den psychoanalytischen Kollegen – und nicht nur bei diesen – sollte man solches Wissen allerdings voraussetzen dürfen.

Das letzte Kapitel schließlich beschäftigt sich mit den haarsträubenden Vorfällen von sexueller Übergriffigkeit um den Pädagogen Gerold Becker an der Odenwaldschule, um Patres im Kloster Ettal und um weitere Lehrpersonen, die Kinder und Jugendliche in religiös und reformpädagogisch orientierten Einrichtungen missbraucht haben.

Das Buch gibt einen gründlichen, wahrscheinlich flächendeckenden Überblick – vor allem zum Thema »Minenfeld« – über die internationale psychoanalytische Literatur. Andere psychotherapeutische Zugänge, wie z.B. die körperorientierte Psychotherapie, sind nicht berücksichtigt (Ausnahme: ein Artikel von Tilmann Moser von 1991). Es ist auch insofern auf begrüßenswerte Weise aktuell, als die neuen Arbeiten zum Thema »Missbrauch in Schulen« berücksichtigt sind. Darüber hinaus bezieht der Autor durchweg, für mein Gefühl fast etwas repetitiv, klare Stellung zum Problem: In jedem Fall, in dem es zu sexueller Grenzüberschreitung kommt – gleichviel, ob die Initiative von TherapeutIn oder KlientIn ausgeht – trägt die TherapeutIn die Verantwortung.

Im Übrigen hat mich als körpertherapeutisch orientierte Psychotherapeutin und ehemalige Analytikerin in Ausbildung überrascht, wie eng Hirsch sich in diesem Buch dem Kanon der psychoanalytischen Doktrin verschrieben hat und aus dieser Perspektive die Möglichkeit von Artefakten undiskutiert lässt. Da ist beispielsweise das klassische Setting mit hochfrequenter Sitzungszahl. Es ist klar, dass Klienten, die drei oder gar vier Mal in der Woche für 50 Minuten auf der Couch liegen, enorm intensive Übertragungen entwickeln, und der psychoanalytischen Lehre folgend lässt der Therapeut diese Übertragungen sich über längere Zeiträume entwickeln, ohne dass sie gedeutet werden. Die analytische Dyade zielt nicht primär darauf, das psychische Alter der Klienten zu eruieren, in der das gerade zur Diskussion stehende Trauma entstanden ist und in das die betroffene Person in der Übertragung regrediert. Andere Traumata können auf andere Regressionsebenen und damit zu einem anderen psychischen Alter führen. Wenn diese Ebenen nicht ausreichend klar auseinander gehalten werden, dann können sich mehrfach überlagernde Übertragungen bilden, bei denen irgendwann nicht mehr auszumachen ist, ob die Regression in eine perinatale, orale, narzisstische oder rigide Entwicklungsstufe führt. Hirsch bringt das Beispiel eines – zumindest nach meiner Einschätzung – solchen Übertragungs-Wirrwarrs, angesichts dessen ich mich frage, welche Sehnsuchts-Kumulationen sich unanalysiert im Innern einer Patienten ausgebreitet haben müssen, wenn sie sich in so peinigender Art selbst demütigen muss: »Ich lege mich auf die Couch. Die Minuten vergehen ... Ich lasse mich auf den Fußboden gleiten. Auf die Knie. Ohne meinen Analytiker anzusehen, krieche ich auf seinen Sessel zu, sehr langsam ... Der Weg ist weit ... Schließlich bin ich angekommen. Immer noch auf den Knien hebe ich den Kopf und schaue ihn an« etc., etc. (Anonyma 1988; Hirsch S. 131).

Natürlich will ich damit nicht sagen, die Psychoanalyse habe eine besondere Disposition zum Missbrauch. Der wird bekanntlich leider in allen Therapieformen praktiziert. Aber die unanalysierte Anhäufung von Übertragungsebenen ist ein Faktor, der zu einigen der von Hirsch geschilderten Verwechslungen der »Sprache der Zärtlichkeit« mit der »Sprache der Leidenschaft« (Ferenczi 1933) führen.

Und noch eine Identifikation des Autors mit dem psychoanalytischen Kanon ist mir aufgefallen: Hirsch übernimmt fraglos ein im Rahmen der psychoanalytischen Theorie für die hier gegebene Thematik zentrales Phänomen – das Wesen und Walten des Freud’schen Konzeptes vom Ödipuskomplex. Dieses gilt zwar vielen Autoren psychoanalytischer Prägung nach wie vor als Kristallisationspunkt menschlich-sexuellen Seins schlechthin (z.B. Brech et al. 1999), und auch Hirsch scheint dieser Meinung zu sein. Andere der Psychoanalyse nahestehenden Autoren halten es demgegenüber für eine »Karikatur« (Roth 2000) und wieder andere sehen in ihm den Ausdruck einer individuellen pathologischen Prägung (z.B. Freuds eigene Charakterstruktur, Dornes 2000), eine »theoretische Fiktion« (Mertens 1996) oder ein veraltetes Konzept (Rudolf 1996). Vor diesem Hintergrund kommt es dann bei Hirsch – nicht oft, aber gelegentlich – zu Formulierungen in einer Symbolsprache, die körperorientierte Therapeuten und wahrscheinlich auch Säuglingsforscher um den kürzlich verstorbenen Daniel Stern, die ihre Erkenntnisse auf der Basis direkter Baby-Beobachtung gewinnen, zum Staunen zu bringen vermögen. Eine narzisstische Kollusion zwischen älterem Analytiker und junger Patientin liest sich beispielsweise so, dass der Analytiker sich durch die Hingabe seiner Klientin jung, potent und begehrenswert fühlt, während die Klientin als Gegenleistung »den Penis [erhält], der sie vollständig macht« (S. 63).

Hirsch ist ein genauer Leser, der seine Autoren in sehr vielen Zitaten zu Wort kommen lässt. Das geht zwar auf Kosten flüssiger Lesbarkeit, aber es vermittelt ein genaues Bild. Und das ist es wohl, was dem Buch seinen Wert gibt: Es ist über weite Strecken ein gut strukturierter Literaturbericht, wobei sich der Autor nicht hinter der Literatur versteckt, sondern diese auf einleuchtende Weise gewichtet und kommentiert.

Dagmar Hoffmann-Axthelm

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