Rezension zu Scham (PDF-E-Book)
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Rezension von Elisabeth Vanderheiden
Jens L. Tiedemann: Scham
Thema
Ausgangsthese des Buches ist die Annahme des Autors, dass Scham und
die daraus resultierenden Konflikte Menschen in vielfältiger Weise
belasten und Lebensfreude, Selbstwert und Beziehungen
beeinträchtigen, denn in der Scham erfahre das Individuum eine
Infragestellung und Bedrohung von sozialer Akzeptanz.
Als Psychoanalytiker versteht der Autor Scham vor allem als Quelle
von Widerstand, Verstrickungen und Übertragungen. Aus
psychotherapeutischer Sicht interpretiert er die wichtigen –
psychoanalytischen – Schamkonzepte und ihre klinischen Aspekte.
Autor
Der Autor Jens L. Tiedemann ist Psychologe und als Psychotherapeut
in eigener Praxis in Berlin-Kreuzberg tätig. Er beschäftigte sich
bereits in seiner Dissertation intensiv mit dem Thema Scham. Als
psychologischer Psychotherapeut und Körperpsychotherapeut
(Tiefenpsychologische Körpertherapie) war er in Sucht- und
Psychosomatik-Klinken in Berlin und im Berliner Umland tätig. Seine
Arbeits- und Forschungsschwerpunkte sind u. a.: Schamkonflikte in
der Psychotherapie, Relationale und intersubjektive Psychoanalyse,
Integration in die tiefenpsychologisch orientierte
Psychotherapie.
Inhalt und Aufbau
Das Buch umfasst neben Einleitung bzw. dem Literaturverzeichnis die
folgenden Kapitel:
1. Zur Entstehung psychoanalytischer Schamkonzepte
2. Schamkonflikte aus Sicht heutiger Psychoanalyse
3. Schamkonflikte in der klinischen Praxis
4. Psychotherapie von Schamkonflikten
5. Zwischen Taktgefühl und Mut
Zur Schambearbeitung – Schlussbemerkung.
Exemplarisch soll hier Kapitel 1 Zur Entstehung psychoanalytischer
Schamkonzepte vorgestellt werden. Das genannte Kapitel fokussiert
auf drei Aspekte:
1. Freuds Schamauffassungen
2. Freuds »blinder Schamfleck«
3. Psychonanalytische Schamkonzepte in der Folge Freuds.
Zunächst skizziert der Autor Freuds vier Schamauffassungen, dabei
bedauert er, dass Freud keine eigene konsistente Schamtheorie
entwickelt hat (S. 15). Er führt aus, dass Freud Scham vor allem
als Motiv für Abwehr bzw. als interpersonalen Affekt verstanden
habe. Freud habe Scham »phylogenetisch und ontogenetisch reaktiv,
hemmend und verbietend, dem Lustprinzig entgegengestellt« (S. 14)
interpretiert, was dazu führe, dass der Menschen »sich selbst
bestimmte (natürliche Verhaltensweisen verbiete.« (S.14). Zugleich
verstehe Freud Scham als »Macht, welche der Schaulust
entgegensteht, aber auch als Abwehr gegen (Partial-)Triebe, wie z.
B. dem Exhibitionismus« (S. 15 und 16). Dabei hat sich im Laufe
seines Lebens Freuds Verständnis der Scham durchaus verändert, so
formulierte er nach der Entwicklung der Strukturtheorie, dass durch
das »Ich-Ideal« die Scham mit dem Über-Ich verbunden werde (S. 16).
Später stellte er Scham immer stärker in den Zusammenhang, dass die
Scham als »explizit weibliche Eigenschaft« mit dem Wunsch verbunden
sei, »den Defekt des Genitals zu verdecken« (S. 17).
Freuds Schamauffassung fasst der Autor wie folgt zusammen (S.
17):
1. »eindeutig als Affekt innerhalb eines sozialen Kontextes und
setzt sie mit der Angst vor Berwertung gleich,
2. als ein Motiv für Abwehr, das heißt als affektive Erfahrung,
3. Als eine Methode der Abwehr, als Reaktionsbildung im Dienste der
Verdrängung sowie
4. In Verbindung zum Narzissmus und zu Idealen.«
Da Freud der Scham weder in seinen Schriften noch in seinem
therapeutischen Handeln besondere Bedeutung beimaß, spricht
Tiedemann von Freuds »blindem Schamfleck« (S. 18ff), der nicht nur
eine professionelle, sondern möglicherweise auch persönliche
Dimension gehabt habe. So habe Freud Scham eher als »primitiveres«,
Schuld eher als »edleres« oder »reiferes« Gefühl interpretiert (S.
19).
Für die fast schon traditionelle Vernachlässigung der Scham im
psychoanalytischen Denken und Handeln führt der Autor drei
interessante Gründe an (S. 20):
• »zum einen habe die Psychoanalyse lange Zeit übersehen, dass die
Scham eine wichtige Rolle im Hinblick auf die Regulation von
Bindungen und sozialen Beziehungen habe.
• zum Zweiten tritt die Scham und ihr Einfluss in der Regel in eher
verschleierter Form zutage.
• zum Dritten gelte es zu berücksichtigen, dass »Scham einen nicht
zu unterschätzenden unbewußten Druck auf Psychotherapeuten ausübt,
der dazu verleitet, dieses zutiefst unangenehme und ansteckende
Gefühl im klinischen Setting mit den Patientinnen und Patienten
umzugehen« (S. 20).
