Rezension zu Psychotherapiewissenschaft
Psychoanalyse & Körper Nr. 23 12. Jg. (2013) Heft II
Rezension von Otto Hofer-Moser
Fischer, G. (2011): Psychotherapiewissenschaft. Einführung in eine
neue humanwissenschaftliche Disziplin.
Im österreichischen Psychotherapiegesetz vom 7. Juni 1990, BGBl.
Nr. 361/1990 heißt es:
»Die Ausübung der Psychotherapie ist die nach einer allgemeinen
und besonderen Ausbildung erlernte, umfassende, bewusste und
geplante Behandlung von psychosozial oder auch psychosomatisch
bedingten Verhaltensstörungen und Leidenszuständen mit
wissenschaftlich-psychotherapeutischen Methoden in einer
Interaktion zwischen einem oder mehreren Behandelten (Gruppen) und
einem oder mehreren PsychotherapeutInnen mit dem Ziel, bestehende
Symptome zu mildern oder zu beseitigen, gestörte Verhaltensweisen
und Einstellungen zu ändern und die Reifung, Entwicklung und
Gesundheit des Behandelten zu fördern« (zit. in Leitner 2010, S.
120f., Hervorh. H-M).
Mit diesem Gesetz sollte u.a. der Heilberuf »Psychotherapie«
gleichberechtigt neben dem der Medizin im österreichischen
Gesundheitswesen etabliert werden. Dass dies in den letzten 22
Jahren nur bedingt gelungen ist, hat mehrere Gründe. Der wichtigste
davon hat m.E. mit der gesellschaftlichen Macht der Ärzteschaft zu
tun und deren Bemühen, die knappen finanziellen Ressourcen der
Gesellschaft größtenteils für sich zu reklamieren. Wesentlich
erleichtert wird deren Strategie dadurch, dass viele angehende
PsychotherapeutInnen zwar bereits seit einigen Jahren durchaus die
Möglichkeit nutzen, einen Master-Abschluss, z.B. an der
Donauuniversität Krems oder der Sigmund Freud Universität in Wien,
zu absolvieren, dass ein Doktoratsstudium derzeit aber in
Österreich ebenso wie in Deutschland noch die große Ausnahme
darstellt. Das erschwert eine selbstbewusste Abgrenzung und einen
Dialog auf Augenhöhe zwischen Psychotherapie und einer doch
weitgehend naturwissenschaftlich ausgerichteten akademisch
etablierten Medizin ganz erheblich.
Um eben diese Emanzipation der Psychotherapie gegenüber den
akademischen Berufen des Psychologen und vor allem der Medizin geht
es Gottfried Fischer – Prof. Dr. phil. habil., Psychoanalytiker
(DPV), psychologischer Psychotherapeut, Leitender Direktor des
Instituts für Psychotherapeutische Forschung, Methodenentwicklung
und Weiterbildung, Direktor des Instituts für Psychologie und
Psychotherapiewissenschat der Steinbeis-Hochschule Berlin,
Mitbegründer der Psychotraumatologie in Deutschland – in seinem
neuen Buch Psychotherapiewissenschaft (PTW). Sein Hauptanliegen
ist, diesen Studiengang möglichst breit anzulegen und darin
relevantes Wissen aus Philosophie, Erkenntnistheorie,
Wissenschaftstheorie, Soziologie, Pädagogik, Psychologie, Medizin,
Biologie, Neurobiologie, etc. so zu vermitteln, dass die
AbsolventInnen die Fähigkeit erlangen, »psychotherapeutische
Interventionen wissenschaftlich fundiert zu begleiten, deren
Qualität sicherzustellen und eine kontinuierliche Verbesserung der
Interventionen einleiten und begleiten zu können« (S. 216).
Letztlich schwebt ihm das Ziel einer integrierten Humantherapie
vor, in der PsychotherapeutInnen sowohl als ForscherInnen als auch
als engagierte PraktikerInnen Menschen in einer »ziemlich
einzigartigen Beziehungsgestaltung«, die weder eine formelle,
berufliche, noch eine informelle private Beziehung darstellt, in
ihrem Veränderungs- und Entwicklungsprozess auf ein gemeinsam
definiertes Therapieziel hin partnerschaftlich begleiten. Damit
klingen die beiden Hauptthemen des Buches an: 1) Was ist der
»Gegenstand« der PTW bzw. was ist die diesem Gegenstand angemessene
wissenschaftlich-psychotherapeutische Methodik, vor allem auch in
selbstbewusster, reflektierter und wissenschaftstheoretisch gut
argumentierbarer Abgrenzung zu jener in experimenteller Psychologie
und biologischer Psychiatrie? und 2) Was macht die Besonderheit der
therapeutischen Beziehung aus?
