Rezension zu Die Ausnahme des Überlebens
Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 7/8 2006
Rezension von Volker Bendig
In den ersten Nachkriegsjahren wurde die Erinnerung an die
nationalsozialistischen Konzentrationslager in erster Linie durch
die Veröffentlichungen ehemaliger Häftlinge des NS-Lagersystems
wach gehalten. Zu nennen sind hier Autoren wie Engen Kogon (»Der
SS-Staat«, 1946), Viktor E. Frankl (»... trotzdem Ja zum Leben
sagen. Ein Psychologe erlebt das Konzentrationslager«, 1946) oder
Benedikt Kautsky (»Teufel und Verdammte. Erfahrungen und
Erkenntnisse aus sieben Jahren in deutschen Konzentrationslagern«,
1946). Zu diesen frühen Arbeiten, die eigene Erfahrungen der
Betroffenen mit sozialwissenschaftlich Orientierten Sichtweisen
verbanden, zählten auch die 1945/1946 geschriebenen Aufsätze des
österreichischen Sozialisten und Psychoanalytikers Ernst Federn
»Der Terror als System. Das Konzentrationslager« und »Versuch einer
Psychologie des Terrors«. In diesen Studien gelang Federn eine
psychoanalytisch orientierte, eindringliche Beschreibung und
Analyse der Strukturen der Konzentrationslager und der
psychologischen Extremsituation, der die Häftlinge in den Lagern
ausgesetzt waren. Ähnlich wie Bruno Bettelheim, den er im KZ
Buchenwald kennen gelernt hatte, versuchte Federn eine Deutung der
Psychologie des KZ-Terrors.
Der österreichische Historiker und Gymnasiallehrer Bernhard Kuschey
hat nun mit dem vorliegenden zweibändigen Werk eine umfangreiche
biografische Studie über Ernst Federn vorgelegt. Der Schwerpunkt
der Darstellung liegt dabei auf der Rekonstruktion von Federns
Haftzeit und seinem Überlebenskampf in den Konzentrationslagern
Dachau und Buchenwald. Auf diese Weise möchte der Autor vor allem
»die Dramatik individueller Überlebenskämpfe in Konfrontation mit
dem bedrängenden Gewaltsystem« der NS-Diktatur verstehbar machen
(S. 53). Kuschey stützt sich dabei vor allem auf zahlreiche
lebensgeschichtliche Interviews, die er mit Ernst Federn und seiner
Frau in den 1980er- und 1990er-Jahren geführt hat. Neben diesem,
mit den Methoden der »oral history« gewonnenen Quellenmaterial wird
aber auch eine beachtliche Menge von Archivalien,
Erinnerungsliteratur und wissenschaftlichen Veröffentlichungen
herangezogen. »Prinzip meiner Darstellung ist die kommunikative
Verknüpfung der Erfahrungen und Erkenntnisse der Federns, der
wissenschaftlichen und lagerbiographischen Literatur und meiner
Interpretationen« (S. 33).
Ernst Federn wurde 1914 als Sohn einer assimilierten jüdischen
Familie in Wien geboren und politisch im linken
sozialdemokratischen Milieu des »Roten Wien« der zwanziger Jahre
sozialisiert. Der Sieg des autoritären österreichischen
Ständestaates nach den Februarkämpfen von 1934 zwang den jungen
Studenten und Sozialisten in die Illegalität. Zweimal wurde er in
den Jahren 1936/1937 kurzzeitig verhaftet. Nach dem »Anschluss«
Österreichs an das Deutsche Reich im März 1938 fiel er der Gestapo
in die Hände, die ihn am 24. Mai 1938 in das Konzentrationslager
Dachau verschleppte. In Dachau bekam Federn – als »Jude«
kategorisiert – einen ersten Einblick in das »LUnivers
Concentrationnaire«, in dessen Zwangsstruktur er sich in den
folgenden Jahren behaupten musste.
Nach vier Monaten Haft in Dachau gelangte Federn im September 1938
in das KZ Buchenwald, in dem er bis zur Befreiung durch
amerikanische Truppen im April 1945 inhaftiert war. Von 1942 an
wurde er als Bauhilfsarbeiter in verschiedenen Arbeitskommandos
eingesetzt. Es gelang ihm durch seinen Einsatz in der
»kriegswichtigen Produktion«, einer Deportation in die
Vernichtungslager zu entgehen. Als bekennender Trotzkist war er
zeitweise durch die kommunistisch dominierte
Häftlingsselbstverwaltung gefährdet.
Während der Zeit seiner KZ-Haft wurde Federn von seiner Verlobten
Hilde Paar mit Geld- und Paketsendungen unterstützt, die damit
entscheidend zu seinem Überleben beitrug. Nach seiner Befreiung aus
dein Konzentrationslager Buchenwald heiratete er Hilde Paar und
ging mit ihr in die USA, wo er bis Anfang der siebziger Jahre als
Psychotherapeut arbeitete. 1972 kehrte er nach Österreich zurück
und war bis in die neunziger Jahre in der psychoanalytischen
Pädagogik und Sozialarbeit tätig.
Trotz Überlängen in der Darstellung gelingt Kuschey eine
eindrucksvolle Beschreibung des Gewaltsystems KZ aus der Sicht
eines betroffenen Häftlings. Im Zusammenhang mit der Rekonstruktion
von Federns Leidensweg durch die Konzentrationslager Dachau und
Buchenwald werden zahlreiche Aspekte wie der Lageralltag, das
Funktionshäftlingssystem und das Verhältnis der Häftlingsgruppen
untereinander eingehend thematisiert. Auf diese Weise trägt Kuschey
ein Stück weit zum Verständnis der Komplexität von Lebens- und
Überlebensbedingungen in den nationalsozialistischen
Konzentrationslagern bei.