Rezension zu Alchemie
PSYCHE 4.2006 60.Jg.
Rezension von Oskar N. Sahlberg
»Lebenszyklus« ist ein Begriff, mit dem in den 60er Jahren des
vorigen Jahrhunderts Erik H. Erikson und Theodor Lids die
Gesetzmäßigkeiten von Entwicklung und Reifung im Lebenslaufe
erfaßten und der auch im Titel des Sonderhefts der PSYCHE vom
September/Oktober 2002 erscheint. Das gleiche Phänomen nannte C. G.
Jung »Individuationsprozeß«, wobei er aber vor allem die zweite
Lebenshälfte im Auge hatte. Dieser im Unbewußten ablaufende Prozeß
zeige sich in Traumsymbolen. Derartige Symbole fand Jung in den
Bildergeschichten der alchemistischen Traktate (die der
Psychoanalytiker Herbert Silberer schon 1914 interpretiert hatte).
Er deutete sie als Darstellungen des lndviduationsprozesses.
Der dänische Psychologe Johannes Fabricius geht in seiner
Neudeutung der Alchemie von »Freuds Konzept des Unbewußten« aus und
stellt die Bildergeschichten in »einen biopsychologischen
Bezugsrahmen«. Unter Individuationsprozeß versteht Fabricius die
Entwicklung, die mit der sexuellen Reife beginnt: Viermal erlebe
der Erwachsene in seinem Lebenslauf eine Krise. Auf die
»Jugendkrise« folgt das »Erwachsenenalter«. Die Krise der
»Lebenswende« führt zum »mittleren Lebensalter«, die Krise der
»Wechseljahre« zum »späteren Lebensalter«. Das »Alter« mündet nach
einer letzten Krise in »Abgeklärtheit und die Bereitschaft zum
Tode«. Jedesmal geschehe eine Auflösung der alten Identität,
verbunden mit einer Regression ins Unbewußte, worauf, gespeist
durch dessen Energien, eine Zeit der Kreativität einsetze und sich
»aus einem Gefühl der Wiedergeburt« eine neue Identität bilde.
Fabricius bezieht die vier Phasen auf die vier biologischen
Wachstumsschritte, in denen sich der Mensch entwickelt:
Keimzellenreifung, Empfängnis, Einnistung, Geburt. Er begreift den
Individuationsprozeß als »Tiefenregression«, als Prozeß, der durch
Geburt, Einnistung, Empfängnis, Keimzellenreifung rückwärts
verläuft, um sich jeweils tiefer in der eigenen Werdensgeschichte
zu verankern. Ein paradoxer Prozeß – denn dem Voranschreiten im
bewußten Lebenslauf entspricht im Unbewußten ein
Rückwärtsschreiten, verbunden mit einer Vertiefung des inneren
Bezugs zu den eigenen Anfängen. Diese Rückbewegung fuhrt zur
Erschließung von dichterer, stärkerer, d. h. noch nicht so
differenzierter Energie und endet im Erreichen des Ursprungs, wo es
die volle Potenz in ihrer noch nicht entfalteten Form gab. Die
»lebenslange Individuation« besteht «im Wesentlichen darin, daß
immer tiefere Schichten der vorgeburtlichen Zeit integriert werden
müssen, will man in lebendiger Entwicklung bleiben«.
In den alchemistischen Bildern, die der «Jugendkrise« entsprechen,
wird der Ödipuskomplex sichtbar: Ein Bild zeigt Ödipus vor der
Sphinx. Ein ineinander verbissenes, sich begattendes Löwenpaar
scheint auf die Urszene zu deuten, die kindliche Phantasie vom
elterlichen Geschlechtsverkehr als einem mörderischen Kampf. Freuds
Befunde wie die seiner Schule, z. B. Melanie Klein oder Margaret
Mahler, wurden von den Alchemisten erahnt und drastisch
veranschaulicht. Die häufigen Geburtssymbole macht Fabricius mit
Otto Rank verstehbar. Die mythischen Mutter- und Vaterfiguren der
Alchemisten bezeichnete Jung als Symbole des kollektiven
Unbewußten; Fabricius nennt es den vorgeburtlichen Bereich, mit
Freud könnte man vom primären Narzißmus sprechen. Fabricius zeigt,
daß die Symbole der Alchemisten weit über Jungs Entwürfe
hinausreichen: Sie lassen komplexe biologische Prozesse mit
traumatischen Durchgängen erkennen, die sich bei der Einnistung,
der Empfängnis, bei Teilung und Reifung der Keimzellen abspielen.