Im ersten Kapitel »Das Wunder heilender Gespräche« beschreibt
Fischer Psychotherapie als ein Heilverfahren, welches durch »Dialog
und therapeutische Beziehungsgestaltung« definiert werden kann. In
dieser Beziehungsgestaltung steht die interpersonelle Beziehung mit
den Kernelementen Arbeitsbündnis und Übertragung ganz im Dienste
der Entwicklung von intrapersoneller Intelligenz und Erkenntnis
beim Patienten. Die therapeutische Grundhaltung ist dabei – neben
der professionellen Abstinenz im Sinne von Freisein von
selbstsüchtigen Motiven des Therapeuten – durch eine empathisch
begleitende und vor allem eine mäeutische, auf Sokrates
zurückgehende Gesprächsführung gekennzeichnet, die
nicht-manipulativ und nicht-suggestiv – analog der Hebammenkunst –
unbewusstes Wissen der Patientin bzw. den unbewussten Begriff in
seinen pathogenen und salutogenen Ausformungen an den Tag zu
bringen hilft. Diese dadurch angeregte Persönlichkeitsentwicklung
folge dabei im Sinne Hegels einer dialektischen Logik, welche
ambivalente bis widersprüchliche Teilbereiche (These und Antithese)
in einer neuen Syntheseleistung aufzuheben vermag. Dieses
grundlegende dialogisch-dialektische Verständnis des Menschen könne
man übrigens auch auf ganze Gesellschaftssysteme gewinnbringend
anwenden, wie Fischer in einer Beschreibung und Interpretation der
Aufhebung der deutschen Spaltung darlegt. Als zentrales Merkmal
psychischer wie sozialer Störungen könne man aus dieser Perspektive
eine Unterdrückung der freien Assoziation auf der intrapsychischen
Ebene und des freien demokratischen Meinungsaustausches auf
sozialer Ebene betrachten und demgemäß Heilung als eine zunehmende
Aneignung innerer und äußerer Freiräume.
Im zweiten Kapitel zeigt Fischer sehr überzeugend auf, dass im
modernen Wissenschaftsbetrieb mangels ausreichender
philosophisch-erkenntnistheoretischer Reflexion häufig die Methode
den vorwissenschaftlichen in den eigentlichen wissenschaftlichen
Gegenstand überführt. »Die korrekte Anwendung der Methode
entscheidet, ob Erklärungen gefunden werden, die als
gegenstandskonform akzeptiert werden, sie entscheidet über den
Zugang zu Publikationsorganen und über wissenschaftliche Karrieren«
(S. 35). Auch wenn sich nun biologische Psychiatrie, experimentelle
Psychologie und Psychotherapie mit dem selben
»vorwissenschaftlichen« Gegenstand, nämlich dem menschlichen
»Erleben und Verhalten« beschäftigen, verwenden erstere vorwiegend
eine an den Naturwissenschaften ausgerichtete Forschungsmethode,
was dann eben auch zu substratologischen, d.h.
physikalisch-chemischen bzw. neurobiologischen und zu funktionellen
Erklärungen führt. Die dem menschlichen Erleben und Verhalten, dem
bewussten und unbewussten Seelenleben vorrangig angemessene Methode
bestehe aber in der teilnehmenden Beobachtung in einer
intentionalen und kommunikativen Einstellung, wenn man nicht in
verschiedenen reduktionistischen Erklärungs- und
Behandlungsansätzen stecken bleiben, wenn man nicht unversehens in
eine »Gegenstandsverwirrung« geraten will, in der der Primat einer
falsch gewählten Forschungsmethode bzw. die unreflektierte
Gleichsetzung dieser gewählten Methode mit dem wissenschaftlichen
Gegenstand das eigentliche Erkenntnisziel, nämlich die
Innenperspektive des Menschen, verfehlen lassen. So stellt sich im
dritten Kapitel die entscheidende Frage: »Gibt es einen Stil des
Denkens und der Erkenntnis, welcher der Psychotherapiewissenschaft
angemessen ist?« Über das bisher Gesagte hinaus ist dies nach
Fischer einerseits die historische Denkweise, d.h. gegenwärtiges
menschliches Erleben und Verhalten ist nur aus der persönlichen
Biografie heraus zu verstehen, und andererseits gilt es, auch die
gegenwärtigen Kontextbedingungen, den soziokulturellen Rahmen
ausreichend mit zu bedenken. (In der Integrativen Therapie sprechen
wir vom »Leibsubjekt in Kontext/Kontinuum«, vgl. Leitner 2010.)
