Rezension zu Bindung und Gefahr

Praxis der Kinderpsychologie und Kinderpsychiatrie 7/2013 532 – 544

Rezension von Lothar Unzner

Stokowy, M., Sahhar, M. (Hrsg.): Bindung und Gefahr

In diesem Buch wird eine Weiterentwicklung der Bindungstheorie erstmals umfassend in deutscher Sprache vorgestellt, das Dynamische Reifungsmodell der Bindung (Dynamic-Maturational Model DMM) von Patricia Crittenden. Die Autorinnen und Autoren der einzelnen Kapitel sind international anerkannte Experten aus Australien, Deutschland, Großbritannien, Italien, Kanada, Norwegen und den USA.

Unser Leben beginnt in einer einzigartigen Abhängigkeit, einer Bindung, ohne die wir nicht überleben könnten. Das DMM basiert auf der Annahme, dass jede Form von Bindungsverhalten eine Anpassungsleistung des Individuums an seine Umgebung darstellt. Bindung dient danach dem Schutz vor Gefahren. Bindung wird definiert als selbstprotektive Strategie, die im Kontext von Bindungsbeziehungen erlernt wird; sie ist das Ergebnis einer fortlaufenden Interaktion zwischen inneren Reifungsprozessen und äußeren Lebensumständen. In ihr spiegeln sich individuelle Unterschiede wider, wie Informationen bezüglich Sicherheit und Gefahr verarbeitet werden.

Die Kapitel 1-6 vollziehen die Entwicklung vom Säugling bis ins Erwachsenenalter nach. Es wird jeweils eine theoretische Einführung gegeben, das dazu gehörende Messinstrument erläutert, zum Teil mit einem oder mehreren Fallbeispielen.

Im ersten Kapitel (Letourneau, Tryphonopoulos) wird der CARE-Index vorgestellt, der nicht die Qualität der Bindung selbst erfasst, sondern deren Vorläufer in der dyadischen Interaktion. Im zweiten Kapitel gibt Rauh einen Überblick über die Bindungstheorie mit Schwerpunkt im zweiten und dritten Lebensjahr und der »Fremden Situation«. Die Durchführung im Vorschulalter und ein Auswertesystem, in dem individuelle Bindungsstrategien erfasst werden (PAA), beschreibt Zach. Mit dem Übergang ins Schulalter können projektive Verfahren zum Einsatz kommen, so das School Age Assessment of Attachment (SAA). Kozlowska stellt das Auswerteverfahren der dazugehörigen Interviews dar. Eine besondere Form des AAI wird von Landini et al. vorgestellt, das Heranwachsenden-Interview (Transition to Adult- hood Attachment Interview, TAAI). Ein gut eingeführtes Verfahren ist das Adult Attachment Interview (AAI), seine Bedeutung im DMM und das dazugehörige Auswerteverfahren wird im Beitrag von Sahhar thematisiert.

Im Fokus des DMM sind die selbstprotektiven Strategien des Individuums, wie es sich angesichts von Gefahr organisiert. Diese Strategien können auf einer korrekten und wahren Repräsentation von Kognition und (negativen) Affekten beruhen, diese können aber auch verzerrt oder falsch wahrgenommen werden. Im Laufe der Entwicklung verändern sich die Strategien und werden immer ausdifferenzierter. Sie werden nach Crittenden in einem Kreismodell erfasst (A+ und C+). Es wird die Art der Verarbeitung von Informationen mit Relevanz für den eigenen Schutz (und dem Schutz der Nachkommen im Erwachsenenalter) analysiert. Dabei spielen Konsistenzen und Diskrepanzen zwischen den Gedächtnissystemen (prozedurales, semantisches, episodisches, sinnlich-abbildhaftes Gedächtnis) eine wichtige Rolle.

Die Diagnostikverfahren des DMM sind aufwendig und nicht kostengünstig; sie können jedoch dazu beitragen, die richtige Art der Intervention zu finden und somit hohe Folgekosten zu vermeiden.

Die weiteren Beiträge beschäftigen sich mit Anwendungsaspekten. Die ersten beiden fokussieren auf die Trennung von den Herkunftseltern und Fremdunterbringung, wobei sie dies generell als gefährliche, riskante und schmerzhafte Lösung ansehen. Farnfield beschäftigt sich mit Ersatzeltern und bringt dabei Gesichtspunkte ein, deren Relevanz häufig übersehen wird, die Bindungsstrategien und Motivation der Fürsorgepersonen. Anschließend stellt Crittenden die Standards für Familiengerichtsverfahren vor, wie sie von der International Association for the Study of Attachment (IASA) ausgearbeitet wurden. Sie befasst sich mit dem Beitrag von Bindung zu Familiengerichtsentscheidungen, den zum Einsatz kommenden Instrumenten, dem Aufbau der IASA-Standards und der Bedeutung der Erfassung von Stärken und der genauen Beschreibung der Familiensituation. In einem Fallbeispiel begründet sie die Rückführung zum Vater, obwohl viele Beteiligte sich dagegen aussprachen.

Ein weiterer Beitrag geht auf die Neurobiologie der Bindung ein, referiert Tierversuche und diskutiert die Übertragung auf die menschliche Bindung (Strathearn). Ein Beitrag zur Forensik (Nørfeld) geht auf die Bedeutung der Bindungstheorie für ein differenziertes Verständnis gefährlicher Gewaltverbrecher ein und zeigt, dass extreme selbstprotektive Strategien entwickelt werden, wenn ein Kind früh, anhaltend und ohne Schutz Gefahren ausgesetzt wird.

Verschiedene Anhänge zum DMM verdeutlichen abschließend wesentliche Aspekte (Definition von Bindung, Bindungsdiagnostik, wesentliche Konzepte, Diskurs-Konstrukte, aufgeteilt nach Gedächtnissystemen und Bindungstypen, Verantwortungszuschreibungen der Typen A und C).

In dem Buch wird das Konzept des DMM umfassend dargestellt, die Entwicklung der Bindung im Lebenslauf erläutert und seine Praxisrelevanz bestätigt. Es bereichert die deutschsprachige Bindungsliteratur.

Lothar Unzner, Putzbrunn

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