Rezension zu Es war nicht deine Schuld
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Rezension von Ariane Schorn
Juliane Jelinski: Es war nicht deine Schuld
Thema
Menschen, die sexuellen Missbrauch im familialen Umfeld erlitten
haben, entwickeln häufig starke Schuldgefühle, die mit einem
negativen Selbstbild einhergehen und großen Leidensdruck erzeugen.
Die Autorin geht in ihrer Arbeit darum drei Fragen nach: Wodurch
entsteht das Schuldgefühl? Welche Auswirkungen oder vielmehr
Auswirkungszusammenhänge hat das Schuldgefühl? Was schließlich kann
dazu beitragen, das Schuldgefühl zu überwinden bzw. sich aus dem
entwickelten Schuldweltbild zu befreien? Um den genannten Fragen
auch empirisch nachgehen zu können, hat die Autorin
halbstrukturierte-leitfadenorientierte Tiefeninterviews
durchgeführt, deren Auswertung in Anknüpfung an einen
psychodynamisch-psychotraumatologischen Theoriehintergrund
vorgestellt wird. Ziel der Untersuchung war, die Erlebens- und
Erfahrungswelt von Missbrauchsopfern tiefer verstehen zu können und
die so gewonnen Einsichten für die Verbesserung der therapeutischen
Arbeit mit Betroffenen innerfamiliären Missbrauchs fruchtbar zu
machen.
Aufbau und Inhalt
Das vorliegende Buch gliedert sich in einen Theorieteil (Kapitel 1
und 2), einen Methodenteil (Kapitel 3 und 4), einen Ergebnisteil
(Kapitel 5 und 6) und einen Diskussionsteil (Kapitel 7, 8 und
9).
Im Theorieteil wird zunächst in Anlehnung an Fischer und Riedesser
(2003)1 entfaltet, was unter einem Trauma verstanden wird.
Dargelegt wird weiterhin das Verlaufsmodell der psychischen
Traumatisierung. Anschließend wird ein Überblick über den aktuellen
Forschungsstand im Hinblick auf Entstehung und Psychodynamik von
Schuldgefühlen bei Opfern von innerfamiliärem sexuellem Missbrauch
gegeben.
Im Methodenteil des Buches wird die gewählte Forschungsmethodik
sowie die Durchführung und Auswertung der Untersuchung transparent
gemacht.
Im Ergebnisteil, der den inhaltlichen Schwerpunkt des Buches
ausmacht, wird zunächst die vertikale Auswertung von sechs
ausgewählten Interviews vorgestellt. Solcherart »Fallanalysen«
zielen auf eine detaillierte und in die Tiefe gehende
Interpretation des Mitgeteilten ab und vermögen insofern in
besonderer Weise auf die komplexe Dynamik eines jeweiligen »Falles«
einzugehen. Das daran anschließende Kapitel setzt sich in einer
horizontalen Perspektive mit den durchgeführten Interviews
auseinander und arbeitet durch den fallübergreifenden
systematischen Vergleich Überindividuelles bzw. Typisches im
Hinblick auf die zu klärende Fragestellung heraus.
Im letzten Teil des Buches (Diskussionsteil) werden die zentralen
Ergebnisse der Untersuchung noch einmal zusammenfassend diskutiert
und in ein Verhältnis zu den im Theorieteil vorgestellten Befunden
gesetzt. Abschließend werden daraus abgeleitete Überlegungen und
Empfehlungen zur therapeutischen Arbeit mit Frauen, die von
innerfamiliärem sexuellem Missbrauch betroffen sind,
vorgestellt.
Diskussion
Über das Thema innerfamiliärer sexueller Missbrauch und die
verheerenden Folgen für die davon Betroffenen ist bereits viel
geschrieben worden. Insofern könnte man vielleicht zunächst einmal
denken: Ein weiteres Buch, das sich mit den Folgen sexuellen
Missbrauchs in der Kindheit befasst, macht das Sinn? Um es zunächst
kurz zu fassen: Es macht! Das vorliegende Buch ist eine
lesenswerte, fachliche Bereicherung, wobei sich die Entscheidung,
den Focus auf das Thema »Schuldgefühle« zu legen, als besonders
fruchtbar erweist.