Interessant ist auch Tiedemanns Hinweis, dass möglicherweise Freuds
eigene Schamverletztlichkeit zur Vernachlässigung des
Schambegriffes beigetragen haben mag (S. 20): »Es könnte sein, dass
Freuds niederdrückende Angst und Schuld in Bezug auf die ödipalen
Konflikte mit seiner Unfähigkeit erklärt werden könnte, die eigenen
Schamkonflikte zu erkennen.« (S. 21). Er verweist darüber hinaus
auf weitere Aspekte, die auf Freuds Schamvulnerabilität verweisen
könnten, etwa Freuds Herkunft aus eher ärmlichen Verhältnissen,
seine belasteten Beziehungen zu vielen männlichen Kollegen, seine
Angstsymptomatik, seine sexuellen Störungen, Freuds Kokainsucht
oder seine Krebserkrankung (S. 22).
Auch in der Nachfolge Freuds gewann die Auseinandersetzung mit dem
Schambegriff nicht unbedingt an Bedeutung. Erst Erikson misst der
Scham ab ca. 1970 entwicklungspsychologisch größere Bedeutung zu:
er datiert die Entstehung von Scham in das zweite Lebensjahr und
ordnet sie neben Zweifel und Autonomie ein: »der Zweifel ist der
kleine Bruder der Scham« (S. 23).
Gerhart Piers und Milton B. Singer differenzierten in der Mitte der
50er Jahre erstmalig systematisch Schuld und Scham voneinander;
Helen Lynd führte dies weiter und wies dabei auf die »globalere
Qualität« der Scham im Vergleich zur Schuld hin und entwickelte die
These, dass es von zentraler Bedeutung von für das Gefühl von
Identität und Freiheit sei, sich der Scham zu stellen und sie zu
transzendieren (S. 25). In den 70er Jahren führte dies Helen Block
Lewis weiter, die herausarbeitete, dass Scham im Vergleich mit
Schuld »eine weniger differenzierte, irrationalere, primitivere,
wortlosere Reaktion« darstelle und nur wenig kognitiven Inhalt habe
(S. 26).
Ergänzend führt Tiedemann in die Ansätze von Heinz Kohout und
Francis J. Broucek ein, die Scham vor allem im Kontext
narzisstischer Persönlichkeitsstörungen diskutiert haben. Broucek
nimmt an, dass sich Schamerlebnisse bereits zwischen dem 18. und
24. Lebensmonat einstellen und sich aus dem Erleben der eigenen
Wirkungslosigkeit ergeben, aber auch im Zusammenhang mit der
Vergegenständlichung stehen, also in den Momenten entstehen, in den
das Kind seine Mutter als Fremde wahrnimmt.
Léon Wurmser hat sich seit den 90er Jahren des letzten Jahrhunderts
intensiv mit der Scham aus psychoanlaytischer Sicht befasst und
diskutierte Scham vor allem im Zusammenhang mit den Dimensionen
Macht und Ohnmacht und analysierte insbesondere die
intrasubjektiven Aspekte der Scham.
Diskussion und Fazit
Während in vielen Disziplinen bei der Auseinandersetzung mit dem
Schambegriff eher die Ressourcen in den Blick nimmt, die sich für
Menschen daraus auch ergeben können, so verlässt der Autor den
psychoanalytischen Diskussionskontext kaum. Die Psychoanalyse ist
ja eher bekannt für ihre Problemzentrierung denn ihre
Ressourcenorientierung. So lautet auch bereits der Satz des Buches:
»Scham ist ein Problem, dessen Existenz von der Psychotherapie und
Psychoanalyse stillschweigend hingenommen, jedoch von vielen
Therapeuten unterschätzt wird.« (S. 7).
Es ist Tiedemann positiv anzurechnen, dass er sich (erneut) der
Schamdebatte stellt und einen weiteren Beitrag zu Enttabuisierung
des Themas in der Psychoanalyse bzw. sogar einen anderen Umgang mit
Scham in der Analyse forcieren will, gerade im Hinblick auch auf
ihre schützenden und durchaus auch positiven Funktionen im Sinne
von Léon Wurmsers Credo: »Scham ist die Hüterin der menschlichen
Würde«. Zurecht fordert er seitens der TherapeutInnen
Schamsensibiliät ein und besonderen Takt in Schamsituationen und
mit »Schambarrieren«. Sein Buch will definitiv zu einem sensibleren
und respektvolleren Umgang mit Scham in der Therapie und Analyse
motivieren, gerade weil diese von vielen PatientInnen als
grundlegender »Defekt« empfunden wird. In Anlehnung an Wurmser
fordert er TherapeutInnen zu Takt im Sinne größtmöglicher Achtung
gegenüber PatientInnen in Schamsituationen auf.
Ein interessantes und lesenswertes Buch für TherapeutInnen, auch
über psychoanalytische Kontexte hinaus.
Rezensentin:
Elisabeth Vanderheiden
Pädagogin, Germanistin,
Mediatorin; Geschäftsführerin der Katholischen Erwachsenenbildung
Rheinland-Pfalz, Leitung zahlreicher Projekte im Kontext von
beruflicher Qualifizierung, allgemeiner und politischer Bildung;
Herausgeberin zahlreicher Publikationen zu Gender-Fragen und
Qualifizierung pädagogischen Personals, Medienpädagogik und
aktuellen Themen der allgemeinen berufliche und politischen
Bildung.
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