Rezension zu Ira - Wut und Zorn in Kultur und Literatur
Wege zum Menschen. Zeitschrift für Seelsorge und Beratung, heilendes und soziales Handeln Juli/August 2013
Rezension von Herman Westerink
Bozena Anna Badura & Kathrin Weber (Hg.): Ira – Wut und Zorn in
Kultur und Literatur
Sind Wut und Zorn Ausdruck wichtiger Triebkräfte, um auf die Welt
einzuwirken oder handelt es sich hier um Verirrungen, vielleicht
sogar um Sünden? Inwiefern können Wut und Zorn fruchtbar gemacht
werden in der Kultur, oder führen beide immer auch zu
gefährlichen, irrationalen, antisozialen und rücksichtslosen
Grenzüberschreitungen? Welche Spielarten von Zorn und Wut finden
wir in der Literatur, und wie sind Wut und Zorn kulturell kodiert?
Dies sind einige der wichtigsten Fragen in den von Bozena Anna
Badura und Kathrin Weber versammelten Beiträgen, in denen die
Psychoanalyse den gemeinsamen Hintergrund für die Erörterungen
bildet. Die psychoanalytische Perspektive bezieht sich primär auf
die Aggression als Triebkraft, so wie diese von Freud erstmals
thematisiert und in den späteren Objektbeziehungstheorien (Klein,
Winnicott) weitergedacht wurde. Die Autorin der Einleitung, Lilith
Jappe, schreibt, dass diese Perspektive nicht unproblematisch ist,
weil die psychoanalytische Theoriebildung zu den Emotionen Wut und
Zorn mangelhaft sei. Das ist in der Tat ein nicht geringes Problem.
Jonathan Lear, einer der wichtigsten Freudexperten der Gegenwart,
hat mehrmals darauf hingewiesen, dass es der Freud’schen
Psychoanalyse an einer Theorie der Aggressivität fehle. Wer Freuds
Fallstudie über den Rattenmann oder auch »Das Unbehagen in der
Kultur« aufmerksam liest, wird sich über die mangelhafte
Ausdifferenzierung von Begriffen wundern. Die bei Freud klar
erkennbare Tendenz, Phänomene wie Hass, Aggression, Zorn, Neid,
Wut, usw. kaum zu definieren und in ihrer Unterscheidung zu
präzisieren, hat in den späteren psychoanalytischen
Theoriebildungen Spuren hinterlassen.
Obwohl also die Psychoanalyse den gemeinsamen Hintergrund in den
Einzelbeiträgen bildet, ist es wenig überraschend, dass sie doch
letztendlich nur eine untergeordnete Rolle spielt. Stattdessen
widmen sich im ersten Teil des Bandes drei umfangreiche Beiträge
dem Phänomenen Zorn und Wut aus historischer, psychologischer und
narratologischer Perspektive. Dieser Teil setzt mit einer dichten
Kulturgeschichte des Zorns von der antike bis zur Gegenwart ein.
Die Autorin, Kathrin Weber, fokussiert in diesem Beitrag auf die
immer wieder zum Vorschein tretende Spannung zwischen Faszination
für die in Zorn und Wut von Individuen und Gruppen freigesetzten,
teilweise unberechenbaren und erschreckenden, Energien einerseits
und dem gesellschaftlichen Bedürfnis, diese Energien unter
Kontrolle zu bringen und/oder abzulenken andererseits. Sie betont
dabei allerdings, dass die Bestimmung von Zorn und Wut und die
entsprechenden Kodierungen stark vom kulturellen Kontext abhängig
sind. Schon bei klassischen Autoren findet man sehr
unterschiedliche Konzeptualisierungen von Zorn und Wut, je nachdem,
ob Zorn als Regulator in der Polis gewürdigt (Aristoteles) oder
als Aspekt verworrener Machtkonflikte betrachtet wird (Seneca).