Das Buch besticht durch einen klaren Aufbau, eine gut lesbare
Sprache und das Vermögen der Autorin, komplexe Zusammenhänge und
komplizierte Sachverhalte anschaulich auf den Punkt zu bringen.
Dies wird besonders im »Theorieteil« deutlich, in dem die
Leserin/der Leser auf den Stand der wissenschaftlichen Diskussion
gebracht und in anspruchsvolle Theoriezusammenhänge eingeführt
wird, die für Menschen, die mit Missbrauchsdynamiken nicht
psychotherapeutisch befasst sind, mitunter schwer nachvollziehbar
sein dürften (z.B. der Mechanismus der »Identifizierung mit dem
Angreifer«). Eben diese Zusammenhänge erhellen sich in dem
empirischen Material, das in Jelinskis Buch vorgestellt wird. Die
Interviewausschnitte wie deren sensible Interpretation geben einen
tiefen Einblick in die Erlebnis- und Gefühlswelten von Opfern
sexuellen Missbrauchs und eröffnen hilfreiche Verstehenszugänge zu
den mit der Missbrauchserfahrung verbundenen psychodynamischen
Prozesse. Beeindruckend ist, dass und wie es der Autorin gelingt,
nachvollziehbar auch latente Dynamiken des Missbrauchsgeschehen zu
erschließen, d.h. Zusammenhänge, die dem Bewusstsein der
Interviewpartnerinnen nicht unmittelbar zugänglich sind.
Lesenswert ist das Buch auch aus einer anderen Perspektive: Wer
sich für qualitative Forschung interessiert, findet hier ein
Best-practice-Beispiel. Das vorliegende Buch vermag auch durch die
deutlich werdende Qualität und Sorgfalt der durchgeführten
Untersuchung zu beeindrucken. Tiefeninterviews mit traumatisierten
Menschen durchzuführen, können ethisch betrachtet insofern heikel
sein, als die dadurch aktualisierten Gefühle sehr belastend sein
und u.U. die Interviewten überfordern können. Dass die Autorin
diese Problematik im Blick hatte, zeigt sich auch an der Auswahl
der Stichprobe: Die in Frage kommenden InterviewpartnerInnen
sollten eine Beratung oder Therapie wahrgenommen haben bzw. sich
noch in einer solchen befinden. Die Interviewpartnerinnen wurden
weiterhin im Anschluss befragt, wie sie das Gespräch erlebt haben
und wie es ihnen nun geht. Die Bitte um Feed-Back hatte die
Funktion eines möglichen Korrektivs für die Interviewerin, die
Frage nach dem gefühlsmäßigen Zustand sollte die erlebte Belastung
abschätzbar machen. Den Interviewpartnerinnen wurde ferner die
Möglichkeit eröffnet, mit der Interviewerin gegebenenfalls wieder
Kontakt aufzunehmen. Im Anhang des Buches ist das Feedback der
Interviewten, das mündlich oder schriftlich per E-Mail gegeben
wurde, nachzulesen. Nachzulesen sind dort auch die Rückmeldungen
der Interviewten zu den erarbeiteten Interpretation bzw.
psychologischen Beschreibungen. Beides vermittelt weitere
interessante Einsichten.
Fazit
Juliane Jelinskis Buch kann ich ohne Einschränkung Professionellen
empfehlen, die mit dem Thema Missbrauch befasst sind oder
konfrontiert werden. Empfohlen werden kann es aber auch
Studierenden sowie interessierten Laien.
Da das Buch in qualifizierter Weise wichtige Aspekte des
forschungspraktischen Vorgehens bei einer qualitativen Untersuchung
transparent macht, kann es ferner denjenigen empfohlen werden, die
im Rahmen einer Qualifikationsarbeit oder zu Beginn ihrer Tätigkeit
als wissenschaftliche Mitarbeiter/in eine qualitative Untersuchung
planen und in diesem Zusammenhang auf der Suche nach
Best-practice-Beispielen sind.
1 Fischer, G.; Riedesser, P. (2003): Lehrbuch der
Psychotraumatologie, München: Reinhardt
Rezensentin
Prof. Dr. Ariane Schorn
Fachhochschule Kiel, Fachbereich Soziale Arbeit und Gesundheit
Entwicklungspsychologie, Qualitative Sozialforschung, Psychosoziale
Beratung, Supervision
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