Rezension zu Thomas Manns Geisterbaron
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Rezension von Christoph Fleischer
Der Wunsch, das Unfassbare zu verstehen
Rezension von Christoph Fleischer, Werl 2013
Der Titel des Buches »Thomas Manns Geisterbaron« trifft eher das
Interesse des Autors Manfred Dierks als Literaturwissenschaftler
und Thomas-Mann-Spezialist als den Inhalt des Buches insgesamt, der
durch den Untertitel anzeigt wird: »Leben und Werk des Freiherrn
Albert von Schrenck-Notzing«, denn es handelt sich schlicht um eine
Biografie des Arztes und Okkultisten Dr. Albert von
Schrenck-Notzing. Der Adelstitel »Freiherr« kann auch mit dem Wort
»Baron« wiedergegeben werden. Dr. Schrenck-Notzing stammt aus der
protestantischen Linie des bayerischen Adelsgeschlechts.
Diese Biografie zeichnet sich dadurch aus, dass sie die
Lebensbeschreibung zum Teil unterbricht, wenn keine Änderungen
erfolgen und stattdessen quasi als Exkurse Schilderungen
exemplarischer Begegnungen oder Kontext – Ereignissen oder Figuren
– einfügt. Die Erzählung ist, wie das Leben, das es schildert,
eingebunden in den ideengeschichtlichen und geistig-politischen
Kontext der damaligen Zeit, des ausgehenden 19. und beginnenden 20.
Jahrhunderts, und führt Leserin und Leser quasi wie in eine
Zeitreise dorthin. Umbrüche in der Medizin durch Elektrizität,
Röntgenstrahlen, Diagnostik und Psychoanalyse tauchen ebenso auf
wie die Erfindung des Automobils und des Flugzeugs, dazu die
Umstände des Todes des bayerischen Königs Ludwig in Bayern 1886,
die Kriegsbegeisterung 1914 und der Stimmungsumschwung danach, die
Zeit nach dem 1. Weltkrieg mit der beginnenden Demokratie, der
Staatskrisen, der Inflation und dem Aufkommen des
Nationalsozialismus.
Eine der »Rand«-Figuren, die dieser Lebensbeschreibung eine solche
Tiefe verleihen, ist der Nobelpreisträger Thomas Mann, der nach
seiner in Lübeck verbrachten Kindheit und Jugend zu seiner Mutter
nach München zog und dann auch nach seiner Hochzeit dort blieb.
Zuvor gehört der Fokus der Erzählung weitgehend der Hypnose, die
als Mittel der Therapie und der Erforschung psychologischer
Sachverhalte fungierte. Schrenck-Notzing bewährte sich als
Hypnosearzt und Publizist. Sein Spezialgebiet auf dem klinischen
Fachgebiet ist die »conträre Sexualität« (Homosexualität), die dann
als behandelbar galt, wenn sie nicht als angeboren bezeichnet
würde. Zur damaligen Zeit war es eine fortschrittliche Bestrebung,
Homosexualität als Krankheit darzustellen, da sie dann nicht
strafbar war. Im entsprechenden gesellschaftlichen Kontext wurde
dies auch entsprechend empfunden, so dass die Suggestionstherapie
Schrenck-Notzings entsprechenden Zulauf hatte.
Sehr ausführlich wird die Entstehung der unterschiedlichen
Behandlungsformen von Hypnose dargestellt, wobei die Suggestion
eine der erfolgreichsten war, da sie auch bei psychosomatischen
Krankheiten wie Migräne mit Erfolg eingesetzt wurde. Die Entdeckung
des Unterbewusstseins, mit dem der Hypnose-Therapeut arbeitet,
verdankt sich allerdings einer mehr metaphysischen Frage, nämlich
nach dem Vorhandensein einer transpersonalen seelischen Qualität
(Transzendentes), die etwa auch von der Religion oder der Mystik
gesehen wird, im Zusammenhang der Psychologie aber als
wissenschaftlich erklärbar galt.