Fischer nennt dies den dialektisch-ökologischen Zugang und
kritisiert in diesem Zusammenhang m.E. zu recht, dass die gängigen
Diagnosemanuale ICD und DSM diesen beiden Aspekten nicht
ausreichend Rechnung tragen, sodass sie dadurch wie eine
»Auflistung bizarrer und mehr oder weniger sinnloser
Verhaltensweisen« (S. 72) anmuten und so weder das subjektive
Erleben noch den prozesshaften Charakter pathogener und salutogener
Entwicklungen ausreichend berücksichtigen. Ein ausführliches
»Behandlungsbeispiel eines Patienten mit psychosomatischen
Beschwerden«, in welchem der Leser zum Mitdenken eingeladen wird,
exemplifiziert anschaulich die vorangegangenen Überlegungen.
Im anschließenden Kapitel geht es um unser Normverständnis auf
unterschiedlichen biologischen und psychosozialen Systemebenen im
Sinne von funktionellen, statistischen und Idealnormen. Eine
ausreichende Differenzierung der verschiedenen Wirklichkeitsebenen
(Mehr-Ebenen-Modell) vornehmen zu können und eine damit für die
Erreichung des Therapiezieles verbundene Bewertung von potenziellen
Aufwärts- und Abwärtseffekten sowie ein Verständnis der
dialektischen Einheit von Körperhaben und Körpersein, wird für die
PTW als zentral angesehen.
Und es geht in den PTW darum, nicht bei der Phänomenologie bzw. der
Symptomebene stehen zu bleiben, sondern sich gemäß der
dialektisch-ökologischen Logik im therapeutischen Dialog gemeinsam
ein Verständnis der relevanten pathogenen und salutogenen Prozesse
zu erarbeiten und so von der Oberfläche zum Wesenskern, zur
eigentlichen Ätiologie vorzustoßen. Dies erst ermögliche die Chance
auf kausale Heilung und nicht nur von oberflächlicher
Symptombeseitigung. Fischer kategorisiert diese ätiologische Ebene
in vier große Bereiche und zwar in den biologischen Bereich mit all
den genetischen und epigenetischen Bedingtheiten, in den
psychotraumatischen Bereich mit allen Besonderheiten im
Hochstressbereich, in den Bereich der Übersozialisation mit den
vorherrschend rigiden Überichstrukturen und schließlich den der
Untersozialisation mit den unterschiedlichsten sozialen
Defizitstrukturen. Und er fordert folgerichtig, dass die
unterschiedlichen psychotherapeutischen Schulen diesem Wissen
Rechnung tragen und die psychotherapeutische Beziehungsgestaltung
nicht nur in einzelnen Interventionen, sondern den Therapiestil
selbst dementsprechend ausrichten müssten. Er fordert vehement eine
Abkehr von bisherigen Uniformitätsmythen in der Form: »Eine
Ätiologie, ein zentrales Krankheitsbild und ein Therapiestil sind
ausreichend für alle Störungen und alle Menschen« (S. 101) und
weiter: »Die Patienten haben ein Recht darauf, die Philosophie
ihres Therapeuten auch explizit zu erfahren, nicht nur indirekt
über die therapeutischen ›Techniken‹, die er verwendet« (S.
103f.).
Es folgt ein sehr ausführliches und in sich detailliert
gegliedertes Kapitel darüber, was unter Berücksichtigung der
bisherigen Überlegungen »psychotherapeutische Forschung« ausmacht,
die den Kriterien systematisches Vorgehen bei der
Erkenntnisgewinnung und intersubjektiver Nachprüfbarkeit der
Ergebnisse tatsächlich genügt. Dabei haben in der PTW die
geisteswissenschaftlichen Zugänge – Phänomenologie, Hermeneutik und
Dialektik – als Zugänge zur Innenperspektive des Menschen
erkenntnistheoretisch begründet Vorrang vor den
naturwissenschaftlichen Methoden – Induktion, Deduktion und
Abduktion. Notwendig ist beides, aber Verstehen hat Primat vor dem
Erklären, qualitative Forschung vor quantitativer, systematische
Fallstudien (auf den Einzelfall beschränkt oder fallvergleichend)
vor Randomized Controlled Trials und Feldstudien, etc. Es werden
Geltungskriterien psychotherapeutischer Forschung wie
Interpretierbarkeit der Ergebnisse, der Nachweis von
Nicht-Trivialität, Gütekriterien qualitativer Forschung etc.
beschrieben, Empfehlungen für den Aufbau wissenschaftlicher
Arbeiten gegeben, es wird die Auswahl und Recherche der Literatur
über Datenbanken und Internet ebenso besprochen wie die Gliederung
nach unterschiedlichen Studientypen bis hin zum Typ der
Aktionsforschung.
