Rezension zu Politische Psychologie heute?
Journal für politische Bildung, 3/2013
Rezension von Klaus Ahlheim
Subjektive Bedingungen objektiver Irrationalität
Markus Brunner/Jan LohI/RoIf Pohl/Marc Schwietring/Sebastian Winter
(Hrsg.), Politische Psychologie heute? Themen, Theorien und
Perspektiven der psychoanalytischen Sozialforschung. Gießen
(Psychosozial) 2012, 371 S., 36,90€.
»Warum brauchen die Sozialwissenschaften die Psychoanalyse?«, fragt
Lilli Gast, Professorin an der International Psychoanalytic
University Berlin (IPU), am Anfang des Bandes, dessen Beiträge auf
eine Tagung der Arbeitsgemeinschaft Politische Psychologie an der
Leibniz Universität Hannover im Jahre 2009 zurückgehen, und schlägt
damit den Ton der folgenden Beiträge an. Sie mögen dem
politikwissenschaftlichen und noch mehr dem politikdidaktischen
Mainstream eher fern und fremd erscheinen, obwohl manches, was in
diesem Band geschrieben steht, ins Zentrum des politikdidaktischen
Nachdenkens über das Subjekt des Lernens, das aktuell so gern
beschworen wird, führt. Es sei ja, so Gast, schon das
Gründungsanliegen des Frankfurter Instituts für Sozialforschung
gewesen, »der Irritation auf die Spur zu kommen, die durch den
Befund ausgelöst wurde, dass die Verfasstheit des
gesellschaftlichen Subjekts nicht ohne Weiteres durch die Umstände
und sozialen Bedingungen, in denen es sich befand, erklärbar war«.
Das habe zu der Forschungsfrage geführt, »wie sich
gesellschaftliche Machtstrukturen in die innerste Textur
einschreiben, welchen Niederschlag die objektiven Verhältnisse,
etwa im Selbstverständnis der Subjekte, finden«. Und spätestens mit
Adornos Diktum, im Innersten des Subjekts treffe man unweigerlich
und unvermeidlich auf Gesellschaftliches, sei ein Perspektivwechsel
verbunden, die Etablierung nämlich der psychoanalytischen Denkweise
als wichtiges Instrument im Kontext kritischer
Gesellschaftsanalyse. Warum die Sozialwissenschaften die
Psychoanalyse brauchen? Vor allem, so Gast abschließend, »weil
psychoanalytisches Denken nicht nur sich selbst, sondern auch die
Sozialwissenschaften davor schützt, vom Augenschein überwältigt zu
werden und vor dem ›Absolutismus der Wirklichkeit‹ ... zu
kapitulieren«.
Unbedingt lesenswert, weil einem gängigen (Vor-)Urteil
widersprechend, ist auch der Beitrag der Münchner Soziologin und
Psychoanalytikerin Gudrun Brockhaus »Ein unterschätzter Klassiker:
The Authoritarian Personality«. Zwar sei, so Brockhaus, den 1950
erschienenen Studien von Adorno u.a. zur »Autoritären
Persönlichkeit« schnell der Status eines Klassikers zugeschrieben
worden, jedoch sei ihr »psychoanalytisch-sozialwissenschaftlicher
Ansatz bis heute unterschätzt und nicht ernst genommen«. Also
buchstabiert die Autorin Forschungsansatz und (kritische)
Rezeptionsgeschichte noch einmal durch und hält als noch immer
einleuchtendes, aktuell bedeutsames Ergebnis der Studien die
»emotionale(n) Determinanten der Faschismusanfälligkeit« fest.
»Faschismus«, so hatte es Adorno in den Studien auf den Begriff
gebracht, »muß, um als politische Bewegung erfolgreich zu sein,
eine Massenbasis haben. Er muß sich nicht nur die angstvolle
Unterwerfung, sondern auch die aktive Kooperation der großen
Mehrheit des Volkes sichern«, er müsse deshalb, weil das durch
rationale Argumentation nicht gehe, »in erster Linie an emotionale
Bedürfnisse... appellieren«.
Es ist schwer, hier auf alle Beiträge einzugehen. Allein schon die
Namensliste der Autorinnen und Autoren liest sich stellenweise wie
ein kleines »Who is Who« der hiesigen psychoanalytischen
Sozialforschung: neben Brockhaus, Gast und den Herausgebern Karola
Brede, Hans-Joachim Busch, Guido Follert, Isabelle Hannemann, Anke
Kerschgens, Christine Kirchhoff, Hans-Dieter König, Julia König,
Alfred Krovoza, Mihri Özdogan, Samuel Salzborn, Christoph H.
Schwarz, Greta Wagner und Michael Zander. Und Programm und
Programmatik, schon der Tagung von 2009 und des jetzt erschienenen
Bandes, sind angesichts des rechten Terrors und eines verbreiteten
Ethnozentrismus in der verunsicherten gesellschaftlichen Mitte von
hoher Aktualität. »Gesellschaftspolitisch brisante Phänomene«, so
heißt es im Klappentext, »wie Antisemitismus, Rechtsextremismus und
Jugendgewalt sind ohne eine Analyse ihrer unbewussten Dynamiken
nicht zu verstehen. Den ›subjektiven Bedingungen der objektiven
Irrationalität‹ (Adorno) nachzuspüren, gehört seit ihren Anfängen
zu den zentralen Aufgaben der psychoanalytisch orientierten
Politischen Psychologie.« Politikdidaktiker und -didaktikerinnen
müsste doch angesichts solcher Aufgabenstellung, ohne die ja auch
wirklich kritische Gesellschaftsanalyse nicht funktionieren kann,
die Leselust überkommen!
Klaus Ahlheim