Rezension zu Sozialpsychologie des Kapitalismus - heute
Erwachsenenbildung. Vierteljahresschrift für Theorie und Praxis 2/2013
Rezension von Johannes Schillo
POLITISCHE PSYCHOLOGE
Klaus-Jürgen Bruder, Christoph Bialluch, Benjamin Lemke (Hg.)
Sozialpsychologie des Kapitalismus – heute. Zur Aktualität Peter
Brückners
1972 legte der Hannoveraner Psychologie-Professor Peter Brückner,
der sich als Theoretiker der antiautoritären Bewegung verbunden
fühlte und wegen seines Engagements von der Politik gemaßregelt
wurde, seine Studie »Zur Sozialpsychologie des Kapitalismus« vor.
Vier Jahrzehnte später veranstaltete die Neue Gesellschaft für
Psychologie (NGfP) einen Kongress in Berlin, der sich der
Aktualität Brückners widmete – einer Aktualität, die, wie
NGIP-Vorsitzender Professor Klaus-Jürgen Bruder zur
Kongress-Einführung bemerkte, gerade nicht auf der Hand liegt, da
uns heute von den theoretischen Ansprüchen und Erwartungen der
68er-Bewegung ein großer zeitlicher oder generationeller Abstand,
ja eine »kulturelle Kluft« (Bruder) trenne. Diese Kluft zu
überbrücken und ein emanzipatorisches wissenschaftliches Erbe
anzutreten war die Absicht des Kongresses, dessen Ergebnisse jetzt
in dem angezeigten Sammelband dokumentiert sind.
Bei Brückner standen Fragen der politischen Psychologie, der
Herrschafts-Psychologie, im Vordergrund. »Massenloyalität« und
»Unterwerfungsverhalten« lauteten wichtige Stichworte seiner
Forschungen, und das aus der psychoanalytischen Theorie stammende
Begriffspaar von Ich-Schwäche und Ich-Stärke sollte eine
Perspektive für emanzipatorische Prozesse liefern, wobei der erste
Begriff für Anpassungsverhalten und der zweite für Protestkultur
stand. Dass sich dieses Verständnis mittlerweile grundlegend
gewandelt hat, macht Bruder im Vorwort des Sammelbandes deutlich:
Der »Arbeitskraftunternehmer«, das flexible, auf jede
Herausforderung eingestellte und mit einschlägigen
Handlungskompetenzen ausgestattete Individuum, gilt heute in seiner
Anpassungsfähigkeit an wechselnde Problemlagen als Ich-stark; wer
diese Funktionsfähigkeit vermissen lässt ist Ich-schwach, bedarf
der Hilfestellung von Therapie, Sozialpädagogik oder
Weiterbildung.
Gegen diesen neuen Konsens wollte der Kongress Position beziehen.
Der moderne Begriff des Subjekts habe die frühere Perspektive auf
Mündigkeit aufgegeben, und »die Rolle der Psychologie in dieser
Herstellung von Konsens, von Zustimmung zur Politik der Mächtigen,
ist unübersehbar. Sie begleitet in ihren Spielarten die
Gleichzeitigkeit der Aufblähung und Entwertung von Subjektivität.«
(Bruder) Rund zwei Dutzend Referenten und Referentinnen aus
Psychologie, Pädagogik, Sozial- und Medienwissenschaften, auch aus
der Erwachsenenbildung, thematisierten dies bei der Berliner
Zusammenkunft in vier großen Blöcken. Als erstes ging es um die
»Transformation der Demokratie«, die heute meist unter dem
Stichwort »Postdemokratie« abgehandelt wird. Der zweite Block
lautete »Überflüssige Bevölkerung«, Vorträge beschäftigten sich
z.B. mit Rassismus oder Inklusion. Dabei wurden auch Ergebnisse aus
der Begleitforschung zu Projekten der Jugend- und
Erwachsenenbildung vorgestellt.
Der dritte Block trug den Titel »Selbstsozialisation –
Unterdrückung in eigener Regie« und befasste sich mit Fragen nach
dem »notwendig falschen Bewusstsein über unsere Gesellschaft« (Uwe
Findeisen) oder nach dem »komplizierten Verhältnis zwischen
objektivem Zwang und subjektivem Wahn« (Josef Berghold). Der vierte
und letzte Block, »Empörung – Selbstfreisetzung« überschrieben, kam
dann auf Perspektiven einer »Befreiungspsychologie« (Klaus Weber)
zu sprechen. Hier gab es etwa einen Beitrag zur Occupy-Bewegung als
Versuch, »nicht vor dem vermeintlich je eigenen Elend zu
kapitulieren« (Juliko Lefelmann/Tom Uhlig). Im abschließenden
Beitrag von Christoph Jünke heißt es dann, dass man nicht bruchlos
an die Vergangenheit, für die Brückners Name steht, anknüpfen
könne. Aber so ganz verschieden sei die gegenwärtige Situation
nicht: »Auch heute wieder haben wir es mit einer Krise des
bürgerlichen Bewusstseins im Sinne Brückners zu tun. Auch heute
wieder haben wir es mit einer partiellen Revolte des bürgerlichen
Bewusstseins gegen diese Krise zu tun.«
Johannes Schillo