Rezension zu Freuds Lektüren (PDF-E-Book)
Tageblatt
Rezension von Christian Winterhalter
Zum Freud-Jahr 2006
Der Psychoanalytiker als (Nicht-)Leser
Sigmund Freuds Interesse an der Literatur und deren Bedeutung für
die Herausarbeitung zentraler psychoanalytischer Konzepte
(Stichwort ›Ödipus‹) sind zum Gegenstand zahlreicher Studien
geworden. Somit ließe sich die Frage stellen, was die umfangreiche
Studie Michael Rohrwassers, die sich Freuds Lektüren widmet, dem
noch – außer vielleicht ergänzenden Details – hinzufügen könnte.
Nach der Lektüre kann man mit Gewissheit antworten: einiges.
Rohrwasser selbst sieht seine Untersuchung als »Versuch, ausgehend
von den Freud’schen Anmerkungen und Fortschreibungen, zu den
kommentierten literarischen Texten zurückzukehren, das vorgeblich
Entschlüsselte in Beziehung zum Nichtentschlüsselten und
Nichtentschlüsselbaren zu setzen, ihren historischen und
literarischen Ort zu bestimmen oder verschiedene Schichten des
kommentierten Textes zu schneiden.«
Und tatsachlich ist es v.a. dieser Blick auf die Auslassungen,
Überschreibungen und Verschiebungen in Freuds Kommentaren zur
Literatur, mittels dessen es Rohrwasser gelingt, die Züge der
Freudschen Lektürestrategien zu bestimmen und in der Folge die
Frage nach der Bedeutung der Literatur für die Freudsche
Psychoanalyse neu zu stellen, ohne auf tradierte Gemeinplätze zu
verfallen.
Literatur und Psychoanalyse ein Wechselspiel
Im Zuge seiner Untersuchung kontrastiert Rohrwasser
die »öffentlichen Lektüren« Freuds, die dieser in seinen Werken
oder Briefen dargelegt hat, mit ausführlichen und differenzierten
Analysen der jeweils kommentierten Texte. Dabei stehen v. a.
Traumgeschichten C. F. Meyers, Wilhelm Jensens und Arthur
Schnitzlers im Mittelpunkt, bei deren Analyse Rohrwasser sein
Augenmerk insbesondere auf die ästhetische und erzählerische
Gestaltung legt und darin enthaltene Motive und Strukturen auf
literarische Vorläufer und Traditionen zurückführt.
Wenn diese Lesarten, die auch stets die potentielle
Deutungsvielfalt derTexte hervorheben, nun den Freudschen
Kommentaren gegenübergestellt werden, dann lässt sich feststellen,
dass Freud häufig bewusst gestaltete Ambivalenzen auf eindeutige
Muster zurückführt, literarische Gestaltungsmittel verkennt und
problematische Identifikationen von Figuren, Erzähler und Autor
vornimmt. Letztlich zeigt sich, dass Freud literarische Texte
(analog zum Traum) als Äußerungen des Unbewussten ansieht, die es
auf verborgene Motivationen hin zu überprüfen und eindeutig zu
›entschlüsseln‹ gilt.
Indem Freud die derart gewonnenen Erkenntnisse zugleich zum Beleg
und zur Illustration seiner Theorien anführt, betrachtet er die
Literatur v. a. in Hinblick auf ihren ›Gebrauchswert‹, unterschlägt
dabei jedoch nicht selten deren künstlerische Dimension
Doch werden nicht allein Freuds Kommentare zur Literatur einer
kritischen Lektüre unterzogen; auch die literarischen Aspekte
seiner eigenen Texte werden vor dem Hintergrund seiner
Lesegewohnheiten thematisiert.
Denn Freud macht das Gelesene insofern fruchtbar, als er etwa aus
der Literatur Muster übernimmt, um die neue Gattung der
Fallgeschichte zu entwickeln. Dass er sich dabei nicht zuletzt auch
an populären Autoren wie Arthur Conan Doyle orientiert,
unterschlägt er dabei jedoch geflissentlich, wie Rohrwasser
ausführt.
Rohrwassers Neulektüre Freuds (die von einer Darstellung der
Freud-Lektüre Canettis abgerundet wird) besticht letztlich nicht
allein durch die Differenziertheit der Argumentation und die
methodische Bewusstheit, sondern auch durch ihren ansprechenden
Stil.
So erkenntnisreich und fesselnd kann Literaturwissenschaft
sein!