Jede Forschungstätigkeit in den PTW sollte letztlich dem Ziel
dienen, die psychotherapeutische Praxis auf Qualität hin
abzusichern und diese nach Möglichkeit laufend zu verbessern. Dazu
sei es eben notwendig, diese Forschung ausreichend praxisnah zu
gestalten, sodass praktizierende PsychotherapeutInnen – im
Gegensatz zur gegenwärtigen Situation – sich von deren Ergebnissen
auch tatsächlich angesprochen fühlen. Nach der Vorstellung sehr
detaillierter Bachelor-, Master- und Doktorats-Curricula kommt
Fischer im abschließenden Kapitel nochmals zusammenfassend auf die
Besonderheit der Identität einer Psychotherapiewissenschaftlerin
zurück mit dem Kernelement der spezifischen therapeutischen
Beziehungsgestaltung und deren Primat vor jeglichem Einsatz von
durchaus notwendigen »Techniken«. In diesem Prozess beanspruche die
Psychotherapeutin keine »Deutungsmacht« mehr, sondern begleite
kooperativ, empathisch und in mäeutischer Gesprächsführung die
Entwicklung des unbewussten Begriffes hin zum selbstbewussten
Begriff.
Kritisch anzumerken ist, dass sich dieses Buch streckenweise – vor
allem wenn es um Fischers spezifischen philosophisch-dialektischen
Ansatz geht – recht mühsam liest. Da muss man sich ein
ausreichendes Verständnis durch mehrmaliges Lesen erst erarbeiten.
Dafür kommt m.E. die philosophisch-erkenntnistheoretische
Begründung der Eigenständigkeit der PTW gegenüber den
naturwissenschaftlich ausgerichteten Nachbardisziplinen –
biologische Psychiatrie und experimentelle Psychologie – etwas zu
kurz. Vor allem eine fundierte Kritik am gesellschaftlich
dominierenden neurobiologischen Diskurs und seinem
Neurokonstruktivismus, wie sie sich beispielsweise bei Thomas Fuchs
(2010) findet, wäre da hilfreich und argumentativ auch notwendig.
Unklar bleibt letztlich auch, an wen sich dieses Buch eigentlich
richtet: an einen angehenden Studenten der Psychotherapie? An
praktizierende PsychotherapeutInnen? An Anbieter
psychotherapeutischer Curricula?
Trotz dieser kleinen Schwächen kann eine breite, an Psychotherapie
allgemein und an ihrer ausreichenden sozialen Verankerung im
speziellen interessierte Leserschaft dieses Buch mit großem Gewinn
lesen. Schließlich kommen sogar kunstinteressierte Leser auf ihre
Kosten. Ausgehend von einem literarischen Motiv zweier Dichter aus
dem 19. Jahrhundert – einer Ballade mit dem Titel »Der rechte
Barbier« von Adalbert von Chamisso und der Erzählung »Der
Babierjunge von Segringen« von Johann Peter Hebel – vermag Fischer
sehr überzeugend und faszinierend in seiner
dialektisch-psychoanalytischen Interpretation die Entfaltung des
unbewussten Begriffs im Kunstwerk zu verdeutlichen und so sein
Verständnis der »dialektischen Methode als Ziel und Vollendung des
phänomenologischen und hermeneutischen Zugangs« (S. 201) gut
nachvollziehbar zu explizieren. Vielleicht sollte man sogar nach
dem Eingangskapitel sich zunächst mit dieser gelungenen
Kunstinterpretation (F 2.3.2 und F 2.3.3) auseinander setzen. Dies
könnte ein schnelleres Verständnis der vorangegangenen Kapitel
erheblich erleichtern.
Otto Hofer-Moser
Literatur
Leitner, A. (2010): Handbuch der Integrativen Therapie. Wien, New
York (Springer). Fuchs, Th. (2010): Das Gehirn – ein
Beziehungsorgan. Eine phänomenologisch-ökologische
Konzeption. 3., aktual. u. erw. Aufl. Stuttgart (Kohlhammer).
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