Auf dem Gebiet der Parapsychologie ging es Arzt Schrenck-Notzing in
der weiteren Entwicklung darum, Beweise für eine Art
überindividuelle, im Materiellen funktionierende psychische
Wirklichkeit zu finden, die mittels geeigneter Medien vorgeführt
werden konnte. Seine Bücher waren auch reich mit Fotografien
illustriert. Die Ereignisse der Sitzungen wurden jeweils von einem
Expertengremium beglaubigt. Die Darstellung der Phänomene in extra
dafür veranstalteten Vorführungen war eine populäre Sache, die der
Verbreitung und dem Verkauf der Bücher zugutekam. Die erzählte
Biografie verknüpft das Interesse an der Person Schrenck-Notzings
mit unterschiedlichen Zeitströmungen und Ereignissen. Durch seine
Heirat war er dem aufkommenden Industriekapital verbunden. Der
erste Weltkrieg, die Inflation und die Staatskrisen gingen nicht
spurlos an ihm vorüber. Der aufkommende Nationalsozialismus gehörte
zu den Kritikern der Parapsychologie. Sie scheiterte letztlich aber
nicht, da sie vom Nationalsozialismus verboten wurde, sondern, da
sie auch wissenschaftlich an ihre Grenzen kam. Einen starken
Eindruck indes hat sie in der Literatur hinterlassen.
Der Autor Manfred Dierks lässt erst durch die ausführliche
Schilderung des Kontextes in der Entstehung von Literatur und der
dazu gehörigen Auffassung des Autors Deutungsmöglichkeiten der
Werke Thomas Manns aufscheinen. In diesem Zusammenhang geht er auf
den Roman »Der Zauberberg« ausführlicher ein, da dieser sowohl für
die Parapsychologie als auch für die sprachlichen Gestaltungen
bisexueller Einstellungen des Autors Thomas Mann exemplarisch zu
sein scheint.
Die Frage jedoch, ob eine Beurteilung eventueller Randphänomene
menschlicher Wahrnehmung im Sinn der Parapsychologie
naturwissenschaftlich belegt werden kann, muss letztlich bezweifelt
werden. Der zunächst nahe liegende Zusammenhang mit Esoterik und
Religionspsychologie, aber auch mit dem Spiel mit Effekten in Show
und Artistik ist zuletzt nicht zu ignorieren.
Die Biografie ist sorgfältig recherchiert, wofür die Anmerkungen
und das Literaturverzeichnis sprechen. Leserin und Leser vermissen
evtl. eine Kurzbiografie im Anhang als Lebenslauf.
Die Hypnose, deren Mitentwickler Schrenck-Notzing war, erlebt in
Heilpraktikerkreisen zur Zeit eine regelrechte Blüte. Insofern gibt
der Literaturwissenschaftler einen guten Ausblick in die
Weichenstellungen der Medizingeschichte, die ihm vielleicht heute
doch mehr verdankt, als das sein geschichtliches Scheitern erkennen
lässt.
Die Biografie jedoch endet mit der Schilderung des Todes von
Schrenck-Notzing im Jahr 1929 und mit der Erwähnung, dass im
gleichen Jahr Thomas Mann eine Hypnosesitzung beschrieben hat:
»Cipolla, der Hypnotiseur in der Novelle Mario und der Zauberer,
zwingt ein ganzes Saalpublikum unter die Fuchtel seiner
Suggestionen. Und ein letztes Mal spielt Thomas Mann hier mit der
Doppelheit des Geschlechtlichen« (S. 349). Und so kommt zum Schluss
dann doch der eigentliche Titel des Buches zu seinem Recht und die
Biografie des Hypnotiseurs entpuppt sich als Buch über Thomas Mann
und die Klärung seiner sexuellen Orientierung.
Christoph Fleischer, evangelischer Pfarrer in Westfalen, tätig in
Schuldienst und Seelsorge, Mitglied in der Gesellschaft für
evangelische Theologie und in der Dietrich Bonhoeffer
Gesellschaft.
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