Die hieroglyphenartigen Symbole der Alchemisten, wie die heilige
Hochzeit von König und Königin, lassen sich als Darstellung
biologischer Wachstumsvorgänge entziffern.
Die Alchemisten entdeckten die Ursprünge der Triebe, auch von
seelischen Krankheiten. Interessant ist ihre Darstellung der
Melancholie, der Depression: Ein Alchemist sieht in einem Sarg
seinen Doppelgänger als Leiche, die dann wiederbelebt wird. Bei
jeder Verwandlung wird eine Todeserfahrung gemacht, auf die eine
Wiederbelebung folgt. Bei der Darstellung solcher Spaltungsprozesse
macht Fabricius den Vorschlag, die Schizophrenie als
«pathologischen Ausdruck des Individuationsprozesses« zu
untersuchen.
Die Alchemisten erkundeten nicht nur die Wurzeln von Leiden,
sondern auch die der Lust, der Verschmelzungslust im Orgasmus, auch
der damit verbundenen Inzestphantasien, deren große Bedeutung und
vorgeburtliche Herkunft Sandor Ferenczi erforschte. Die Alchemisten
kannten die mystischen Euphorien, die kosmischen Ekstasen, und
wußten etwas von deren Verwurzelung in biologischen Prozessen. Das
macht uns Fabricius vom heutigen Wissensstand aus einsichtig.
Die Alchemisten versuchten auch, den Tod zu begreifen; sie
schildern, wie sich Seele und Geist vom Körper ablösen und zu einer
göttlichen hermaphroditischen Einheit verschmelzen und in einen
transzendenten Körper verwandelt werden. Fabricius sieht darin die
vierte Phase des Individuationsprozesses. Diese rätselhaften
Phänomene erläutert er mit Parallelen aus den Forschungen über
Nahtoderfahrungen, wonach sich das Bewußtsein vom Körper trennt, zu
einem als göttlich empfundenen Lichtwesen aufsteigt und sich mit
ihm vereint. Das kann bei Unfällen, schweren Krankheiten, im
»luziden Traum« und bei LSD-Experimenten vorkommen.
Bedächtig, in nachvollziehbaren Schritten, doch in unbeirrbarer
Radikalität geleitet uns Fabricius in die Geheimwissenschaft der
Alchemie, in die Abgründe menschlicher Existenz, zu letzten Rätseln
des Daseins, des Abenteuers Schöpfung. Die Alchemie ist wohl auch
eine Verwandlung der Religion des Kreuzes in eine »Religion« der
Natur, der auch Goethe anhing und die die Grundlage des »Faust«
(dessen Held ein Alchemist ist) und der »Farbenlehre« bildet.
Die deutsche Ausgabe des Buches – ein großformatiger Band voller
faszinierender Bilder – das vorher auf Englisch, Französisch,
Italienisch, Japanisch erschien, wurde von Fabricius um die
Darstellung des Individuationsprozesses bei Goethe, Richard Wagner,
T. S. Eliot erweitert. »Diese Beispiele können darin unterstützen,
auch den Individuationsprozeß im eigenen Leben stärker
wahrzunehmen«, schreibt Ludwig Janus im Nachwort. »Mit
erstaunlicher Evidenz gelingt es heute, in Arrangements von
Regressionen in Gruppen sehr frühe Erfahrung aus dieser Anfangszeit
wieder lebendig werden zu lassen.«
Insofern kann das Buch auch zur Orientierung in der therapeutischen
Praxis dienen. Dabei geht es dann darum, den naturhaft ablaufenden
Individuationsprozeß mit der Dimension menschlicher Freiheit zu
verknüpfen, oder in Freuds Worten: um die Bewußtmachung des
Unbewußten.