Hier und auch in der späteren abendländischen Kultur ist die
Bewertung von Wut und Zorn aufs engste verbunden mit
Menschenbildern, mit gesellschaftlichen Einrichtungen und
Entwicklungen. Im Mittelalter: Zorn als Untugend und Todsünde,
aber auch Zorn als göttliches und gerechtes Instrument zum Erhalt
des Christentums und der Kultur. In der frühen Neuzeit: ein
verstärktes Interesse an biblischen Vorstellungen von Wut und
Zorn, eine Faszination mit Strafe, aber auch ein zunehmendes
Interesse an Zorn in der Melancholie. Ab Descartes und in der
Aufklärung: eine zunehmende Erforschung der physiologischen und
psychologischen Quellen von Zorn und Wut sowie deren Kontrolle
durch Vernunft und bürgerliche Moral. Im 19. Jahrhundert:
zunehmendes Interesse an der biologischen Disposition des Menschen
und der dazu gehörenden Aggressivität. Seit den 1960er Jahren:
Zorn und Wut als Aspekte des menschlichen Benehmens im Zusammenhang
mit narzisstischen Störungen und Selbstfragmentierung, bis hin zu
sinnloser Gewalt.
Ching-Ho Chuang beschäftigt sich mit dem Phänomen des Zorns und
auch der Aggression aus empirisch psychologischer Sicht. Die
zentrale Frage in dem Beitrag dieser Autorin ist, inwieweit Zorn
und Wut als kulturell unabhängig gesehen werden können, wenn man
die biologischen Grundlagen mit einbezieht. Sie zeigt aufgrund
psychologischer Forschungen, dass Zorn und Wut stark sozialisierte
Phänomene sind und dass die Universalität und Homogenität dieser
Phänomene darum bezweifelt werden kann. Bozena Anna Badura fragt
in ihren Beitrag nach den typischen Gestalten des Zorns und der Wut
in unserer Literatur. auffallend ist die positive Wertung des Zorns
in der Gestaltung von Helden, Rebellen, Herrscher- und Vaterfiguren
und die überwiegend negative Typologie des weiblichen Zorns: von
dämonischer Zauberin bis zur Femme fatale.
Im zweiten Teil des Bandes stehen Einzeluntersuchungen zu Zorn- und
Wutdarstellungen in der Literatur im Fokus. In den Beiträgen von
Tillmann Kreuzer, Kathrin Weber, Bozena Anna Badura und Torsten Voß
werden nacheinander Zorn in ausgewählten Märchen und Sagen
(»Rumpelstilzchen«, »Schneeweißchen und Rosenrot«, »Medea«), Zorn
in der französischen Lyrik des Barock (mit starker Betonung der
Zerstörungskraft und des ordnungsbedrohenden Charakter des Zorns
und der Wut), Zorn in den literarischen Werken von Heinrich von
Kleist (z. B. »Michael Kohlhaas«), und ein Vergleich zwischen
Herman Melvilles »Moby Dick« und des Science-Fiction-Films »Star
Trek II: Der Zorn des Khan« dargestellt.
Statt einer abschließenden theoretischen Zusammenfassung,
beschränkt sich dieser Band – aus guten Gründen – auf das
Aufzeigen von Spannungsfeldern in verschiedenen kulturellen
Konstellationen. Zorn und Wut werden, je nachdem, aufgefasst als
natürlich oder widernatürlich, eine Bedrohung für Ordnung oder
eine schöpferische Kraft, die eine Bedrohung für die individuelle
Existenz oder eine Unterstützung in der Selbstentwicklung sein
kann. Dieses Aufzeigen von Spannungsfeldern ist in diesem Buch sehr
überzeugend gelungen. Etwas schwierig ist die Verschränkung einer
überwiegend kulturhistorischen Perspektive mit der Psychoanalyse:
einen kritischen Beitrag über psychoanalytische Theoriebildung zum
Thema Zorn und Wut im kulturellen Kontext hätte sich meines
Erachtens gut in den Band einfügen lassen. Was auch ein bisschen
fehlt, ist eine Darstellung und Analyse der Gestalten des Zorns und
der Wut in der Gegenwart: Zorn und Wut in den Medien, in
Computerspielen, in der Werbung, usw. Dennoch ist dieses Buch für
alle, die sich für eine der grundlegendsten Triebkräfte und
Emotionen interessieren, sehr zu empfehlen.
PD Dr. Herman Westerink