Rezension zu »Meine Identität ist die Zerrissenheit«
psychosozial 36. Jg. (2013) Heft III (Nr. 133)
Rezension von Ralf Seidel
Sonja Grabowsky (2012): »Meine Identität ist die Zerrissenheit«.
»Halbjüdinnen« und »Halbjuden« im Nationalsozialismus
Maria Orwid (1930–2009), Professorin für Psychiatrie in Krakau und
Jüdin, die sich beinahe zeitlebens mit dem Schicksal der
Überlebenden des Holocaust der ersten und zweiten Generation
befasst hat, meinte einmal weder die Sprache der Psychiatrie und
Psychologie, noch eine andere wissenschaftliche Sprache könnte dem
Geschehen, um das es hier geht, wirklich gerecht werden. Am ehesten
würden die Berichte der Betroffenen, ja überhaupt Literatur
nachvollziehbar erscheinen lassen, welche bleibenden Verletzungen
das Erlittene bei den Betroffenen hinterlassen hat.
Das vorliegende Buch ist nun eine dezidiert wissenschaftliche
Arbeit. Sie wurde als Dissertation im Fachbereich
Bildungswissenschaften der Wuppertaler Universität angenommen.
Eine präzise dargelegte Einleitung beschreibt den Gegenstand der
Arbeit – das Schicksal der »Halbjüdinnen« und »Halbjuden« während
der NS-Zeit –, den Forschungsstand sowie Methodik und Ziel der
Untersuchung. Dabei wird auch vor Augen geführt, wie weitgehend –
sieht man von der wegweisenden Arbeit von Beate Meyer (2007) ab –
diese Verfolgtengruppe bisher von der Geschichtsschreibung
vernachlässigt wurde.
Sonja Grabowsky versucht nicht, die historische Forschung im
engeren Sinne fortzuführen. Ihr Anliegen ist es, die Frage nach
den Folgen und dem Umgang der Zuschreibung »halbjüdisch« aus der
Sicht der Betroffenen in den Blick zu nehmen. Dabei erscheint die
Wirkmächtigkeit der Lebenssituation des »Dazwischenseins«, des
Status zwischen noch dazuzugehören und doch schon bedrohlich
ausgeschlossen zu sein, in die sich diese Gruppe plötzlich
gestellt sah, unübersehbar. Die Autorin unterlässt es nicht,
deutlich zu machen, wie sehr dieses »Zwangsdasein zwischen den
Stühlen« für diese Gruppe auch nach dem Krieg noch weiter Bestand
hatte. Bezugsrahmen ist für sie die subjektive, erlebte Seite der
Opfer in ihren alltäglichen Strukturen. Durchgeführt wurde die
Untersuchung an 16 Personen »halbjüdischer Herkunft« mittels
ausführlicher, einfühlsam geführter biografisch- narrativer
Interviews, bei denen den Befragten ein möglichst weitreichender
Autonomieraum zugestanden wurde.
Sechs »Fälle« – Biografien, Schicksale höchst unterschiedlicher
Art – werden systematisch dargestellt. In die Falldarstellungen
eingestreute historische Exkurse – über »Mischlinge« und
Zwangsarbeit, Internierung, »Mischlinge« in den
Konzentrationslagern, der Wehrmacht, Eheschließungen mit
»Mischlingen« u.a. – erleichtern dem Leser das Verständnis. Deren
Auswertung erfolgte auf der Basis einer schrittweisen,
regelgeleiteten Inhaltsanalyse nach dem zuvor festgelegten
Orientierungsmerkmal Ambivalenz. Das Phänomen Ambivalenz, das alle
Befragten in besonderer Weise kennzeichnet und somit im Mittelpunkt
der Untersuchung steht, wird anhand der Autoren Eugen Bleuler,
Sigmund Freud individuell, Georg Simmel und Zygmunt Bauman eher
gruppenbezogen begrifflich bestimmt. Als besonders bedeutsam im
Rahmen der Ambivalenzerfahrungen stellten sich einerseits Aspekte
der »Zugehörigkeit« und des »Ausschlusses« sowie Fragen der Fremd-
bzw. Selbstzuschreibung der Begrifflichkeit »Halbjude« heraus.
Es kann nicht Aufgabe einer allgemeinen Besprechung sein, hier auf
die verschiedenen Merkmalsausprägungen und deren methodische
Darstellung genauer einzugehen.
Die Herausarbeitung, ja auch das Verständlichmachen von
Bedeutungmustern, Sinnstrukturen in den Lebensläufen der von der
Kennzeichnung »halbjüdisch« empfindlich getroffenen Menschen ist
es, was das Buch von Sonja Grabowsky kennzeichnet. Die analytische
Methodik musste der Autorin dabei verbieten, die »subjektive
Perspektive« der Befragten zu übernehmen, sich in sie
»einzufühlen«, wie ein Therapeut das tun sollte. Ihre zielbewusste
Vorgehensweise ist wohl auch ein Grund dafür, dass sie den
inzwischen allenthalben unkritisch verwendeten Topos des
»psychischen Traumas« mit Bedacht als untersuchungsleitende
Kategorie ausgeklammert hat.
Die meisten der »Halbjüdinnen« und »Halbjuden« waren sich stets
der Tatsache bewusst, dass ihre »volljüdischen« Verwandten noch
mehr als sie zu leiden hatten und dass zunächst ihnen das »Recht«
zukommen sollte, für das was sie erlitten hatten, Anerkennung zu
finden. Ihnen gegenüber empfanden sie nicht selten Schuld. Auch
das war für sie ein Grund für ihr Schweigen nach der Befreiung
vom Nationalsozialismus über das, was auch ihnen widerfahren
war.
Es ist das große Verdienst der Arbeit von Sonja Grabowsky, dass sie
eine Gruppe von NS-Verfolgten, der bisher kaum Beachtung zuteil
wurde, noch einmal ins Bild gesetzt und ihr damit eine Stimme
gegeben hat. Dieses Anliegen klingt, trotz aller notwendigen
wissenschaftlichen Methodik, immer wieder durch. Dabei wird
deutlich, dass mit dieser umschriebenen, scheinbar marginalen
Gruppe mit ihren Gefühlen des Dazwischenseins, aber auch mit ihrer
damit meist einhergehenden Offenheit allem Ungewohnten, Fremden
gegenüber, ein Phänomen behandelt wird, das auch von
allgemeinmenschlicher Bedeutung ist, das uns gerade heute, wo wir
uns zunehmend zu einer kulturell bunten Gesellschaft entwickeln, in
der das »Leben zwischen den Stühlen« keine Ausnahme mehr
darstellt, unter den Nägeln brennen muss.
Ralf Seidel
Literatur
Meyer, B. (2007): »Jüdische Mischlinge«. Rassenpo- litik und
Verfolgungserfahrung 1933–1945. Ham- burg (Dölling und
Galitz).
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